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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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literarische Rundschau

in Rom werden glaubhaft gezeichnet, und als ein rührendes, feines Menschen¬
bild tritt Sybille in diesen ihr fremden Kreis hinein. Wie sie von der Liebe
gezogen und doch immer wieder durch das fremde Bekenntnis abgestoßen, ein
zwiespältiges Leben führen muß, ist gut gegeben, nur daß, wie in so vielen
heutigen Büchern, der Mann zu sehr im Hintergründe bleibt, alle die Qualen
erst kennen lernt, als die Frau sie ihm beichtet. Die Katastrophe aber ist
äußerlich und wirkt wie aus Verlegenheit geboren, denn wir hätten begehrt
zu wissen, wie Sybille in innerer Befreiung siegt oder untergeht, nicht, wie
Haß und Eifersucht neben den Glaubenskämpfen sie schließlich verderben.

Wenn irgendeines seiner Werke so recht geeignet ist, den Leser Liebe
zu Gerhart Hauptmann zu lehren, so ist es sein neues Buch "Griechischer
Frühling" (Berlin, S. Fischer). Es ist keine Reisebeschreibung und auch keine
Dichtung, sondern es ist eine Sammlung von Eindrücken, wie sie ein deutscher
Dichter unmittelbar empfindet, der nach Hellas gegangen ist ganz unter dem
Vorgefühl eines mythischen Rausches und diesen Rausch nun auf Schritt und
Tritt voll auskostet. Ihm weben und leben Götter und Halbgötter überall,
im delphischen Bezirk, in Olympia wie besonders auf der Akropolis. Das
gegenwärtige politische Griechenland ist für Gerhart Hauptmann nicht da. Er
lebt in der Welt Homers und der großen Tragödiendichter, und ohne die
leiseste Pose empfindet und sieht er immer wieder die alten Gestalten, die
Schicksale der griechischen Sage um sich her. Aufs tiefste empfindet er dabei
den Gegensatz zwischen der Weltanschauung Homers und der Tragiker. "Über
Homers Gedichten ist nirgends das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht
das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang -- seines gleicht überall einem
Lobgesang --, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element der
Klage wie von seinem Lebensolute durchdrungen ist, so ist das Gedicht Homers
eine einzige Vibration der Lobpreisung." Und wie eine Mahnung an gewisse
sogenannte Tragödiendichter unsrer Tage klingt es, wenn Gerhart Hauptmann
auf der Akropolis niederschreibe: "Man soll nicht vergessen, daß Tragödien
und Komödien volkstümlich waren. Es sollen das diejenigen nicht vergessen,
die heute in toten Winkeln sitzen. Beide, Tragödie wie Komödie, haben
nichts mit schwachen, überfeinerten Nerven zu tun und ebensowenig wie sie
ihre Dichter -- am allerwenigsten aber ihr Publikum. Trotzdem aber keiner
der Zuschauer jener Zeiten, etwa wie viele der heutigen, beim Hühner¬
schlachten ohnmächtig wurde, so blieb, nachdem die Gewalt der Tragödie
über ihn hingegangen war, die Komödie eines jeden unabweisliche Gegen¬
forderung: und das ist gesund und ist gut." Mir scheint, solche feine Be¬
merkung, deren das Buch noch viele enthält, kann auch manches in Gerhart
Hauptmanns Dichtungen besser verstehn lehren und manche falsche Beurteilung
abwehren.

Adolf Sterns Novellen dringen immer weiter ins Volk; von den "Aus¬
gewählten Novellen" liegt nun die vierte Auflage vor, und zugleich erscheint


literarische Rundschau

in Rom werden glaubhaft gezeichnet, und als ein rührendes, feines Menschen¬
bild tritt Sybille in diesen ihr fremden Kreis hinein. Wie sie von der Liebe
gezogen und doch immer wieder durch das fremde Bekenntnis abgestoßen, ein
zwiespältiges Leben führen muß, ist gut gegeben, nur daß, wie in so vielen
heutigen Büchern, der Mann zu sehr im Hintergründe bleibt, alle die Qualen
erst kennen lernt, als die Frau sie ihm beichtet. Die Katastrophe aber ist
äußerlich und wirkt wie aus Verlegenheit geboren, denn wir hätten begehrt
zu wissen, wie Sybille in innerer Befreiung siegt oder untergeht, nicht, wie
Haß und Eifersucht neben den Glaubenskämpfen sie schließlich verderben.

Wenn irgendeines seiner Werke so recht geeignet ist, den Leser Liebe
zu Gerhart Hauptmann zu lehren, so ist es sein neues Buch „Griechischer
Frühling" (Berlin, S. Fischer). Es ist keine Reisebeschreibung und auch keine
Dichtung, sondern es ist eine Sammlung von Eindrücken, wie sie ein deutscher
Dichter unmittelbar empfindet, der nach Hellas gegangen ist ganz unter dem
Vorgefühl eines mythischen Rausches und diesen Rausch nun auf Schritt und
Tritt voll auskostet. Ihm weben und leben Götter und Halbgötter überall,
im delphischen Bezirk, in Olympia wie besonders auf der Akropolis. Das
gegenwärtige politische Griechenland ist für Gerhart Hauptmann nicht da. Er
lebt in der Welt Homers und der großen Tragödiendichter, und ohne die
leiseste Pose empfindet und sieht er immer wieder die alten Gestalten, die
Schicksale der griechischen Sage um sich her. Aufs tiefste empfindet er dabei
den Gegensatz zwischen der Weltanschauung Homers und der Tragiker. „Über
Homers Gedichten ist nirgends das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht
das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang — seines gleicht überall einem
Lobgesang —, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element der
Klage wie von seinem Lebensolute durchdrungen ist, so ist das Gedicht Homers
eine einzige Vibration der Lobpreisung." Und wie eine Mahnung an gewisse
sogenannte Tragödiendichter unsrer Tage klingt es, wenn Gerhart Hauptmann
auf der Akropolis niederschreibe: „Man soll nicht vergessen, daß Tragödien
und Komödien volkstümlich waren. Es sollen das diejenigen nicht vergessen,
die heute in toten Winkeln sitzen. Beide, Tragödie wie Komödie, haben
nichts mit schwachen, überfeinerten Nerven zu tun und ebensowenig wie sie
ihre Dichter — am allerwenigsten aber ihr Publikum. Trotzdem aber keiner
der Zuschauer jener Zeiten, etwa wie viele der heutigen, beim Hühner¬
schlachten ohnmächtig wurde, so blieb, nachdem die Gewalt der Tragödie
über ihn hingegangen war, die Komödie eines jeden unabweisliche Gegen¬
forderung: und das ist gesund und ist gut." Mir scheint, solche feine Be¬
merkung, deren das Buch noch viele enthält, kann auch manches in Gerhart
Hauptmanns Dichtungen besser verstehn lehren und manche falsche Beurteilung
abwehren.

Adolf Sterns Novellen dringen immer weiter ins Volk; von den „Aus¬
gewählten Novellen" liegt nun die vierte Auflage vor, und zugleich erscheint


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[0201] literarische Rundschau in Rom werden glaubhaft gezeichnet, und als ein rührendes, feines Menschen¬ bild tritt Sybille in diesen ihr fremden Kreis hinein. Wie sie von der Liebe gezogen und doch immer wieder durch das fremde Bekenntnis abgestoßen, ein zwiespältiges Leben führen muß, ist gut gegeben, nur daß, wie in so vielen heutigen Büchern, der Mann zu sehr im Hintergründe bleibt, alle die Qualen erst kennen lernt, als die Frau sie ihm beichtet. Die Katastrophe aber ist äußerlich und wirkt wie aus Verlegenheit geboren, denn wir hätten begehrt zu wissen, wie Sybille in innerer Befreiung siegt oder untergeht, nicht, wie Haß und Eifersucht neben den Glaubenskämpfen sie schließlich verderben. Wenn irgendeines seiner Werke so recht geeignet ist, den Leser Liebe zu Gerhart Hauptmann zu lehren, so ist es sein neues Buch „Griechischer Frühling" (Berlin, S. Fischer). Es ist keine Reisebeschreibung und auch keine Dichtung, sondern es ist eine Sammlung von Eindrücken, wie sie ein deutscher Dichter unmittelbar empfindet, der nach Hellas gegangen ist ganz unter dem Vorgefühl eines mythischen Rausches und diesen Rausch nun auf Schritt und Tritt voll auskostet. Ihm weben und leben Götter und Halbgötter überall, im delphischen Bezirk, in Olympia wie besonders auf der Akropolis. Das gegenwärtige politische Griechenland ist für Gerhart Hauptmann nicht da. Er lebt in der Welt Homers und der großen Tragödiendichter, und ohne die leiseste Pose empfindet und sieht er immer wieder die alten Gestalten, die Schicksale der griechischen Sage um sich her. Aufs tiefste empfindet er dabei den Gegensatz zwischen der Weltanschauung Homers und der Tragiker. „Über Homers Gedichten ist nirgends das Haupt der Medusa aufgehängt. Gleicht das Gedicht des Tragikers einem Klagegesang — seines gleicht überall einem Lobgesang —, und wenn das Kunstwerk des Tragikers von dem Element der Klage wie von seinem Lebensolute durchdrungen ist, so ist das Gedicht Homers eine einzige Vibration der Lobpreisung." Und wie eine Mahnung an gewisse sogenannte Tragödiendichter unsrer Tage klingt es, wenn Gerhart Hauptmann auf der Akropolis niederschreibe: „Man soll nicht vergessen, daß Tragödien und Komödien volkstümlich waren. Es sollen das diejenigen nicht vergessen, die heute in toten Winkeln sitzen. Beide, Tragödie wie Komödie, haben nichts mit schwachen, überfeinerten Nerven zu tun und ebensowenig wie sie ihre Dichter — am allerwenigsten aber ihr Publikum. Trotzdem aber keiner der Zuschauer jener Zeiten, etwa wie viele der heutigen, beim Hühner¬ schlachten ohnmächtig wurde, so blieb, nachdem die Gewalt der Tragödie über ihn hingegangen war, die Komödie eines jeden unabweisliche Gegen¬ forderung: und das ist gesund und ist gut." Mir scheint, solche feine Be¬ merkung, deren das Buch noch viele enthält, kann auch manches in Gerhart Hauptmanns Dichtungen besser verstehn lehren und manche falsche Beurteilung abwehren. Adolf Sterns Novellen dringen immer weiter ins Volk; von den „Aus¬ gewählten Novellen" liegt nun die vierte Auflage vor, und zugleich erscheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/201>, abgerufen am 12.12.2024.