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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

unaufhaltsam empor, mit stürmenden Schreien unaufhaltsam immer wieder oben
auf dem tosenden Lärm, wie ein weißes Segel weit im Meer, das immer wieder
aus den zerstürzenden Fluten springt, tanzend und tanzend und tanzend". Und
während er so Phaon und dem Publikum ins Gedächtnis hämmert, wer die
Künstlerin Sappho und die Künstlerin Naht ist, drängt sich alles scheu in den
Kulissen, und die Naht selbst schluchzt vor Angst, wie sich der greise Künstler im
Drang einer großen Stunde selbst noch einmal zu großer Leistung emporreißt.

Jakob Wassermann hat einst in den "Juden von Zirndorf" Proben eines
starken, aber undisziplinierten Talents gegeben und dann freilich durch das
meiste, was er seitdem schrieb, manche Hoffnung enttäuscht. Jetzt aber hat er
in einem Werk von großer Energie und ungewöhnlich zusammengepreßter
Kraft gezeigt, daß er ein Romandichter ist, von dem wir noch manches er¬
warten können. Die geheimnisvolle Geschichte Kaspar Hausers, die die
Phantasie unsrer Großeltern Jahrzehnte hindurch immer wieder beschäftigt
hat, hat er ergriffen und zu einem Roman gestaltet (Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt). Er hat natürlich vor allem den bekannten Bericht Anselm
Feuerbachs benutzt, aber von vornherein benutzt mit großer psychologischer
Kunst, mit feiner Spürkraft. Ihm ist Kaspar Hauser wirklich der Abkömmling
eines süddeutschen Fürstenhauses und Lord Stanhope, den Feuerbach doch
für Hausers ehrlichen Freund hielt, ein Agent hoher Personen, die Kaspar
verderben wollen. Manches mußte in der Wirrnis dieser Geschehnisse an¬
muten wie ein Kriminalroman, und es ist Wassermanns Verdienst, daß er
bei allem sensationellen, das er bringen mußte, niemals die Linie dichterischer
Komposition verlor. Das tragische Verhängnis, das Kaspar Hauser immer
wieder Männern und Frauen in die Arme treibt, denen er ein Betrüger, ein
Spiel oder ein Objekt der Ausbeutung ist, ergreift uns von Tag zu Tag
mehr. Prachtvoll tritt der alte, durch sein Rechtsgefühl, seine Dienstbarkeit
gegen den Gedanken der Gerechtigkeit zugrunde gehende Präsident von Feuer¬
bach aus dem Rahmen hervor. Wir bleiben mit Kaspar im Rätselhaften und
empfinden den wunderbaren Reiz dieser zarten Natur, deren Träume ein
großes Schicksal andeuten, und deren furchtbares Ende noch menschlicher Un¬
verstand und halb bewußte, halb unbewußte Grausamkeit fratzenhaft verzerren.
Der Stil der dreißiger Jahre ist unverändert, aber ohne Künstlichkeiten fest¬
gehalten und das Helldunkel, das über allen Ereignissen liegt, mit Glück
widergespiegelt worden.

Olga von Hammerstein will in ihrem Roman "Was Gott zusammen¬
fügt" (Berlin, Martin Warneck) die Unübcrbrückbarkeit konfessioneller Gegen¬
sätze aufweisen, wie sie sich auftut für ein evangelisch gebliebnes weibliches
Herz, das aus Liebe zu einem katholischen Manne ohne Überzeugung dessen
Glauben bekennt. Bis auf die Höhe ihres Buches ist Olga von Hammer¬
stein ihrer Sache sicher und ihre Schilderung durchaus echt. Die abge¬
schlossenen Kreise des katholischen deutschen Adels auf seinem Stammsitz und


Literarische Rundschau

unaufhaltsam empor, mit stürmenden Schreien unaufhaltsam immer wieder oben
auf dem tosenden Lärm, wie ein weißes Segel weit im Meer, das immer wieder
aus den zerstürzenden Fluten springt, tanzend und tanzend und tanzend". Und
während er so Phaon und dem Publikum ins Gedächtnis hämmert, wer die
Künstlerin Sappho und die Künstlerin Naht ist, drängt sich alles scheu in den
Kulissen, und die Naht selbst schluchzt vor Angst, wie sich der greise Künstler im
Drang einer großen Stunde selbst noch einmal zu großer Leistung emporreißt.

Jakob Wassermann hat einst in den „Juden von Zirndorf" Proben eines
starken, aber undisziplinierten Talents gegeben und dann freilich durch das
meiste, was er seitdem schrieb, manche Hoffnung enttäuscht. Jetzt aber hat er
in einem Werk von großer Energie und ungewöhnlich zusammengepreßter
Kraft gezeigt, daß er ein Romandichter ist, von dem wir noch manches er¬
warten können. Die geheimnisvolle Geschichte Kaspar Hausers, die die
Phantasie unsrer Großeltern Jahrzehnte hindurch immer wieder beschäftigt
hat, hat er ergriffen und zu einem Roman gestaltet (Stuttgart, Deutsche
Verlagsanstalt). Er hat natürlich vor allem den bekannten Bericht Anselm
Feuerbachs benutzt, aber von vornherein benutzt mit großer psychologischer
Kunst, mit feiner Spürkraft. Ihm ist Kaspar Hauser wirklich der Abkömmling
eines süddeutschen Fürstenhauses und Lord Stanhope, den Feuerbach doch
für Hausers ehrlichen Freund hielt, ein Agent hoher Personen, die Kaspar
verderben wollen. Manches mußte in der Wirrnis dieser Geschehnisse an¬
muten wie ein Kriminalroman, und es ist Wassermanns Verdienst, daß er
bei allem sensationellen, das er bringen mußte, niemals die Linie dichterischer
Komposition verlor. Das tragische Verhängnis, das Kaspar Hauser immer
wieder Männern und Frauen in die Arme treibt, denen er ein Betrüger, ein
Spiel oder ein Objekt der Ausbeutung ist, ergreift uns von Tag zu Tag
mehr. Prachtvoll tritt der alte, durch sein Rechtsgefühl, seine Dienstbarkeit
gegen den Gedanken der Gerechtigkeit zugrunde gehende Präsident von Feuer¬
bach aus dem Rahmen hervor. Wir bleiben mit Kaspar im Rätselhaften und
empfinden den wunderbaren Reiz dieser zarten Natur, deren Träume ein
großes Schicksal andeuten, und deren furchtbares Ende noch menschlicher Un¬
verstand und halb bewußte, halb unbewußte Grausamkeit fratzenhaft verzerren.
Der Stil der dreißiger Jahre ist unverändert, aber ohne Künstlichkeiten fest¬
gehalten und das Helldunkel, das über allen Ereignissen liegt, mit Glück
widergespiegelt worden.

Olga von Hammerstein will in ihrem Roman „Was Gott zusammen¬
fügt" (Berlin, Martin Warneck) die Unübcrbrückbarkeit konfessioneller Gegen¬
sätze aufweisen, wie sie sich auftut für ein evangelisch gebliebnes weibliches
Herz, das aus Liebe zu einem katholischen Manne ohne Überzeugung dessen
Glauben bekennt. Bis auf die Höhe ihres Buches ist Olga von Hammer¬
stein ihrer Sache sicher und ihre Schilderung durchaus echt. Die abge¬
schlossenen Kreise des katholischen deutschen Adels auf seinem Stammsitz und


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[0200] Literarische Rundschau unaufhaltsam empor, mit stürmenden Schreien unaufhaltsam immer wieder oben auf dem tosenden Lärm, wie ein weißes Segel weit im Meer, das immer wieder aus den zerstürzenden Fluten springt, tanzend und tanzend und tanzend". Und während er so Phaon und dem Publikum ins Gedächtnis hämmert, wer die Künstlerin Sappho und die Künstlerin Naht ist, drängt sich alles scheu in den Kulissen, und die Naht selbst schluchzt vor Angst, wie sich der greise Künstler im Drang einer großen Stunde selbst noch einmal zu großer Leistung emporreißt. Jakob Wassermann hat einst in den „Juden von Zirndorf" Proben eines starken, aber undisziplinierten Talents gegeben und dann freilich durch das meiste, was er seitdem schrieb, manche Hoffnung enttäuscht. Jetzt aber hat er in einem Werk von großer Energie und ungewöhnlich zusammengepreßter Kraft gezeigt, daß er ein Romandichter ist, von dem wir noch manches er¬ warten können. Die geheimnisvolle Geschichte Kaspar Hausers, die die Phantasie unsrer Großeltern Jahrzehnte hindurch immer wieder beschäftigt hat, hat er ergriffen und zu einem Roman gestaltet (Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt). Er hat natürlich vor allem den bekannten Bericht Anselm Feuerbachs benutzt, aber von vornherein benutzt mit großer psychologischer Kunst, mit feiner Spürkraft. Ihm ist Kaspar Hauser wirklich der Abkömmling eines süddeutschen Fürstenhauses und Lord Stanhope, den Feuerbach doch für Hausers ehrlichen Freund hielt, ein Agent hoher Personen, die Kaspar verderben wollen. Manches mußte in der Wirrnis dieser Geschehnisse an¬ muten wie ein Kriminalroman, und es ist Wassermanns Verdienst, daß er bei allem sensationellen, das er bringen mußte, niemals die Linie dichterischer Komposition verlor. Das tragische Verhängnis, das Kaspar Hauser immer wieder Männern und Frauen in die Arme treibt, denen er ein Betrüger, ein Spiel oder ein Objekt der Ausbeutung ist, ergreift uns von Tag zu Tag mehr. Prachtvoll tritt der alte, durch sein Rechtsgefühl, seine Dienstbarkeit gegen den Gedanken der Gerechtigkeit zugrunde gehende Präsident von Feuer¬ bach aus dem Rahmen hervor. Wir bleiben mit Kaspar im Rätselhaften und empfinden den wunderbaren Reiz dieser zarten Natur, deren Träume ein großes Schicksal andeuten, und deren furchtbares Ende noch menschlicher Un¬ verstand und halb bewußte, halb unbewußte Grausamkeit fratzenhaft verzerren. Der Stil der dreißiger Jahre ist unverändert, aber ohne Künstlichkeiten fest¬ gehalten und das Helldunkel, das über allen Ereignissen liegt, mit Glück widergespiegelt worden. Olga von Hammerstein will in ihrem Roman „Was Gott zusammen¬ fügt" (Berlin, Martin Warneck) die Unübcrbrückbarkeit konfessioneller Gegen¬ sätze aufweisen, wie sie sich auftut für ein evangelisch gebliebnes weibliches Herz, das aus Liebe zu einem katholischen Manne ohne Überzeugung dessen Glauben bekennt. Bis auf die Höhe ihres Buches ist Olga von Hammer¬ stein ihrer Sache sicher und ihre Schilderung durchaus echt. Die abge¬ schlossenen Kreise des katholischen deutschen Adels auf seinem Stammsitz und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/200>, abgerufen am 23.07.2024.