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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Deutsch - slawische Beziehungen

die eben angedeutete Gefahr richtig erkannt und ihrer Erkenntnis Ausdruck
gegeben durch Verminderung der Zahl der polnischen und der asiatischen Ab¬
geordnete", Wie wenig ausreichend diese Verkürzung ist, ergibt sich aus der
Tatsache, daß in Weißrußland vorwiegend Polen in die Duma gewählt worden
sind.*) Die Bedeutung des Moskowitertums als solchem ist somit durch die
Einführung der Magna Charta nicht ohne weiteres gewachsen, sondern eher
geringer geworden. Die Moskowiter sind nicht mehr die absoluten Herren in
Rußland wie vor 1905, sondern lediglich Mitbürger der andern Untertanen
des Zaren. Ob die Festigung des Reiches dennoch gewachsen ist, wodurch
auch wieder die Bedeutung der Moskowiter wesentlich gesteigert werden könnte,
hängt von dem Geschick der Negierung ab, die Bedürfnisse von 60 Millionen
Moskowitern in Einklang mit denen von etwa 85 Millionen Nichtrussen
zu bringen -- hängt aber auch davon ab, wie sich die polnisch-russischen Be¬
ziehungen weiter entwickeln.

Wir kommen nun zur politischen Lage der Westslawen: Tschechen und
Polen.

Auch ihre politische Lage hat sich seit einem halben Jahrhundert
wesentlich gebessert.

Der Nährboden ihrer Kraft ist bis zum Jahre 1905 fast ausschließlich
die Eigenart der Habsburgischen Monarchie gewesen. Nachdem Böhmen und
Galizien gegen Ende der sechziger Jahre eine Verfassung mit besonderm
Landtag erhalten hatten, begann in beiden Ländern zunächst der Kampf gegen
die deutsche Sprache.

In Böhmen, wo der tschechische Adel so gut wie germanisiert schien und
tatsächlich mit dem deutschen Adel und dem deutschen Großkapital politisch
Hand in Hand ging, bekam die tschechische Sprachenbewegung von vornherein
einen radikal-demokratischen und sozialistischen Charakter. Die Sprachenfrage
war zugunsten der Tschechen ausschließlich zu lösen durch Erlangung des wirt¬
schaftlichen und sozialen Übergewichts über die deutschen Unternehmer und den
germanisierten Adel. Der tschechische Adel konnte dergestalt kein Vermittler
zwischen dem Volk und der Krone sein, und die Bewegung war von Anbeginn
illegitim und revolutionär. Bei dieser Lage der Dinge mußten die Tschechen
darauf ausgehn, das allgemeine Wahlrecht mit proportioneller Verteilung auf
die Nationalitüten zu erkämpfen und sich Bundesgenossen in den andern Landes¬
teilen des Reichs suchen.

Für diese Bestrebungen fanden sie Unterstützung bei den polnischen und
ruthenischen Demokraten in Lemberg, bei den Kroaten in Ungarn, bei den
Italienern im Steirischen, und um dem Kinde einen Namen zu geben, wurde
die Sache der Tschechen unter den Schutz des Pcmslawismus und einer



' *) Eingehend behandelt im zweiten Bande meiner Gesammelten Aussatze: Aus Rußlands
Not und Hoffen. Berlin. C. A. Schwetschke, 1907.
Deutsch - slawische Beziehungen

die eben angedeutete Gefahr richtig erkannt und ihrer Erkenntnis Ausdruck
gegeben durch Verminderung der Zahl der polnischen und der asiatischen Ab¬
geordnete», Wie wenig ausreichend diese Verkürzung ist, ergibt sich aus der
Tatsache, daß in Weißrußland vorwiegend Polen in die Duma gewählt worden
sind.*) Die Bedeutung des Moskowitertums als solchem ist somit durch die
Einführung der Magna Charta nicht ohne weiteres gewachsen, sondern eher
geringer geworden. Die Moskowiter sind nicht mehr die absoluten Herren in
Rußland wie vor 1905, sondern lediglich Mitbürger der andern Untertanen
des Zaren. Ob die Festigung des Reiches dennoch gewachsen ist, wodurch
auch wieder die Bedeutung der Moskowiter wesentlich gesteigert werden könnte,
hängt von dem Geschick der Negierung ab, die Bedürfnisse von 60 Millionen
Moskowitern in Einklang mit denen von etwa 85 Millionen Nichtrussen
zu bringen — hängt aber auch davon ab, wie sich die polnisch-russischen Be¬
ziehungen weiter entwickeln.

Wir kommen nun zur politischen Lage der Westslawen: Tschechen und
Polen.

Auch ihre politische Lage hat sich seit einem halben Jahrhundert
wesentlich gebessert.

Der Nährboden ihrer Kraft ist bis zum Jahre 1905 fast ausschließlich
die Eigenart der Habsburgischen Monarchie gewesen. Nachdem Böhmen und
Galizien gegen Ende der sechziger Jahre eine Verfassung mit besonderm
Landtag erhalten hatten, begann in beiden Ländern zunächst der Kampf gegen
die deutsche Sprache.

In Böhmen, wo der tschechische Adel so gut wie germanisiert schien und
tatsächlich mit dem deutschen Adel und dem deutschen Großkapital politisch
Hand in Hand ging, bekam die tschechische Sprachenbewegung von vornherein
einen radikal-demokratischen und sozialistischen Charakter. Die Sprachenfrage
war zugunsten der Tschechen ausschließlich zu lösen durch Erlangung des wirt¬
schaftlichen und sozialen Übergewichts über die deutschen Unternehmer und den
germanisierten Adel. Der tschechische Adel konnte dergestalt kein Vermittler
zwischen dem Volk und der Krone sein, und die Bewegung war von Anbeginn
illegitim und revolutionär. Bei dieser Lage der Dinge mußten die Tschechen
darauf ausgehn, das allgemeine Wahlrecht mit proportioneller Verteilung auf
die Nationalitüten zu erkämpfen und sich Bundesgenossen in den andern Landes¬
teilen des Reichs suchen.

Für diese Bestrebungen fanden sie Unterstützung bei den polnischen und
ruthenischen Demokraten in Lemberg, bei den Kroaten in Ungarn, bei den
Italienern im Steirischen, und um dem Kinde einen Namen zu geben, wurde
die Sache der Tschechen unter den Schutz des Pcmslawismus und einer



' *) Eingehend behandelt im zweiten Bande meiner Gesammelten Aussatze: Aus Rußlands
Not und Hoffen. Berlin. C. A. Schwetschke, 1907.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/20>, abgerufen am 03.07.2024.