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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Dieses Lehrgedicht, bestehend aus etwa 230 Versen , ist eins der inter¬
essantesten Denkmäler der griechischen Literatur und hat die merkwürdigsten
Schicksale gehabt. Es ist geschrieben in dem Versmaß und der Sprache der
homerischen Gedichte, in seltsam altertümlichen Stile. Das Eingangswort,
das in den Handschriften verschoben ist, lautet: "Ehre Gott vor allem, und
nächst ihm ehre die Eltern!" Diesem Doppelgebote schließt sich an das Ver¬
bot des Ehebruchs, des Mordes, des unrechten Erwerbs, der Lüge, der
Ungerechtigkeit. Zu dem Gebote, jedem sein Recht werden zu lassen, fügt
der weise Lehrer die Mahnung: "Richtest du schlecht, so wird Gott dich dereinst
richten." Wie fernes Hochgebirge aus dem Meere, so erhebt sich aus dem
griechischen Elemente des milesischen Weisheitslehrers dieses Gebot der Ehr¬
furcht vor dem höchsten göttlichen Richter, von dem das Lehrgedicht sagt:
"Ruhme der Weisheit dich nicht, der Stärke nicht, noch auch des Reichtums:
nur der einige Gott ist weise und mächtig und selig." Phokylides verneint
die Gottheit des Eros, der in Hesiods Theogonie als der erstgewordne des
neuen Göttergeschlechts erscheint. Eros, sagt er, ist kein Gott, er ist ein
allverderbendes Übel. Ebenso bestimmt wie der Monotheismus tritt bei
Phokylides der pythagoreisch-orphische Unsterblichkeitsglaube auf. Wir be¬
gegnen hier der Ansicht, daß bald aus der Erde ans Licht kommen werde,
was bleibe von den Geschiednen, daß sie später Götter werden, daß die Seelen
unversehrt bleiben von den Schicksalsgöttinnen. "Denn der Geist ist ein Darlehen
Gottes an die Menschen und sein Ebenbild." Beides, Monotheismus und
Unsterblichkeitsglaube, zeugt von einem neuen Geiste, der damals über das
Volk der ionischen Griechen kam. Als der erste in Griechenland, der die
Unsterblichkeit der Seele gelehrt habe, galt Pherekydes von Syros, der Lehrer
des Pythagoras. Aus der pythagoreischen Schule sind Äußerungen über die
Einheit und Geistigkeit Gottes überliefert, die in Griechenland, unter An¬
hängern einer polytheistischen Religion, in Erstaunen setzen. Pythagoreisch
ist bei Phokylides die Vorstellung von der Eintracht der Himmlischen, von der
Harmonie der Sphären, ohne die der Pol nicht feststünde. Daraus ist ab--
geleitet das Verbot des Neides und das Gebot der Freundschaft und Bundes¬
treue "in Liebe und heiligem Gemeinsinn". Das ist griechische Ethik.

Neben den religiös-sittlichen Geboten enthält das phokylideische Lehr¬
gedicht auch ein Freizügigkeitsgesetz, daß der Zugezogne dieselben Ehrenrechte
genießen soll wie der Eingesessene, mit der Begründung: "denn wir alle er¬
fahren die unstete Armut, kein Land gewährt den Menschen eine bleibende
Statt", ferner ein Vogelschutzgesetz, daß man ein Vogelnest nicht ganz, nicht
die Alte mit den Jungen zugleich ausnehmen soll, ein Verbot des Diebstahls
von Sämereien -- mit Androhung der Todesstrafe --, des Betretens fremder
Feldgrundstücke, des Strandraubes. Dazu kommt das Verbot jeder heimlichen
Sünde, ein Gebot, den Blinden zu geleiten, dem Armen schnell zu helfen
und guten Rat von einem treuen Sklaven anzunehmen. Der Ackerbau wird


Dieses Lehrgedicht, bestehend aus etwa 230 Versen , ist eins der inter¬
essantesten Denkmäler der griechischen Literatur und hat die merkwürdigsten
Schicksale gehabt. Es ist geschrieben in dem Versmaß und der Sprache der
homerischen Gedichte, in seltsam altertümlichen Stile. Das Eingangswort,
das in den Handschriften verschoben ist, lautet: „Ehre Gott vor allem, und
nächst ihm ehre die Eltern!" Diesem Doppelgebote schließt sich an das Ver¬
bot des Ehebruchs, des Mordes, des unrechten Erwerbs, der Lüge, der
Ungerechtigkeit. Zu dem Gebote, jedem sein Recht werden zu lassen, fügt
der weise Lehrer die Mahnung: „Richtest du schlecht, so wird Gott dich dereinst
richten." Wie fernes Hochgebirge aus dem Meere, so erhebt sich aus dem
griechischen Elemente des milesischen Weisheitslehrers dieses Gebot der Ehr¬
furcht vor dem höchsten göttlichen Richter, von dem das Lehrgedicht sagt:
„Ruhme der Weisheit dich nicht, der Stärke nicht, noch auch des Reichtums:
nur der einige Gott ist weise und mächtig und selig." Phokylides verneint
die Gottheit des Eros, der in Hesiods Theogonie als der erstgewordne des
neuen Göttergeschlechts erscheint. Eros, sagt er, ist kein Gott, er ist ein
allverderbendes Übel. Ebenso bestimmt wie der Monotheismus tritt bei
Phokylides der pythagoreisch-orphische Unsterblichkeitsglaube auf. Wir be¬
gegnen hier der Ansicht, daß bald aus der Erde ans Licht kommen werde,
was bleibe von den Geschiednen, daß sie später Götter werden, daß die Seelen
unversehrt bleiben von den Schicksalsgöttinnen. „Denn der Geist ist ein Darlehen
Gottes an die Menschen und sein Ebenbild." Beides, Monotheismus und
Unsterblichkeitsglaube, zeugt von einem neuen Geiste, der damals über das
Volk der ionischen Griechen kam. Als der erste in Griechenland, der die
Unsterblichkeit der Seele gelehrt habe, galt Pherekydes von Syros, der Lehrer
des Pythagoras. Aus der pythagoreischen Schule sind Äußerungen über die
Einheit und Geistigkeit Gottes überliefert, die in Griechenland, unter An¬
hängern einer polytheistischen Religion, in Erstaunen setzen. Pythagoreisch
ist bei Phokylides die Vorstellung von der Eintracht der Himmlischen, von der
Harmonie der Sphären, ohne die der Pol nicht feststünde. Daraus ist ab--
geleitet das Verbot des Neides und das Gebot der Freundschaft und Bundes¬
treue „in Liebe und heiligem Gemeinsinn". Das ist griechische Ethik.

Neben den religiös-sittlichen Geboten enthält das phokylideische Lehr¬
gedicht auch ein Freizügigkeitsgesetz, daß der Zugezogne dieselben Ehrenrechte
genießen soll wie der Eingesessene, mit der Begründung: „denn wir alle er¬
fahren die unstete Armut, kein Land gewährt den Menschen eine bleibende
Statt", ferner ein Vogelschutzgesetz, daß man ein Vogelnest nicht ganz, nicht
die Alte mit den Jungen zugleich ausnehmen soll, ein Verbot des Diebstahls
von Sämereien — mit Androhung der Todesstrafe —, des Betretens fremder
Feldgrundstücke, des Strandraubes. Dazu kommt das Verbot jeder heimlichen
Sünde, ein Gebot, den Blinden zu geleiten, dem Armen schnell zu helfen
und guten Rat von einem treuen Sklaven anzunehmen. Der Ackerbau wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/138>, abgerufen am 23.07.2024.