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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Lin neuer Gibbon

des zum größten Teil aus Bauern bestehenden russischen Volkes gerade daher,
daß diese heilsame Umwälzung aus bekannten Ursachen nicht in Fluß kommen
kann. An einer andern Stelle schreibt Ferrero: "Aber wenn die moderne
Zivilisation von ähnlichen Widersprüchen gequält und zerrissen wird, so lief
das antike Italien Gefahr, daran zugrunde zu gehen." Der darauf folgende
Versuch, den Unterschied zu erklären, ist im ganzen gelungen, doch tritt der
Hauptunterschied nicht klar genug hervor. Er besteht darin, daß das antike
Kapital in viel zu großem Umfange auf Wucher, mit einem viel zu kleinen
Teil auf Produktion verwandt wurde, und daß die antike Anschauung, Lebens¬
weise und Gesellschaftsordnung den Weg zur Vervollkommnung der Technik,
also zur Steigerung der Produktivität der Arbeit versperrten.

Mommsens berühmte Charakteristiken der großen Männer Roms im zweiten
und ersten Jahrhundert v. Chr. haben ihrerzeit gewaltiges Aufsehen erregt, aber
wohl niemals die allgemeine und ungelenke Zustimmung der übrigen Historiker
gefunden; diese sind bei dem Urteil geblieben, das eine unbefangne Lektüre der
Quellen schon vor Mommsen ziemlich festgestellt hatte, und auch Ferrero schließt
sich dieser oommrmis oximo an. Aber wenn seine Darstellung in dieser Be¬
ziehung wenig absolut neues bringt, so ist sie doch so schön, daß einzelne seiner
Charakterbilder in die deutschen Lesebücher unsrer Mittelschulen aufgenommen
zu werden verdienten. Wer Cicero als Menschen bei der Lektüre seiner Briefe
liebgewonnen hat, freut sich der pietätvollen Sorgfalt, mit der dieser be¬
deutende Mann, den Mommsen so grausam abgeschlachtet hatte, hier behandelt
wird, wie seine Verdienste anerkannt, seine Entwicklungsphasen verfolgt, die
Stadien seiner literarischen Produktion mit den politischen Ereignissen in
Zusammenhang gebracht werden. Sulla, den Mommsen so hoch gestellt hat,
erscheint als ein kalter, grausamer Despot, und seine Reform als ein Werk
von geringem Wert und kurzer Dauer. Sehr hoch wird Lucullus gewertet,
seine Leistung an sich und in ihren Wirkungen der Napoleons verglichen;
Cäsar und Pompejus, seine Schüler, Hütten geerntet, was er gesät. Cäsars
alles überragende Größe wird im ganzen natürlich nach Gebühr gewürdigt,
sein Charakter, seine Leistungen und Erfolge -- und die sehr oft übersehenen
Mißerfolge aber werden vielfach anders dargestellt, als es gewöhnlich ge¬
schieht. Mommsen hatte geschrieben: "Er war zwar ein großer Redner, Schrift"
steiler und Feldherr, aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein
vollendeter Staatsmann war." Unser Italiener dagegen: "Er war kein Staats¬
mann, weil dies in einer Demokratie unmöglich war, wo usw." Über die
Art und Weise, wie sich Cäsar -- wider Willen -- in den langwierigen
gallischen Krieg verwickelt habe, wird eine ganz neue Hypothese aufgestellt,
dieser Krieg selbst aber und die ihm als Wirkung folgende Romanisicrung
Galliens als der Anfang der "europäischen Zivilisation" (soll heißen: der
Zivilisierung der damaligen europäischen Barbaren) gepriesen; man dürfe sagen,
"daß sich in den leidvollen Tagen der Belagerung Alesias das Geschick der


Lin neuer Gibbon

des zum größten Teil aus Bauern bestehenden russischen Volkes gerade daher,
daß diese heilsame Umwälzung aus bekannten Ursachen nicht in Fluß kommen
kann. An einer andern Stelle schreibt Ferrero: „Aber wenn die moderne
Zivilisation von ähnlichen Widersprüchen gequält und zerrissen wird, so lief
das antike Italien Gefahr, daran zugrunde zu gehen." Der darauf folgende
Versuch, den Unterschied zu erklären, ist im ganzen gelungen, doch tritt der
Hauptunterschied nicht klar genug hervor. Er besteht darin, daß das antike
Kapital in viel zu großem Umfange auf Wucher, mit einem viel zu kleinen
Teil auf Produktion verwandt wurde, und daß die antike Anschauung, Lebens¬
weise und Gesellschaftsordnung den Weg zur Vervollkommnung der Technik,
also zur Steigerung der Produktivität der Arbeit versperrten.

Mommsens berühmte Charakteristiken der großen Männer Roms im zweiten
und ersten Jahrhundert v. Chr. haben ihrerzeit gewaltiges Aufsehen erregt, aber
wohl niemals die allgemeine und ungelenke Zustimmung der übrigen Historiker
gefunden; diese sind bei dem Urteil geblieben, das eine unbefangne Lektüre der
Quellen schon vor Mommsen ziemlich festgestellt hatte, und auch Ferrero schließt
sich dieser oommrmis oximo an. Aber wenn seine Darstellung in dieser Be¬
ziehung wenig absolut neues bringt, so ist sie doch so schön, daß einzelne seiner
Charakterbilder in die deutschen Lesebücher unsrer Mittelschulen aufgenommen
zu werden verdienten. Wer Cicero als Menschen bei der Lektüre seiner Briefe
liebgewonnen hat, freut sich der pietätvollen Sorgfalt, mit der dieser be¬
deutende Mann, den Mommsen so grausam abgeschlachtet hatte, hier behandelt
wird, wie seine Verdienste anerkannt, seine Entwicklungsphasen verfolgt, die
Stadien seiner literarischen Produktion mit den politischen Ereignissen in
Zusammenhang gebracht werden. Sulla, den Mommsen so hoch gestellt hat,
erscheint als ein kalter, grausamer Despot, und seine Reform als ein Werk
von geringem Wert und kurzer Dauer. Sehr hoch wird Lucullus gewertet,
seine Leistung an sich und in ihren Wirkungen der Napoleons verglichen;
Cäsar und Pompejus, seine Schüler, Hütten geerntet, was er gesät. Cäsars
alles überragende Größe wird im ganzen natürlich nach Gebühr gewürdigt,
sein Charakter, seine Leistungen und Erfolge — und die sehr oft übersehenen
Mißerfolge aber werden vielfach anders dargestellt, als es gewöhnlich ge¬
schieht. Mommsen hatte geschrieben: „Er war zwar ein großer Redner, Schrift«
steiler und Feldherr, aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein
vollendeter Staatsmann war." Unser Italiener dagegen: „Er war kein Staats¬
mann, weil dies in einer Demokratie unmöglich war, wo usw." Über die
Art und Weise, wie sich Cäsar — wider Willen — in den langwierigen
gallischen Krieg verwickelt habe, wird eine ganz neue Hypothese aufgestellt,
dieser Krieg selbst aber und die ihm als Wirkung folgende Romanisicrung
Galliens als der Anfang der „europäischen Zivilisation" (soll heißen: der
Zivilisierung der damaligen europäischen Barbaren) gepriesen; man dürfe sagen,
„daß sich in den leidvollen Tagen der Belagerung Alesias das Geschick der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/91>, abgerufen am 24.07.2024.