Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Briefe

daß er seines großen Vorfahren Peters Pläne bezüglich der Weichsel zu den
seinigen machen wollte. Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es dem Politiker
nicht an, der sich in das Gewand Konrad Wallenrods hüllt, um das berechtigte
Mißtrauen der Russen gegen die Polen einzuschläfern.

"Die Polenfrage, schreibt er weiter, ist somit auf zwei große Probleme
zurückzuführen: für die Gebiete der ersten Kategorie, für die es schon längst
entschieden ist, daß sie entweder deutsch oder russisch werden müssen, konzentriert
sich alles auf die Frage, ob es gelingen wird, dort die polnische Kultur und
das polnische Leben vollständig zu vernichten. In den Ländern der zweiten
Kategorie -- im Zartum Polen und in Galizien --, wo man sich mit dem
Bestehen und der Vorherrschaft des polnischen Lebens abfinden muß, entsteht
ein andres Problem: was mit diesen polnischen Gebieten anzufangen, und auf
welchen Grundlagen das politische Leben in ihnen einzurichten sei."

Dmowski gibt darauf folgende Antwort: "Der preußische Staat ist, da er
in jedem Falle das polnische Land germanisieren will, gezwungen, die Grund¬
lagen seines Staatsbaus zu untergraben, das rechtliche Bewußtsein seiner eignen
Bürger zu erschüttern und den Glauben an die Dauerhaftigkeit der Einrichtungen,
auf denen ihr eignes gesellschaftliches und politisches Leben aufgebaut ist, ins
Wanken zu bringen. Infolgedessen wird schon in einer nahen Zukunft für das
Deutsche Reich eine der beiden Möglichkeiten eintreten: entweder wird der
Staat endgiltig den Weg des Rückschritts in der Zivilisation betreten. Alsdann
würden ihm in Zukunft große innere Umwälzungen drohen. Oder aber der
soziale Instinkt der Selbsterhaltung, den die Deutschen in einem hohen Maße
haben, wird die Überhand gewinnen und derartige gefährliche Experimente
überwinden und verhindern. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Dmowski zwar
die polnischen Gebiete Preußens zurzeit einer großen Gefahr ausgesetzt sieht,
aber dennoch behauptet, die Geschichte habe schon ihr Urteil gesprochen. Der
preußische Staat habe bisher noch nicht den Beweis erbracht, daß die ihm zur
Verfügung stehenden Mittel für die Vernichtung des polnischen Lebens und
der polnischen Kultur wirksam und unüberwindlich seien. Es sei im Gegenteil
die begründete Hoffnung vorhanden, daß die Polenfrage zum Ausgangspunkt
zu bedeutenden innern Verwickluttgen werden könnte. Diese Verwicklungen
könnten ein Territorium erfassen, das viel größer ist als das, auf dem jetzt
in Preußen die polnische Kultur das Übergewicht hat."

Woher schöpft Dmowski die Hoffnung? Hat er bindende Abmachungen
mit den Sozialdemokraten oder den Ultramontanen in der Hand? Doch hören
wir weiter.

"Die innere Verfassung des russischen Staates, lesen wir in Dmowskis
Ausführungen, stützte sich bisher nicht auf das Gesetz. Deshalb wurde das
Problem der Russifizierung von Litauen und Westrußland von andern Ge¬
sichtspunkten aus betrieben als wie die Germanisierung von Preußisch-Polen.
Rußland hatte in seinem Westgebiet fast ausschließlich mit der polnischen Schlacht",
zu einem geringen Teil mit dem polnischen Bürgerstand und nur vereinzelt


Russische Briefe

daß er seines großen Vorfahren Peters Pläne bezüglich der Weichsel zu den
seinigen machen wollte. Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es dem Politiker
nicht an, der sich in das Gewand Konrad Wallenrods hüllt, um das berechtigte
Mißtrauen der Russen gegen die Polen einzuschläfern.

„Die Polenfrage, schreibt er weiter, ist somit auf zwei große Probleme
zurückzuführen: für die Gebiete der ersten Kategorie, für die es schon längst
entschieden ist, daß sie entweder deutsch oder russisch werden müssen, konzentriert
sich alles auf die Frage, ob es gelingen wird, dort die polnische Kultur und
das polnische Leben vollständig zu vernichten. In den Ländern der zweiten
Kategorie — im Zartum Polen und in Galizien —, wo man sich mit dem
Bestehen und der Vorherrschaft des polnischen Lebens abfinden muß, entsteht
ein andres Problem: was mit diesen polnischen Gebieten anzufangen, und auf
welchen Grundlagen das politische Leben in ihnen einzurichten sei."

Dmowski gibt darauf folgende Antwort: „Der preußische Staat ist, da er
in jedem Falle das polnische Land germanisieren will, gezwungen, die Grund¬
lagen seines Staatsbaus zu untergraben, das rechtliche Bewußtsein seiner eignen
Bürger zu erschüttern und den Glauben an die Dauerhaftigkeit der Einrichtungen,
auf denen ihr eignes gesellschaftliches und politisches Leben aufgebaut ist, ins
Wanken zu bringen. Infolgedessen wird schon in einer nahen Zukunft für das
Deutsche Reich eine der beiden Möglichkeiten eintreten: entweder wird der
Staat endgiltig den Weg des Rückschritts in der Zivilisation betreten. Alsdann
würden ihm in Zukunft große innere Umwälzungen drohen. Oder aber der
soziale Instinkt der Selbsterhaltung, den die Deutschen in einem hohen Maße
haben, wird die Überhand gewinnen und derartige gefährliche Experimente
überwinden und verhindern. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Dmowski zwar
die polnischen Gebiete Preußens zurzeit einer großen Gefahr ausgesetzt sieht,
aber dennoch behauptet, die Geschichte habe schon ihr Urteil gesprochen. Der
preußische Staat habe bisher noch nicht den Beweis erbracht, daß die ihm zur
Verfügung stehenden Mittel für die Vernichtung des polnischen Lebens und
der polnischen Kultur wirksam und unüberwindlich seien. Es sei im Gegenteil
die begründete Hoffnung vorhanden, daß die Polenfrage zum Ausgangspunkt
zu bedeutenden innern Verwickluttgen werden könnte. Diese Verwicklungen
könnten ein Territorium erfassen, das viel größer ist als das, auf dem jetzt
in Preußen die polnische Kultur das Übergewicht hat."

Woher schöpft Dmowski die Hoffnung? Hat er bindende Abmachungen
mit den Sozialdemokraten oder den Ultramontanen in der Hand? Doch hören
wir weiter.

„Die innere Verfassung des russischen Staates, lesen wir in Dmowskis
Ausführungen, stützte sich bisher nicht auf das Gesetz. Deshalb wurde das
Problem der Russifizierung von Litauen und Westrußland von andern Ge¬
sichtspunkten aus betrieben als wie die Germanisierung von Preußisch-Polen.
Rußland hatte in seinem Westgebiet fast ausschließlich mit der polnischen Schlacht«,
zu einem geringen Teil mit dem polnischen Bürgerstand und nur vereinzelt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312147"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1861" prev="#ID_1860"> daß er seines großen Vorfahren Peters Pläne bezüglich der Weichsel zu den<lb/>
seinigen machen wollte. Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es dem Politiker<lb/>
nicht an, der sich in das Gewand Konrad Wallenrods hüllt, um das berechtigte<lb/>
Mißtrauen der Russen gegen die Polen einzuschläfern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1862"> &#x201E;Die Polenfrage, schreibt er weiter, ist somit auf zwei große Probleme<lb/>
zurückzuführen: für die Gebiete der ersten Kategorie, für die es schon längst<lb/>
entschieden ist, daß sie entweder deutsch oder russisch werden müssen, konzentriert<lb/>
sich alles auf die Frage, ob es gelingen wird, dort die polnische Kultur und<lb/>
das polnische Leben vollständig zu vernichten. In den Ländern der zweiten<lb/>
Kategorie &#x2014; im Zartum Polen und in Galizien &#x2014;, wo man sich mit dem<lb/>
Bestehen und der Vorherrschaft des polnischen Lebens abfinden muß, entsteht<lb/>
ein andres Problem: was mit diesen polnischen Gebieten anzufangen, und auf<lb/>
welchen Grundlagen das politische Leben in ihnen einzurichten sei."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1863"> Dmowski gibt darauf folgende Antwort: &#x201E;Der preußische Staat ist, da er<lb/>
in jedem Falle das polnische Land germanisieren will, gezwungen, die Grund¬<lb/>
lagen seines Staatsbaus zu untergraben, das rechtliche Bewußtsein seiner eignen<lb/>
Bürger zu erschüttern und den Glauben an die Dauerhaftigkeit der Einrichtungen,<lb/>
auf denen ihr eignes gesellschaftliches und politisches Leben aufgebaut ist, ins<lb/>
Wanken zu bringen. Infolgedessen wird schon in einer nahen Zukunft für das<lb/>
Deutsche Reich eine der beiden Möglichkeiten eintreten: entweder wird der<lb/>
Staat endgiltig den Weg des Rückschritts in der Zivilisation betreten. Alsdann<lb/>
würden ihm in Zukunft große innere Umwälzungen drohen. Oder aber der<lb/>
soziale Instinkt der Selbsterhaltung, den die Deutschen in einem hohen Maße<lb/>
haben, wird die Überhand gewinnen und derartige gefährliche Experimente<lb/>
überwinden und verhindern. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Dmowski zwar<lb/>
die polnischen Gebiete Preußens zurzeit einer großen Gefahr ausgesetzt sieht,<lb/>
aber dennoch behauptet, die Geschichte habe schon ihr Urteil gesprochen. Der<lb/>
preußische Staat habe bisher noch nicht den Beweis erbracht, daß die ihm zur<lb/>
Verfügung stehenden Mittel für die Vernichtung des polnischen Lebens und<lb/>
der polnischen Kultur wirksam und unüberwindlich seien. Es sei im Gegenteil<lb/>
die begründete Hoffnung vorhanden, daß die Polenfrage zum Ausgangspunkt<lb/>
zu bedeutenden innern Verwickluttgen werden könnte. Diese Verwicklungen<lb/>
könnten ein Territorium erfassen, das viel größer ist als das, auf dem jetzt<lb/>
in Preußen die polnische Kultur das Übergewicht hat."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1864"> Woher schöpft Dmowski die Hoffnung? Hat er bindende Abmachungen<lb/>
mit den Sozialdemokraten oder den Ultramontanen in der Hand? Doch hören<lb/>
wir weiter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1865" next="#ID_1866"> &#x201E;Die innere Verfassung des russischen Staates, lesen wir in Dmowskis<lb/>
Ausführungen, stützte sich bisher nicht auf das Gesetz. Deshalb wurde das<lb/>
Problem der Russifizierung von Litauen und Westrußland von andern Ge¬<lb/>
sichtspunkten aus betrieben als wie die Germanisierung von Preußisch-Polen.<lb/>
Rußland hatte in seinem Westgebiet fast ausschließlich mit der polnischen Schlacht«,<lb/>
zu einem geringen Teil mit dem polnischen Bürgerstand und nur vereinzelt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0462] Russische Briefe daß er seines großen Vorfahren Peters Pläne bezüglich der Weichsel zu den seinigen machen wollte. Doch auf solche Kleinigkeiten kommt es dem Politiker nicht an, der sich in das Gewand Konrad Wallenrods hüllt, um das berechtigte Mißtrauen der Russen gegen die Polen einzuschläfern. „Die Polenfrage, schreibt er weiter, ist somit auf zwei große Probleme zurückzuführen: für die Gebiete der ersten Kategorie, für die es schon längst entschieden ist, daß sie entweder deutsch oder russisch werden müssen, konzentriert sich alles auf die Frage, ob es gelingen wird, dort die polnische Kultur und das polnische Leben vollständig zu vernichten. In den Ländern der zweiten Kategorie — im Zartum Polen und in Galizien —, wo man sich mit dem Bestehen und der Vorherrschaft des polnischen Lebens abfinden muß, entsteht ein andres Problem: was mit diesen polnischen Gebieten anzufangen, und auf welchen Grundlagen das politische Leben in ihnen einzurichten sei." Dmowski gibt darauf folgende Antwort: „Der preußische Staat ist, da er in jedem Falle das polnische Land germanisieren will, gezwungen, die Grund¬ lagen seines Staatsbaus zu untergraben, das rechtliche Bewußtsein seiner eignen Bürger zu erschüttern und den Glauben an die Dauerhaftigkeit der Einrichtungen, auf denen ihr eignes gesellschaftliches und politisches Leben aufgebaut ist, ins Wanken zu bringen. Infolgedessen wird schon in einer nahen Zukunft für das Deutsche Reich eine der beiden Möglichkeiten eintreten: entweder wird der Staat endgiltig den Weg des Rückschritts in der Zivilisation betreten. Alsdann würden ihm in Zukunft große innere Umwälzungen drohen. Oder aber der soziale Instinkt der Selbsterhaltung, den die Deutschen in einem hohen Maße haben, wird die Überhand gewinnen und derartige gefährliche Experimente überwinden und verhindern. Hierbei ist zu bemerken, daß Herr Dmowski zwar die polnischen Gebiete Preußens zurzeit einer großen Gefahr ausgesetzt sieht, aber dennoch behauptet, die Geschichte habe schon ihr Urteil gesprochen. Der preußische Staat habe bisher noch nicht den Beweis erbracht, daß die ihm zur Verfügung stehenden Mittel für die Vernichtung des polnischen Lebens und der polnischen Kultur wirksam und unüberwindlich seien. Es sei im Gegenteil die begründete Hoffnung vorhanden, daß die Polenfrage zum Ausgangspunkt zu bedeutenden innern Verwickluttgen werden könnte. Diese Verwicklungen könnten ein Territorium erfassen, das viel größer ist als das, auf dem jetzt in Preußen die polnische Kultur das Übergewicht hat." Woher schöpft Dmowski die Hoffnung? Hat er bindende Abmachungen mit den Sozialdemokraten oder den Ultramontanen in der Hand? Doch hören wir weiter. „Die innere Verfassung des russischen Staates, lesen wir in Dmowskis Ausführungen, stützte sich bisher nicht auf das Gesetz. Deshalb wurde das Problem der Russifizierung von Litauen und Westrußland von andern Ge¬ sichtspunkten aus betrieben als wie die Germanisierung von Preußisch-Polen. Rußland hatte in seinem Westgebiet fast ausschließlich mit der polnischen Schlacht«, zu einem geringen Teil mit dem polnischen Bürgerstand und nur vereinzelt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/462
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/462>, abgerufen am 20.06.2024.