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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Andrerseits habe sich auch der Stand und der Umfang des polnischen Kultur¬
besitzes geändert durch die Fortschritte der Entnationalisierungspolitik sowie
durch das Entstehn nationaler, gegen die Polen gerichteter Bestrebungen, wie
zum Beispiel der litauischen und der ukrainischen. Die polnische Machtsphäre
erweitere sich durch das Erwachen des polnischen Geistes und Lebens in Ländern,
die schon jahrhundertelang für deutsch gehalten worden waren, wie in Preußisch-
und österreichisch-Schlesien. "Gegenwärtig gibt es eine Polenfrage in einem
Gebiet, das größer ist als der polnische Staat vor den Teilungen, das andert¬
halbmal so groß ist wie das Deutsche Reich."

Herr Dmowski teilt das Gebiet in vier Teile ein: 1. Posen, Westpreußen,
Ostpreußens) und Oberschlesien, 2. Litauen und Weiß- und Kleinrußland, 3. das
Zartum Polen, 4. Galizien und das Fürstentum Teschen.

Mit Bezug auf die Bedeutung, die diese Gebiete für die einzelnen Staaten
haben, sind sie nach Dmowski in zwei Kategorien zu teilen. Erstens solche,
die eine geographische Notwendigkeit für die Staaten darstellen. Diese Kategorie
umfaßt die beiden ersten Teile. Die von Preußen in Besitz genommnen polnischen
Gebiete waren für Preußen notwendig, um eine mehr oder weniger normale
Ostgrenze zu schaffen, sowie um den deutschen Charakter der Ostseeküste bis zur
Mündung des Njemen zu sichern. Ebenso war für Rußland, das das Baltikum
mit Riga und das Schwarze Meer mit Odessa erworben hatte, Litauen und
Westrußland zur Herstellung einer normalen Westgrenze nötig. Weder Rußland
noch Deutschland hätten sich über einen etwaigen Verlust der genannten Gebiete
hinwegsetzen können. "Das Streben, diese Gebiete zu sichern, war das Leit¬
motiv für ihre ununterbrochne Tätigkeit, sich die Bevölkerung der gekennzeichneten
Gebiete völlig zu assimilieren."

Der Besitz der zur zweiten Kategorie gehörenden Gebiete -- das Zartum
Polen und Galizien -- sei weder für Rußland noch für Österreich eine Not¬
wendigkeit. Ihre Vereinigung habe sogar im Gegenteil die normalen Grenzen
dieser Staaten zerstört und sozusagen geographische Mißgestaltungen hervor¬
gerufen. So sei das Zartum Polen, das nur im Besitz des Mittellaufs der
Weichsel ist, sowohl von der Mündung wie von den Quellen abgeschlossen. "Der
Besitz dieser Gebiete kann nur dann dauerhaft sein, wenn Nußland und
Österreich den Gedanken haben, in Zukunft weitere territoriale Erwerbungen
Zu machen. Zugleich bilden diese Gegenden den Kern der polnischen Kraft, die
durchaus kein leicht zu verdauendes Element ist. In diesen Gegenden
ist die Liquidierung der Polenfrage durch Vernichtung der Polen
und Zerstörung der polnischen Kultur ganz unmöglich." Diese An¬
sicht Dmowski ist unbedingt zutreffend.

In der russischen Geschichte ist Dmowski aber nicht ganz zu Hause, wenn
er schreibt: "Als Alexander der Erste auf dem Wiener Kongresse die Vereinigung
Polens mit Rußland forderte, hielt er dieses Gebiet in keiner Beziehung für
einen notwendigen Bestandteil Rußlands." Wie bekannt hat Alexander die
Polen seine Avantgarde gegen Europa genannt und damit zum Ausdruck gebracht,


Andrerseits habe sich auch der Stand und der Umfang des polnischen Kultur¬
besitzes geändert durch die Fortschritte der Entnationalisierungspolitik sowie
durch das Entstehn nationaler, gegen die Polen gerichteter Bestrebungen, wie
zum Beispiel der litauischen und der ukrainischen. Die polnische Machtsphäre
erweitere sich durch das Erwachen des polnischen Geistes und Lebens in Ländern,
die schon jahrhundertelang für deutsch gehalten worden waren, wie in Preußisch-
und österreichisch-Schlesien. „Gegenwärtig gibt es eine Polenfrage in einem
Gebiet, das größer ist als der polnische Staat vor den Teilungen, das andert¬
halbmal so groß ist wie das Deutsche Reich."

Herr Dmowski teilt das Gebiet in vier Teile ein: 1. Posen, Westpreußen,
Ostpreußens) und Oberschlesien, 2. Litauen und Weiß- und Kleinrußland, 3. das
Zartum Polen, 4. Galizien und das Fürstentum Teschen.

Mit Bezug auf die Bedeutung, die diese Gebiete für die einzelnen Staaten
haben, sind sie nach Dmowski in zwei Kategorien zu teilen. Erstens solche,
die eine geographische Notwendigkeit für die Staaten darstellen. Diese Kategorie
umfaßt die beiden ersten Teile. Die von Preußen in Besitz genommnen polnischen
Gebiete waren für Preußen notwendig, um eine mehr oder weniger normale
Ostgrenze zu schaffen, sowie um den deutschen Charakter der Ostseeküste bis zur
Mündung des Njemen zu sichern. Ebenso war für Rußland, das das Baltikum
mit Riga und das Schwarze Meer mit Odessa erworben hatte, Litauen und
Westrußland zur Herstellung einer normalen Westgrenze nötig. Weder Rußland
noch Deutschland hätten sich über einen etwaigen Verlust der genannten Gebiete
hinwegsetzen können. „Das Streben, diese Gebiete zu sichern, war das Leit¬
motiv für ihre ununterbrochne Tätigkeit, sich die Bevölkerung der gekennzeichneten
Gebiete völlig zu assimilieren."

Der Besitz der zur zweiten Kategorie gehörenden Gebiete — das Zartum
Polen und Galizien — sei weder für Rußland noch für Österreich eine Not¬
wendigkeit. Ihre Vereinigung habe sogar im Gegenteil die normalen Grenzen
dieser Staaten zerstört und sozusagen geographische Mißgestaltungen hervor¬
gerufen. So sei das Zartum Polen, das nur im Besitz des Mittellaufs der
Weichsel ist, sowohl von der Mündung wie von den Quellen abgeschlossen. „Der
Besitz dieser Gebiete kann nur dann dauerhaft sein, wenn Nußland und
Österreich den Gedanken haben, in Zukunft weitere territoriale Erwerbungen
Zu machen. Zugleich bilden diese Gegenden den Kern der polnischen Kraft, die
durchaus kein leicht zu verdauendes Element ist. In diesen Gegenden
ist die Liquidierung der Polenfrage durch Vernichtung der Polen
und Zerstörung der polnischen Kultur ganz unmöglich." Diese An¬
sicht Dmowski ist unbedingt zutreffend.

In der russischen Geschichte ist Dmowski aber nicht ganz zu Hause, wenn
er schreibt: „Als Alexander der Erste auf dem Wiener Kongresse die Vereinigung
Polens mit Rußland forderte, hielt er dieses Gebiet in keiner Beziehung für
einen notwendigen Bestandteil Rußlands." Wie bekannt hat Alexander die
Polen seine Avantgarde gegen Europa genannt und damit zum Ausdruck gebracht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/461>, abgerufen am 20.06.2024.