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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Das vorgoethische Weimar

Bekannt sind Goethes Klagen über die komplizierte Organisation und die
unverhältnismäßig hohen Kosten der Verwaltung, die ein Land tragen mußte,
das weniger volkreich war als heute die einzige Stadt Erfurt. Am stärksten
wurden natürlich die Bauern und die Handwerker ausgesogen. Dieser Vorwurf
trifft weniger das Fürstenhaus; der Mißstand war durch die historische Ent¬
wicklung des außerordentlich zerrissenen Gebiets hervorgerufen. "Gerade die
Fürsten, sagt Bode, pflegten die Freisinnigsten und Neuerungsfreundlichsten zu
sein; aber wo sie zugreifen wollten, faßten sie in einen Rattenkönig von alten
Gesetzen, Rechten, Freiheiten, Privilegien, Observanzen, Kompetenzen, Jnkumbenzen,
Lehnsbriefen und Erbpflichten, von denen immer eins mit dem andern und alles
wieder mit ihren eignen Fürstenrechten verwachsen war." Kein Wunder, daß hier
der Weizen der Advokaten blühte; im Jahre 1776 gab es in Weimar-Jena ihrer 77,
in Eisenach 38, es kam also 1 Advokat auf 790 Einwohner in Stadt und Land.

Jedes Fleckchen Land hatte seine eigne politische Geschichte und deshalb
auch seine besondern Gesetze, Rechte und Obrigkeiten, die Zugehörigkeit mancher
Gebiete zum Herzogtum war allerjüngsten Datums und deshalb rechtlich noch
keineswegs geklärt. "Eisenach und Jena waren erst seit 1741 mit Weimar
wiederum vereinigt; die Dörfer Fischbach, Wiesental und Urnshausen im Eisenacher
Oberlande erwarb erst Herzogin Amalie endgiltig, indem sie den seit 1741 zwischen
Weimar und dem Kloster Fulda geführten "Fischbacher Streit" durch einen sehr
magern Vergleich beendete."

Das alles waren die Schattenseiten der deutschen Kleinstaaterei. Daß ein
solches Duodezfürstentum auch seine guten Seiten hatte, darf nicht geleugnet
werden. Der Fürst konnte seinen Landeskindern gegenüber wirklich die Vorsehung
spielen, er kannte nicht nur den Adel und die höhere Beamtenschaft seines Landes
Persönlich, sondern auch viele der niedern Beamten, der Bürger und der Bauern.
Das Vertrauen seiner Untertanen sprach sich besonders in den unzähligen Bitt¬
schriften aus, mit denen man ihn, besonders wenn er sich auf Reifen befand,
überschüttete. Schon deren Lektüre verlangte ein gewaltiges Maß von Zeit und
Hingebung. Amalie sah sich genötigt, in einer Verordnung von 1764 zu tadeln:
"daß viele an Uns eingereichte Bittschriften zur Ungebühr weitläufig abgefaßt
und durch Einmischung vieler zur Sache nicht gehöriger Nebenumstände, be¬
sonders auch Uns unangenehmer und beinahe ekelhafter Schmeicheleien und
Lobeserhebungen ungebührlich ausgedehnt werden." Dafür machte das Bestreben
der Untertanen, sich in die Angelegenheiten der Negierung und der Politik ein¬
zumischen, den Landesherren noch keine Sorge, von der sogenannten "öffentlichen
Meinung", die bekanntlich alles besser versteht und ihre Wissenschaft aus den
von heute auf morgen zusammengeschriebnen Leitartikeln der Tagespresse bezieht,
konnte keine Rede sein, da es politische Zeitungen in unserm Sinne noch nicht
gab. Die Wochenblättchen, die seit 1755 in Weimar und Eisenach erschienen,
brachten zwar hie und da Nachrichten aus der großen Welt, verlegten sich
jedoch noch nicht darauf, an den gemeldeten Ereignissen eine Kritik zu üben.


Das vorgoethische Weimar

Bekannt sind Goethes Klagen über die komplizierte Organisation und die
unverhältnismäßig hohen Kosten der Verwaltung, die ein Land tragen mußte,
das weniger volkreich war als heute die einzige Stadt Erfurt. Am stärksten
wurden natürlich die Bauern und die Handwerker ausgesogen. Dieser Vorwurf
trifft weniger das Fürstenhaus; der Mißstand war durch die historische Ent¬
wicklung des außerordentlich zerrissenen Gebiets hervorgerufen. „Gerade die
Fürsten, sagt Bode, pflegten die Freisinnigsten und Neuerungsfreundlichsten zu
sein; aber wo sie zugreifen wollten, faßten sie in einen Rattenkönig von alten
Gesetzen, Rechten, Freiheiten, Privilegien, Observanzen, Kompetenzen, Jnkumbenzen,
Lehnsbriefen und Erbpflichten, von denen immer eins mit dem andern und alles
wieder mit ihren eignen Fürstenrechten verwachsen war." Kein Wunder, daß hier
der Weizen der Advokaten blühte; im Jahre 1776 gab es in Weimar-Jena ihrer 77,
in Eisenach 38, es kam also 1 Advokat auf 790 Einwohner in Stadt und Land.

Jedes Fleckchen Land hatte seine eigne politische Geschichte und deshalb
auch seine besondern Gesetze, Rechte und Obrigkeiten, die Zugehörigkeit mancher
Gebiete zum Herzogtum war allerjüngsten Datums und deshalb rechtlich noch
keineswegs geklärt. „Eisenach und Jena waren erst seit 1741 mit Weimar
wiederum vereinigt; die Dörfer Fischbach, Wiesental und Urnshausen im Eisenacher
Oberlande erwarb erst Herzogin Amalie endgiltig, indem sie den seit 1741 zwischen
Weimar und dem Kloster Fulda geführten »Fischbacher Streit« durch einen sehr
magern Vergleich beendete."

Das alles waren die Schattenseiten der deutschen Kleinstaaterei. Daß ein
solches Duodezfürstentum auch seine guten Seiten hatte, darf nicht geleugnet
werden. Der Fürst konnte seinen Landeskindern gegenüber wirklich die Vorsehung
spielen, er kannte nicht nur den Adel und die höhere Beamtenschaft seines Landes
Persönlich, sondern auch viele der niedern Beamten, der Bürger und der Bauern.
Das Vertrauen seiner Untertanen sprach sich besonders in den unzähligen Bitt¬
schriften aus, mit denen man ihn, besonders wenn er sich auf Reifen befand,
überschüttete. Schon deren Lektüre verlangte ein gewaltiges Maß von Zeit und
Hingebung. Amalie sah sich genötigt, in einer Verordnung von 1764 zu tadeln:
»daß viele an Uns eingereichte Bittschriften zur Ungebühr weitläufig abgefaßt
und durch Einmischung vieler zur Sache nicht gehöriger Nebenumstände, be¬
sonders auch Uns unangenehmer und beinahe ekelhafter Schmeicheleien und
Lobeserhebungen ungebührlich ausgedehnt werden." Dafür machte das Bestreben
der Untertanen, sich in die Angelegenheiten der Negierung und der Politik ein¬
zumischen, den Landesherren noch keine Sorge, von der sogenannten „öffentlichen
Meinung", die bekanntlich alles besser versteht und ihre Wissenschaft aus den
von heute auf morgen zusammengeschriebnen Leitartikeln der Tagespresse bezieht,
konnte keine Rede sein, da es politische Zeitungen in unserm Sinne noch nicht
gab. Die Wochenblättchen, die seit 1755 in Weimar und Eisenach erschienen,
brachten zwar hie und da Nachrichten aus der großen Welt, verlegten sich
jedoch noch nicht darauf, an den gemeldeten Ereignissen eine Kritik zu üben.


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[0419] Das vorgoethische Weimar Bekannt sind Goethes Klagen über die komplizierte Organisation und die unverhältnismäßig hohen Kosten der Verwaltung, die ein Land tragen mußte, das weniger volkreich war als heute die einzige Stadt Erfurt. Am stärksten wurden natürlich die Bauern und die Handwerker ausgesogen. Dieser Vorwurf trifft weniger das Fürstenhaus; der Mißstand war durch die historische Ent¬ wicklung des außerordentlich zerrissenen Gebiets hervorgerufen. „Gerade die Fürsten, sagt Bode, pflegten die Freisinnigsten und Neuerungsfreundlichsten zu sein; aber wo sie zugreifen wollten, faßten sie in einen Rattenkönig von alten Gesetzen, Rechten, Freiheiten, Privilegien, Observanzen, Kompetenzen, Jnkumbenzen, Lehnsbriefen und Erbpflichten, von denen immer eins mit dem andern und alles wieder mit ihren eignen Fürstenrechten verwachsen war." Kein Wunder, daß hier der Weizen der Advokaten blühte; im Jahre 1776 gab es in Weimar-Jena ihrer 77, in Eisenach 38, es kam also 1 Advokat auf 790 Einwohner in Stadt und Land. Jedes Fleckchen Land hatte seine eigne politische Geschichte und deshalb auch seine besondern Gesetze, Rechte und Obrigkeiten, die Zugehörigkeit mancher Gebiete zum Herzogtum war allerjüngsten Datums und deshalb rechtlich noch keineswegs geklärt. „Eisenach und Jena waren erst seit 1741 mit Weimar wiederum vereinigt; die Dörfer Fischbach, Wiesental und Urnshausen im Eisenacher Oberlande erwarb erst Herzogin Amalie endgiltig, indem sie den seit 1741 zwischen Weimar und dem Kloster Fulda geführten »Fischbacher Streit« durch einen sehr magern Vergleich beendete." Das alles waren die Schattenseiten der deutschen Kleinstaaterei. Daß ein solches Duodezfürstentum auch seine guten Seiten hatte, darf nicht geleugnet werden. Der Fürst konnte seinen Landeskindern gegenüber wirklich die Vorsehung spielen, er kannte nicht nur den Adel und die höhere Beamtenschaft seines Landes Persönlich, sondern auch viele der niedern Beamten, der Bürger und der Bauern. Das Vertrauen seiner Untertanen sprach sich besonders in den unzähligen Bitt¬ schriften aus, mit denen man ihn, besonders wenn er sich auf Reifen befand, überschüttete. Schon deren Lektüre verlangte ein gewaltiges Maß von Zeit und Hingebung. Amalie sah sich genötigt, in einer Verordnung von 1764 zu tadeln: »daß viele an Uns eingereichte Bittschriften zur Ungebühr weitläufig abgefaßt und durch Einmischung vieler zur Sache nicht gehöriger Nebenumstände, be¬ sonders auch Uns unangenehmer und beinahe ekelhafter Schmeicheleien und Lobeserhebungen ungebührlich ausgedehnt werden." Dafür machte das Bestreben der Untertanen, sich in die Angelegenheiten der Negierung und der Politik ein¬ zumischen, den Landesherren noch keine Sorge, von der sogenannten „öffentlichen Meinung", die bekanntlich alles besser versteht und ihre Wissenschaft aus den von heute auf morgen zusammengeschriebnen Leitartikeln der Tagespresse bezieht, konnte keine Rede sein, da es politische Zeitungen in unserm Sinne noch nicht gab. Die Wochenblättchen, die seit 1755 in Weimar und Eisenach erschienen, brachten zwar hie und da Nachrichten aus der großen Welt, verlegten sich jedoch noch nicht darauf, an den gemeldeten Ereignissen eine Kritik zu üben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/419>, abgerufen am 27.06.2024.