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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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N?as hat uns der Krieg in Gstasien gelehrt?

auf weitere Entfernung liegen bleiben und durch plötzliches, überraschendes
Vorspringen oder durch Herankriechen oder durch allmähliches Anschleichen
kleiner Teile näher heranzukommen suchen, vielleicht auch die Nacht er¬
warten, um das zu erreichen, was das Feuer des Feindes bei Tage ver¬
wehrt. Das die Truppe beherrschende Streben nach vorwärts muß diese in
jedem Falle andre Mittel und Wege finden lassen, an den Feind heranzu¬
kommen. Hierin aber, in dieser erfinderischen Selbsttätigkeit haben die Japaner
etwas bisher Unerreichtes und Neues geleistet. Ihnen darin gleich zu werden,
muß die höchste Aufgabe unsrer Ausbildung sein, die Aufgabe, von deren
erfolgreicher Lösung der Erfolg im nächsten Kriege abhängt.

Unser Exerzierreglement fordert, daß der Mann zum denkenden, selbständig
handelnden Schützen erzogen werde. Tapferkeit und todesverachtender Mut
genügen heute für sich allein nicht mehr zum Soldaten. An diesen Eigen¬
schaften hat es den Russen nicht gefehlt, aber wohl an dem andern, an dem
regsamen lebendigen Geiste, der nicht an der normalen Form klebt, sondern
der nur an den Zweck denkt, diesen aber mit eisernem Willen verfolgt und
unbekümmert alle Mittel findet und ausnutzt, die sich ihm bieten. Die Kriegs¬
geschichte ist hier wieder einen Schritt vorwärts gegangen. Zur Zeit Friedrichs
des Großen wurde das Denken nur von den obersten Führern besorgt. Sie
stellten die Bataillone auf den richtigen Fleck und erwarteten den richtigen
Moment, sie antreten zu lassen. Dann ging die Maschine vorwärts, und
wie ein Uhrwerk feuerte sie ihre Salven in den Feind. Die Offiziere hatten
nur zu sorgen, daß sie im Gange blieb, daß die "Kanaille" ihre Schuldigkeit
tat. Das Zündnadelgewehr stellte an die untere Führung aber schon be¬
deutend höhere Aufgaben, und wo man das vergaß, wie zum Beispiel beim
Angriff der preußischen Garde auf Se. Privat am 18. August 1870, da hat
es sich durch schwere, blutige Opfer gerächt. Heute sind wir so weit, daß der
Soldat in den schwersten Augenblicken, in denen es sich um die Entscheidung,
um Sein oder Nichtsein handelt, aus sich selbst oder höchstens auf die An¬
leitung seiner untersten Führer, des Gruppen-, allenfalls noch des Zugführers
angewiesen ist.

Das ist die neuste Konsequenz, zu der die fortwährend gesteigerte Technik
geführt hat, daß die Anforderungen des Krieges an jeden einzelnen Mann
ungeheuer gewachsen sind. Das Wort Friedrichs des Großen, daß der Geist
einer Armee nur in ihren Offizieren stecke, ist nicht minder veraltet wie die
Waffen und die Technik des großen Königs. Volk und Heer sind heute
identisch, und wenn die sittliche und geistige Kraft des Volkes diesem nicht
den festen, unbeugsamen Willen zum Siege zu geben vermag, dann wird uns
keine taktische Form und keine Feldherrnkunst dazu verhelfen.

Die Friedensausbildung muß ihre Aufgabe darin sehen, den Soldaten
auf die Eindrücke vorzubereiten, denen er im Ernstfalle ausgesetzt ist, und ihn
die Mittel finden lehren, die ihm den Sieg verschaffen. So etwas läßt sich


N?as hat uns der Krieg in Gstasien gelehrt?

auf weitere Entfernung liegen bleiben und durch plötzliches, überraschendes
Vorspringen oder durch Herankriechen oder durch allmähliches Anschleichen
kleiner Teile näher heranzukommen suchen, vielleicht auch die Nacht er¬
warten, um das zu erreichen, was das Feuer des Feindes bei Tage ver¬
wehrt. Das die Truppe beherrschende Streben nach vorwärts muß diese in
jedem Falle andre Mittel und Wege finden lassen, an den Feind heranzu¬
kommen. Hierin aber, in dieser erfinderischen Selbsttätigkeit haben die Japaner
etwas bisher Unerreichtes und Neues geleistet. Ihnen darin gleich zu werden,
muß die höchste Aufgabe unsrer Ausbildung sein, die Aufgabe, von deren
erfolgreicher Lösung der Erfolg im nächsten Kriege abhängt.

Unser Exerzierreglement fordert, daß der Mann zum denkenden, selbständig
handelnden Schützen erzogen werde. Tapferkeit und todesverachtender Mut
genügen heute für sich allein nicht mehr zum Soldaten. An diesen Eigen¬
schaften hat es den Russen nicht gefehlt, aber wohl an dem andern, an dem
regsamen lebendigen Geiste, der nicht an der normalen Form klebt, sondern
der nur an den Zweck denkt, diesen aber mit eisernem Willen verfolgt und
unbekümmert alle Mittel findet und ausnutzt, die sich ihm bieten. Die Kriegs¬
geschichte ist hier wieder einen Schritt vorwärts gegangen. Zur Zeit Friedrichs
des Großen wurde das Denken nur von den obersten Führern besorgt. Sie
stellten die Bataillone auf den richtigen Fleck und erwarteten den richtigen
Moment, sie antreten zu lassen. Dann ging die Maschine vorwärts, und
wie ein Uhrwerk feuerte sie ihre Salven in den Feind. Die Offiziere hatten
nur zu sorgen, daß sie im Gange blieb, daß die „Kanaille" ihre Schuldigkeit
tat. Das Zündnadelgewehr stellte an die untere Führung aber schon be¬
deutend höhere Aufgaben, und wo man das vergaß, wie zum Beispiel beim
Angriff der preußischen Garde auf Se. Privat am 18. August 1870, da hat
es sich durch schwere, blutige Opfer gerächt. Heute sind wir so weit, daß der
Soldat in den schwersten Augenblicken, in denen es sich um die Entscheidung,
um Sein oder Nichtsein handelt, aus sich selbst oder höchstens auf die An¬
leitung seiner untersten Führer, des Gruppen-, allenfalls noch des Zugführers
angewiesen ist.

Das ist die neuste Konsequenz, zu der die fortwährend gesteigerte Technik
geführt hat, daß die Anforderungen des Krieges an jeden einzelnen Mann
ungeheuer gewachsen sind. Das Wort Friedrichs des Großen, daß der Geist
einer Armee nur in ihren Offizieren stecke, ist nicht minder veraltet wie die
Waffen und die Technik des großen Königs. Volk und Heer sind heute
identisch, und wenn die sittliche und geistige Kraft des Volkes diesem nicht
den festen, unbeugsamen Willen zum Siege zu geben vermag, dann wird uns
keine taktische Form und keine Feldherrnkunst dazu verhelfen.

Die Friedensausbildung muß ihre Aufgabe darin sehen, den Soldaten
auf die Eindrücke vorzubereiten, denen er im Ernstfalle ausgesetzt ist, und ihn
die Mittel finden lehren, die ihm den Sieg verschaffen. So etwas läßt sich


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[0360] N?as hat uns der Krieg in Gstasien gelehrt? auf weitere Entfernung liegen bleiben und durch plötzliches, überraschendes Vorspringen oder durch Herankriechen oder durch allmähliches Anschleichen kleiner Teile näher heranzukommen suchen, vielleicht auch die Nacht er¬ warten, um das zu erreichen, was das Feuer des Feindes bei Tage ver¬ wehrt. Das die Truppe beherrschende Streben nach vorwärts muß diese in jedem Falle andre Mittel und Wege finden lassen, an den Feind heranzu¬ kommen. Hierin aber, in dieser erfinderischen Selbsttätigkeit haben die Japaner etwas bisher Unerreichtes und Neues geleistet. Ihnen darin gleich zu werden, muß die höchste Aufgabe unsrer Ausbildung sein, die Aufgabe, von deren erfolgreicher Lösung der Erfolg im nächsten Kriege abhängt. Unser Exerzierreglement fordert, daß der Mann zum denkenden, selbständig handelnden Schützen erzogen werde. Tapferkeit und todesverachtender Mut genügen heute für sich allein nicht mehr zum Soldaten. An diesen Eigen¬ schaften hat es den Russen nicht gefehlt, aber wohl an dem andern, an dem regsamen lebendigen Geiste, der nicht an der normalen Form klebt, sondern der nur an den Zweck denkt, diesen aber mit eisernem Willen verfolgt und unbekümmert alle Mittel findet und ausnutzt, die sich ihm bieten. Die Kriegs¬ geschichte ist hier wieder einen Schritt vorwärts gegangen. Zur Zeit Friedrichs des Großen wurde das Denken nur von den obersten Führern besorgt. Sie stellten die Bataillone auf den richtigen Fleck und erwarteten den richtigen Moment, sie antreten zu lassen. Dann ging die Maschine vorwärts, und wie ein Uhrwerk feuerte sie ihre Salven in den Feind. Die Offiziere hatten nur zu sorgen, daß sie im Gange blieb, daß die „Kanaille" ihre Schuldigkeit tat. Das Zündnadelgewehr stellte an die untere Führung aber schon be¬ deutend höhere Aufgaben, und wo man das vergaß, wie zum Beispiel beim Angriff der preußischen Garde auf Se. Privat am 18. August 1870, da hat es sich durch schwere, blutige Opfer gerächt. Heute sind wir so weit, daß der Soldat in den schwersten Augenblicken, in denen es sich um die Entscheidung, um Sein oder Nichtsein handelt, aus sich selbst oder höchstens auf die An¬ leitung seiner untersten Führer, des Gruppen-, allenfalls noch des Zugführers angewiesen ist. Das ist die neuste Konsequenz, zu der die fortwährend gesteigerte Technik geführt hat, daß die Anforderungen des Krieges an jeden einzelnen Mann ungeheuer gewachsen sind. Das Wort Friedrichs des Großen, daß der Geist einer Armee nur in ihren Offizieren stecke, ist nicht minder veraltet wie die Waffen und die Technik des großen Königs. Volk und Heer sind heute identisch, und wenn die sittliche und geistige Kraft des Volkes diesem nicht den festen, unbeugsamen Willen zum Siege zu geben vermag, dann wird uns keine taktische Form und keine Feldherrnkunst dazu verhelfen. Die Friedensausbildung muß ihre Aufgabe darin sehen, den Soldaten auf die Eindrücke vorzubereiten, denen er im Ernstfalle ausgesetzt ist, und ihn die Mittel finden lehren, die ihm den Sieg verschaffen. So etwas läßt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/360>, abgerufen am 24.07.2024.