Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Fürsorgeerziehung

diese entführen das Mädchen unter Anwendung von Gewalt gegen die Ent¬
führte wie gegen die Hausfrau. Das brave und unverdorbne Mädchen hat
nachträglich geklagt, man wolle es zum Noviziat presfsn. Wie wenig übrigens
Landsberg gegen den Katholizismus voreingenommen ist, ergibt sich daraus,
daß er gerade die von einem katholischen Geistlichen geleitete Provinzial-Für-
sorgeanstalt Fichtenhain bei Krefeld als Musteranstalt beschreibt.

Nach den hier dargelegten Grundsätzen sind demnach die zu bekämpfenden
Übel: Entartung und Verwahrlosung, als das Gegenteil von Tüchtigkeit und
Rechtschaffenheit zu definieren. Ungeborne Entartung kann vorhanden sein, ohne
daß sie sich nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellen läßt. Es
gibt Kinder, die, ohne an einer nachzuweisenden körperlichen Deformität zu
leiden, durch ihre eingebornen Charaktereigenschaften zum Unglück prädestiniert
erscheinen. Aus solchen Kindern Menschen zu machen, die nicht mit der bürger¬
lichen Ordnung in Konflikt geraten, ist die häusliche Erziehung uur dann
imstande, wenn die Eltern sehr gut situiert und dabei sehr weise und gewissen¬
haft sind. Eine eigentümliche Beobachtung hat der Verfasser in Gegenden
gemacht, wo die ländliche Bevölkerung allmählich zu städtischem Leben über¬
geht: an den Enkeln treten die Charakterzüge der bäuerlichen Großväter in
karikierter Gestalt hervor, deren Tugenden sind, bei leiblicher Degeneration, in
die entsprechenden Laster ausgeartet. Zur Entartung, für die höchstens die
Konstitution aber nicht eine schuldvolle Handlungsweise der Eltern verantwort¬
lich gemacht werden kann, tritt die durch Vernachlässigung oder schlechtes
Beispiel und ungünstige soziale Verhältnisse verschuldete Verwahrlosung, der
auch gut geartete Kinder verfallen, nicht immer erst durch schlechtes Beispiel
und Verführung, sondern oft auch dann schon, wenn ihre natürliche Wildheit,
die an sich bei Knaben nur ein Symptom der Gesundheit, also erfreulich ist,
der richtigen Zügelung und Leitung entbehrt. Den hauptsächlichsten Nährboden
für die schlimmen Eigenschaften, die sich als Anzeichen der Entartung und der
Verwahrlosung entwickeln, geben, wie jedermann weiß, die mancherlei sozialen
Verhältnisse ab, die mit dem Worte "Not" zusammengefaßt werden können.
Besonders auf zwei Formen dieser Not hat der Verfasser sein Augenmerk
gerichtet, auf die Hausindustrie und die Kinderarbeit außer dem Hause. Er
weist nach, daß die bestehenden Kinderschutzgesetze nicht genügen, wenn er auch
die ungeheuern Schwierigkeiten anerkennt, die der Durchführung von weiter¬
gehenden entgegenstehn würden. Schon bei der Anwendung der bestehenden
Gesetze sei doch eben darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Kinder leben wollen,
und zu fragen, wie sie leben sollen, wenn man ihre Beschäftigung in der
bisherigen Weise oder in dem bisherigen Maße verbietet. Immerhin ließe sich
etwas mehr erreichen, wenn das Gesetz nicht so häufig umgangen würde, und
wenn die Strafen für Übertretung nicht ihrer Milde wegen unwirksam wären.
Der Verfasser hat im letzten Vierteljahr 1906 als Strafrichter mit einer ganzen
Kette von direkten Zuwiderhandlungen zu tun gehabt, die mit Unkenntnis des


Fürsorgeerziehung

diese entführen das Mädchen unter Anwendung von Gewalt gegen die Ent¬
führte wie gegen die Hausfrau. Das brave und unverdorbne Mädchen hat
nachträglich geklagt, man wolle es zum Noviziat presfsn. Wie wenig übrigens
Landsberg gegen den Katholizismus voreingenommen ist, ergibt sich daraus,
daß er gerade die von einem katholischen Geistlichen geleitete Provinzial-Für-
sorgeanstalt Fichtenhain bei Krefeld als Musteranstalt beschreibt.

Nach den hier dargelegten Grundsätzen sind demnach die zu bekämpfenden
Übel: Entartung und Verwahrlosung, als das Gegenteil von Tüchtigkeit und
Rechtschaffenheit zu definieren. Ungeborne Entartung kann vorhanden sein, ohne
daß sie sich nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellen läßt. Es
gibt Kinder, die, ohne an einer nachzuweisenden körperlichen Deformität zu
leiden, durch ihre eingebornen Charaktereigenschaften zum Unglück prädestiniert
erscheinen. Aus solchen Kindern Menschen zu machen, die nicht mit der bürger¬
lichen Ordnung in Konflikt geraten, ist die häusliche Erziehung uur dann
imstande, wenn die Eltern sehr gut situiert und dabei sehr weise und gewissen¬
haft sind. Eine eigentümliche Beobachtung hat der Verfasser in Gegenden
gemacht, wo die ländliche Bevölkerung allmählich zu städtischem Leben über¬
geht: an den Enkeln treten die Charakterzüge der bäuerlichen Großväter in
karikierter Gestalt hervor, deren Tugenden sind, bei leiblicher Degeneration, in
die entsprechenden Laster ausgeartet. Zur Entartung, für die höchstens die
Konstitution aber nicht eine schuldvolle Handlungsweise der Eltern verantwort¬
lich gemacht werden kann, tritt die durch Vernachlässigung oder schlechtes
Beispiel und ungünstige soziale Verhältnisse verschuldete Verwahrlosung, der
auch gut geartete Kinder verfallen, nicht immer erst durch schlechtes Beispiel
und Verführung, sondern oft auch dann schon, wenn ihre natürliche Wildheit,
die an sich bei Knaben nur ein Symptom der Gesundheit, also erfreulich ist,
der richtigen Zügelung und Leitung entbehrt. Den hauptsächlichsten Nährboden
für die schlimmen Eigenschaften, die sich als Anzeichen der Entartung und der
Verwahrlosung entwickeln, geben, wie jedermann weiß, die mancherlei sozialen
Verhältnisse ab, die mit dem Worte „Not" zusammengefaßt werden können.
Besonders auf zwei Formen dieser Not hat der Verfasser sein Augenmerk
gerichtet, auf die Hausindustrie und die Kinderarbeit außer dem Hause. Er
weist nach, daß die bestehenden Kinderschutzgesetze nicht genügen, wenn er auch
die ungeheuern Schwierigkeiten anerkennt, die der Durchführung von weiter¬
gehenden entgegenstehn würden. Schon bei der Anwendung der bestehenden
Gesetze sei doch eben darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Kinder leben wollen,
und zu fragen, wie sie leben sollen, wenn man ihre Beschäftigung in der
bisherigen Weise oder in dem bisherigen Maße verbietet. Immerhin ließe sich
etwas mehr erreichen, wenn das Gesetz nicht so häufig umgangen würde, und
wenn die Strafen für Übertretung nicht ihrer Milde wegen unwirksam wären.
Der Verfasser hat im letzten Vierteljahr 1906 als Strafrichter mit einer ganzen
Kette von direkten Zuwiderhandlungen zu tun gehabt, die mit Unkenntnis des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311963"/>
          <fw type="header" place="top"> Fürsorgeerziehung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1180" prev="#ID_1179"> diese entführen das Mädchen unter Anwendung von Gewalt gegen die Ent¬<lb/>
führte wie gegen die Hausfrau. Das brave und unverdorbne Mädchen hat<lb/>
nachträglich geklagt, man wolle es zum Noviziat presfsn. Wie wenig übrigens<lb/>
Landsberg gegen den Katholizismus voreingenommen ist, ergibt sich daraus,<lb/>
daß er gerade die von einem katholischen Geistlichen geleitete Provinzial-Für-<lb/>
sorgeanstalt Fichtenhain bei Krefeld als Musteranstalt beschreibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1181" next="#ID_1182"> Nach den hier dargelegten Grundsätzen sind demnach die zu bekämpfenden<lb/>
Übel: Entartung und Verwahrlosung, als das Gegenteil von Tüchtigkeit und<lb/>
Rechtschaffenheit zu definieren. Ungeborne Entartung kann vorhanden sein, ohne<lb/>
daß sie sich nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellen läßt. Es<lb/>
gibt Kinder, die, ohne an einer nachzuweisenden körperlichen Deformität zu<lb/>
leiden, durch ihre eingebornen Charaktereigenschaften zum Unglück prädestiniert<lb/>
erscheinen. Aus solchen Kindern Menschen zu machen, die nicht mit der bürger¬<lb/>
lichen Ordnung in Konflikt geraten, ist die häusliche Erziehung uur dann<lb/>
imstande, wenn die Eltern sehr gut situiert und dabei sehr weise und gewissen¬<lb/>
haft sind. Eine eigentümliche Beobachtung hat der Verfasser in Gegenden<lb/>
gemacht, wo die ländliche Bevölkerung allmählich zu städtischem Leben über¬<lb/>
geht: an den Enkeln treten die Charakterzüge der bäuerlichen Großväter in<lb/>
karikierter Gestalt hervor, deren Tugenden sind, bei leiblicher Degeneration, in<lb/>
die entsprechenden Laster ausgeartet. Zur Entartung, für die höchstens die<lb/>
Konstitution aber nicht eine schuldvolle Handlungsweise der Eltern verantwort¬<lb/>
lich gemacht werden kann, tritt die durch Vernachlässigung oder schlechtes<lb/>
Beispiel und ungünstige soziale Verhältnisse verschuldete Verwahrlosung, der<lb/>
auch gut geartete Kinder verfallen, nicht immer erst durch schlechtes Beispiel<lb/>
und Verführung, sondern oft auch dann schon, wenn ihre natürliche Wildheit,<lb/>
die an sich bei Knaben nur ein Symptom der Gesundheit, also erfreulich ist,<lb/>
der richtigen Zügelung und Leitung entbehrt. Den hauptsächlichsten Nährboden<lb/>
für die schlimmen Eigenschaften, die sich als Anzeichen der Entartung und der<lb/>
Verwahrlosung entwickeln, geben, wie jedermann weiß, die mancherlei sozialen<lb/>
Verhältnisse ab, die mit dem Worte &#x201E;Not" zusammengefaßt werden können.<lb/>
Besonders auf zwei Formen dieser Not hat der Verfasser sein Augenmerk<lb/>
gerichtet, auf die Hausindustrie und die Kinderarbeit außer dem Hause. Er<lb/>
weist nach, daß die bestehenden Kinderschutzgesetze nicht genügen, wenn er auch<lb/>
die ungeheuern Schwierigkeiten anerkennt, die der Durchführung von weiter¬<lb/>
gehenden entgegenstehn würden. Schon bei der Anwendung der bestehenden<lb/>
Gesetze sei doch eben darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Kinder leben wollen,<lb/>
und zu fragen, wie sie leben sollen, wenn man ihre Beschäftigung in der<lb/>
bisherigen Weise oder in dem bisherigen Maße verbietet. Immerhin ließe sich<lb/>
etwas mehr erreichen, wenn das Gesetz nicht so häufig umgangen würde, und<lb/>
wenn die Strafen für Übertretung nicht ihrer Milde wegen unwirksam wären.<lb/>
Der Verfasser hat im letzten Vierteljahr 1906 als Strafrichter mit einer ganzen<lb/>
Kette von direkten Zuwiderhandlungen zu tun gehabt, die mit Unkenntnis des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0276] Fürsorgeerziehung diese entführen das Mädchen unter Anwendung von Gewalt gegen die Ent¬ führte wie gegen die Hausfrau. Das brave und unverdorbne Mädchen hat nachträglich geklagt, man wolle es zum Noviziat presfsn. Wie wenig übrigens Landsberg gegen den Katholizismus voreingenommen ist, ergibt sich daraus, daß er gerade die von einem katholischen Geistlichen geleitete Provinzial-Für- sorgeanstalt Fichtenhain bei Krefeld als Musteranstalt beschreibt. Nach den hier dargelegten Grundsätzen sind demnach die zu bekämpfenden Übel: Entartung und Verwahrlosung, als das Gegenteil von Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit zu definieren. Ungeborne Entartung kann vorhanden sein, ohne daß sie sich nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft feststellen läßt. Es gibt Kinder, die, ohne an einer nachzuweisenden körperlichen Deformität zu leiden, durch ihre eingebornen Charaktereigenschaften zum Unglück prädestiniert erscheinen. Aus solchen Kindern Menschen zu machen, die nicht mit der bürger¬ lichen Ordnung in Konflikt geraten, ist die häusliche Erziehung uur dann imstande, wenn die Eltern sehr gut situiert und dabei sehr weise und gewissen¬ haft sind. Eine eigentümliche Beobachtung hat der Verfasser in Gegenden gemacht, wo die ländliche Bevölkerung allmählich zu städtischem Leben über¬ geht: an den Enkeln treten die Charakterzüge der bäuerlichen Großväter in karikierter Gestalt hervor, deren Tugenden sind, bei leiblicher Degeneration, in die entsprechenden Laster ausgeartet. Zur Entartung, für die höchstens die Konstitution aber nicht eine schuldvolle Handlungsweise der Eltern verantwort¬ lich gemacht werden kann, tritt die durch Vernachlässigung oder schlechtes Beispiel und ungünstige soziale Verhältnisse verschuldete Verwahrlosung, der auch gut geartete Kinder verfallen, nicht immer erst durch schlechtes Beispiel und Verführung, sondern oft auch dann schon, wenn ihre natürliche Wildheit, die an sich bei Knaben nur ein Symptom der Gesundheit, also erfreulich ist, der richtigen Zügelung und Leitung entbehrt. Den hauptsächlichsten Nährboden für die schlimmen Eigenschaften, die sich als Anzeichen der Entartung und der Verwahrlosung entwickeln, geben, wie jedermann weiß, die mancherlei sozialen Verhältnisse ab, die mit dem Worte „Not" zusammengefaßt werden können. Besonders auf zwei Formen dieser Not hat der Verfasser sein Augenmerk gerichtet, auf die Hausindustrie und die Kinderarbeit außer dem Hause. Er weist nach, daß die bestehenden Kinderschutzgesetze nicht genügen, wenn er auch die ungeheuern Schwierigkeiten anerkennt, die der Durchführung von weiter¬ gehenden entgegenstehn würden. Schon bei der Anwendung der bestehenden Gesetze sei doch eben darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Kinder leben wollen, und zu fragen, wie sie leben sollen, wenn man ihre Beschäftigung in der bisherigen Weise oder in dem bisherigen Maße verbietet. Immerhin ließe sich etwas mehr erreichen, wenn das Gesetz nicht so häufig umgangen würde, und wenn die Strafen für Übertretung nicht ihrer Milde wegen unwirksam wären. Der Verfasser hat im letzten Vierteljahr 1906 als Strafrichter mit einer ganzen Kette von direkten Zuwiderhandlungen zu tun gehabt, die mit Unkenntnis des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/276
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/276>, abgerufen am 24.07.2024.