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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse

machten also schwer zu strafen. Präsident Castro hat gewagt, Deutschland,
England, Frankreich, Italien, Holland zugleich zu trotzen. Die ihm zuteil
gewordne Abstrafung hat ihn nicht verhindert, alsbald mit den Vereinigten
Staaten anzubinden. Er hat einer nordamerikanischen Gesellschaft, der Bermndez
Asphalt Company, die Konzession entzogen, weil sie sich am Aufruhr beteiligt
habe, was wahr, jedoch nur in einer Zwangslage geschehen sein soll. Die
Vereinigten Staaten sind langsam zum Zorn, wenn keine europäische Ein¬
mischung droht. Krieg zu führen haben sie keine Neigung. Man kommt also
über Proteste und Klagen nicht hinaus, und unterdessen schlägt Präsident
Castro dem großen Bruder in Washington ein Schnippchen.

Es kann nicht unsre Aufgabe sein, alle südamerikanischen Staaten durch-
zugehn. Das Gesamtbild verändert sich, je weiter wir nach Süden kommen,
um so vorteilhafter. Brasilien ist in eine bessere Ära eingetreten, es arbeitet
sich vielleicht durch. Argentinien widmet alle Kräfte der Kultur seiner weiten
Ebnen und erfreut sich einer starken Einwanderung namentlich aus Italien.
Man zählte 1903 schM. 500000 Italiener, rund den zehnten Teil der Ge-
samtbevölkerung. Seitdem hat die starke Einwanderung noch immer angedauert.
Die Italiener kommen weniger als dauernde Ansiedler denn als Gäste für fünf¬
zehn bis zwanzig Jahre in der Hoffnung, dann mit einem kleinen Kapital,
von dessen Rente sie leben können, heimkehren zu können. Spanier wurden
zu derselben Zeit 200000 gezählt. Franzosen 94000, Amerikaner 118000,
Deutsche nur 17000. Dennoch brachte die Hypnose gewisser Deutschenfcinde
es fertig, Deutschland die Lust, Argentinien zu erobern, unterzuschieben. Aus
der Ära der Revolutionen ist Argentinien noch immer nicht heraus. Chile
hat am wenigsten unter Unruhen gelitten. Das gebirgige, gemäßigte Klima
hat ein kräftiges, kriegerisches Volk erzogen. Chile hat einen Teil Perus und
Bolivias erobert und wiederholt dem größer" und volkreichern Argentinien
kriegsdrohend gegenübergestanden. Einflüsse der Großstaaten und Anrufung
von Schiedsgerichten haben den Ausbruch von Feindseligkeiten verhindert. Als
bezeichnend für die Abnahme des Einflusses der Vereinigten Staaten nach
Süden zu ist hervorzuheben, daß Chile und Argentinien als Schiedsrichter
nicht den Präsidenten der Vereinigten Staaten angerufen haben, sondern König
Eduard von England. Beide sind niemals in die sogenannten Gegenseitigkeits¬
verträge mit den Vereinigten Staaten eingetreten. Die Ausfuhr ganz Süd¬
amerikas, namentlich der beiden südlichsten Staaten, nach Europa ist ganz be¬
deutend größer als nach den Vereinigten Staaten. Das ist immerhin ein
starkes Hindernis, das diese bei allen Versuchen, den europäischen Handel durch
Zollmachinationen auszuschalten, zu überwinden haben. Möchte Europa zu so
viel gemeinschaftlichem Handeln kommen, um einen allen seinen Teilen drohenden
Schlag dieser Art abzuwenden.

Die Bevormundung ganz Amerikas durch das einzige kräftige, mächtige
staatliche Gebilde ist ein Entwicklungsziel, das bei dem zerrütteten Zustande


Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse

machten also schwer zu strafen. Präsident Castro hat gewagt, Deutschland,
England, Frankreich, Italien, Holland zugleich zu trotzen. Die ihm zuteil
gewordne Abstrafung hat ihn nicht verhindert, alsbald mit den Vereinigten
Staaten anzubinden. Er hat einer nordamerikanischen Gesellschaft, der Bermndez
Asphalt Company, die Konzession entzogen, weil sie sich am Aufruhr beteiligt
habe, was wahr, jedoch nur in einer Zwangslage geschehen sein soll. Die
Vereinigten Staaten sind langsam zum Zorn, wenn keine europäische Ein¬
mischung droht. Krieg zu führen haben sie keine Neigung. Man kommt also
über Proteste und Klagen nicht hinaus, und unterdessen schlägt Präsident
Castro dem großen Bruder in Washington ein Schnippchen.

Es kann nicht unsre Aufgabe sein, alle südamerikanischen Staaten durch-
zugehn. Das Gesamtbild verändert sich, je weiter wir nach Süden kommen,
um so vorteilhafter. Brasilien ist in eine bessere Ära eingetreten, es arbeitet
sich vielleicht durch. Argentinien widmet alle Kräfte der Kultur seiner weiten
Ebnen und erfreut sich einer starken Einwanderung namentlich aus Italien.
Man zählte 1903 schM. 500000 Italiener, rund den zehnten Teil der Ge-
samtbevölkerung. Seitdem hat die starke Einwanderung noch immer angedauert.
Die Italiener kommen weniger als dauernde Ansiedler denn als Gäste für fünf¬
zehn bis zwanzig Jahre in der Hoffnung, dann mit einem kleinen Kapital,
von dessen Rente sie leben können, heimkehren zu können. Spanier wurden
zu derselben Zeit 200000 gezählt. Franzosen 94000, Amerikaner 118000,
Deutsche nur 17000. Dennoch brachte die Hypnose gewisser Deutschenfcinde
es fertig, Deutschland die Lust, Argentinien zu erobern, unterzuschieben. Aus
der Ära der Revolutionen ist Argentinien noch immer nicht heraus. Chile
hat am wenigsten unter Unruhen gelitten. Das gebirgige, gemäßigte Klima
hat ein kräftiges, kriegerisches Volk erzogen. Chile hat einen Teil Perus und
Bolivias erobert und wiederholt dem größer» und volkreichern Argentinien
kriegsdrohend gegenübergestanden. Einflüsse der Großstaaten und Anrufung
von Schiedsgerichten haben den Ausbruch von Feindseligkeiten verhindert. Als
bezeichnend für die Abnahme des Einflusses der Vereinigten Staaten nach
Süden zu ist hervorzuheben, daß Chile und Argentinien als Schiedsrichter
nicht den Präsidenten der Vereinigten Staaten angerufen haben, sondern König
Eduard von England. Beide sind niemals in die sogenannten Gegenseitigkeits¬
verträge mit den Vereinigten Staaten eingetreten. Die Ausfuhr ganz Süd¬
amerikas, namentlich der beiden südlichsten Staaten, nach Europa ist ganz be¬
deutend größer als nach den Vereinigten Staaten. Das ist immerhin ein
starkes Hindernis, das diese bei allen Versuchen, den europäischen Handel durch
Zollmachinationen auszuschalten, zu überwinden haben. Möchte Europa zu so
viel gemeinschaftlichem Handeln kommen, um einen allen seinen Teilen drohenden
Schlag dieser Art abzuwenden.

Die Bevormundung ganz Amerikas durch das einzige kräftige, mächtige
staatliche Gebilde ist ein Entwicklungsziel, das bei dem zerrütteten Zustande


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[0273] Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse machten also schwer zu strafen. Präsident Castro hat gewagt, Deutschland, England, Frankreich, Italien, Holland zugleich zu trotzen. Die ihm zuteil gewordne Abstrafung hat ihn nicht verhindert, alsbald mit den Vereinigten Staaten anzubinden. Er hat einer nordamerikanischen Gesellschaft, der Bermndez Asphalt Company, die Konzession entzogen, weil sie sich am Aufruhr beteiligt habe, was wahr, jedoch nur in einer Zwangslage geschehen sein soll. Die Vereinigten Staaten sind langsam zum Zorn, wenn keine europäische Ein¬ mischung droht. Krieg zu führen haben sie keine Neigung. Man kommt also über Proteste und Klagen nicht hinaus, und unterdessen schlägt Präsident Castro dem großen Bruder in Washington ein Schnippchen. Es kann nicht unsre Aufgabe sein, alle südamerikanischen Staaten durch- zugehn. Das Gesamtbild verändert sich, je weiter wir nach Süden kommen, um so vorteilhafter. Brasilien ist in eine bessere Ära eingetreten, es arbeitet sich vielleicht durch. Argentinien widmet alle Kräfte der Kultur seiner weiten Ebnen und erfreut sich einer starken Einwanderung namentlich aus Italien. Man zählte 1903 schM. 500000 Italiener, rund den zehnten Teil der Ge- samtbevölkerung. Seitdem hat die starke Einwanderung noch immer angedauert. Die Italiener kommen weniger als dauernde Ansiedler denn als Gäste für fünf¬ zehn bis zwanzig Jahre in der Hoffnung, dann mit einem kleinen Kapital, von dessen Rente sie leben können, heimkehren zu können. Spanier wurden zu derselben Zeit 200000 gezählt. Franzosen 94000, Amerikaner 118000, Deutsche nur 17000. Dennoch brachte die Hypnose gewisser Deutschenfcinde es fertig, Deutschland die Lust, Argentinien zu erobern, unterzuschieben. Aus der Ära der Revolutionen ist Argentinien noch immer nicht heraus. Chile hat am wenigsten unter Unruhen gelitten. Das gebirgige, gemäßigte Klima hat ein kräftiges, kriegerisches Volk erzogen. Chile hat einen Teil Perus und Bolivias erobert und wiederholt dem größer» und volkreichern Argentinien kriegsdrohend gegenübergestanden. Einflüsse der Großstaaten und Anrufung von Schiedsgerichten haben den Ausbruch von Feindseligkeiten verhindert. Als bezeichnend für die Abnahme des Einflusses der Vereinigten Staaten nach Süden zu ist hervorzuheben, daß Chile und Argentinien als Schiedsrichter nicht den Präsidenten der Vereinigten Staaten angerufen haben, sondern König Eduard von England. Beide sind niemals in die sogenannten Gegenseitigkeits¬ verträge mit den Vereinigten Staaten eingetreten. Die Ausfuhr ganz Süd¬ amerikas, namentlich der beiden südlichsten Staaten, nach Europa ist ganz be¬ deutend größer als nach den Vereinigten Staaten. Das ist immerhin ein starkes Hindernis, das diese bei allen Versuchen, den europäischen Handel durch Zollmachinationen auszuschalten, zu überwinden haben. Möchte Europa zu so viel gemeinschaftlichem Handeln kommen, um einen allen seinen Teilen drohenden Schlag dieser Art abzuwenden. Die Bevormundung ganz Amerikas durch das einzige kräftige, mächtige staatliche Gebilde ist ein Entwicklungsziel, das bei dem zerrütteten Zustande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/273>, abgerufen am 24.07.2024.