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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürstin pauline zur Lippe

Güte und Geist zu entdecken: "wieviele treffliche Anlagen müssen im Menschen
liegen, da sie zu verschrauben oft bei aller Mühe nicht möglich wird." Sie
spann sich gern in die Einsamkeit ein und wollte von der großen Welt und
ihrem sinnlichen Jubel nichts wissen- Doch verschmähte sie es nicht, ihr kleines
poetisches Talent in den Dienst des Hofes zu stellen, wenn es galt, den Ge¬
burtstag eines Angehörigen zu feiern. Auch Jagdlieder von ihr wurden
einmal an die Jagdgesellschaft verteilt. Ihre Verse, meist Gelegenheitsverse
oder Übersetzungen aus dem Lateinischen, sind nicht immer glatt und geschmack¬
voll, aber auch nicht viel schlechter als manche Gedichte ihres Lehrmeisters
Gleim, Der Alte, der mit dem Ballenstedter Hofe seit lange nachbarliche Be¬
ziehungen hatte, war glückselig über die gelehrige Schülerin und pries sie als
"die einzige Fürstin unsers lieben Vaterlandes, die den deutschen Musen opfere".
Pauline war zu verständig, auf ihre Reimereien großen Wert zu legen. "Nur
selten und schüchtern, so schreibt sie selbst, wage ich den Musen zu opfern, aus
Furcht, mein Weihrauch möchte als mittelmäßiges Rauchwerk den neun ver¬
götterten Schwestern mißfallen." Es waren für sie Beschäftigungen müßiger
Stunden, der Ehrgeiz der Dichterin lockte sie nicht. Aber ein heißes Verlangen,
ihre Gedanken und Empfindungen auch in den Herzen andrer wieder erklingen
zu lassen, war schon früh in ihr lebendig; sie wollte wirken und schaffen, den
Menschen nützen und sie besser und glücklicher machen. So setzte sich das
neunzehnjährige Mädchen an den Schreibtisch und schrieb eine Abhandlung --
"Über den Tanz, in Rücksicht seiner Wirkung auf das weibliche Herz."*)

Wie unjugendlich, wie kalt und übernünftig! wird man sagen. Man denkt
an Friederiken, die sich mit dem Straßburger Studenten so fröhlich im Kreise
drehte, an Lotten, die mit Werthern zum Balle fuhr. Auch Pauline verwahrt
sich dagegen, eine "grämliche Moralistin" zu sein. Aber sie hat über diese
Beschäftigung, die, wie sie aus Selbstprüfung und Erfahrung weiß, so heftig
auf Herz und Sinnlichkeit wirkt, viel nachgedacht und durch zwei jüngst er¬
schienene Romane des bekannten Modeschriftstellers Joh. Timotheus Hermes
noch eine besondre Anregung empfangen. Daß eine junge und hochgebildete
Dame an diesen seicht und unerträglich breit geschriebnen Geschichten Geschmack
finden konnte, erscheint uns heute unbegreiflich. Doch gerade das, was uns
so unangenehm berührt, die lehrhafte Tendenz, die Absichtlichkeit im Morali¬
sieren, gefiel den damaligen Lesern. Und so mochte es auch Paulinens Herz
hoch befriedigen, als sie bei dem Verfasser von "Sophiens Reise von Memel
nach Sachsen" las, wie sündhaft und für die Gesundheit schädlich der Tanz
sei. Diesen Gedanken führt sie nun weiter aus, und abgesehen von einigen
Verstiegenheiten und Wunderlichkeiten, durchaus nicht ungeschickt. Sie schreibt,
besonders für eine Prinzessin jener Zeit -- man vergleiche die deutschen Briefe



Wieder entdeckt und mit dem weiter unten erwähnten Aussatz herausgegeben von Hans
Schulz. (Zur Frauenzimmermoral, Leipzig, 1303.)
Fürstin pauline zur Lippe

Güte und Geist zu entdecken: „wieviele treffliche Anlagen müssen im Menschen
liegen, da sie zu verschrauben oft bei aller Mühe nicht möglich wird." Sie
spann sich gern in die Einsamkeit ein und wollte von der großen Welt und
ihrem sinnlichen Jubel nichts wissen- Doch verschmähte sie es nicht, ihr kleines
poetisches Talent in den Dienst des Hofes zu stellen, wenn es galt, den Ge¬
burtstag eines Angehörigen zu feiern. Auch Jagdlieder von ihr wurden
einmal an die Jagdgesellschaft verteilt. Ihre Verse, meist Gelegenheitsverse
oder Übersetzungen aus dem Lateinischen, sind nicht immer glatt und geschmack¬
voll, aber auch nicht viel schlechter als manche Gedichte ihres Lehrmeisters
Gleim, Der Alte, der mit dem Ballenstedter Hofe seit lange nachbarliche Be¬
ziehungen hatte, war glückselig über die gelehrige Schülerin und pries sie als
„die einzige Fürstin unsers lieben Vaterlandes, die den deutschen Musen opfere".
Pauline war zu verständig, auf ihre Reimereien großen Wert zu legen. „Nur
selten und schüchtern, so schreibt sie selbst, wage ich den Musen zu opfern, aus
Furcht, mein Weihrauch möchte als mittelmäßiges Rauchwerk den neun ver¬
götterten Schwestern mißfallen." Es waren für sie Beschäftigungen müßiger
Stunden, der Ehrgeiz der Dichterin lockte sie nicht. Aber ein heißes Verlangen,
ihre Gedanken und Empfindungen auch in den Herzen andrer wieder erklingen
zu lassen, war schon früh in ihr lebendig; sie wollte wirken und schaffen, den
Menschen nützen und sie besser und glücklicher machen. So setzte sich das
neunzehnjährige Mädchen an den Schreibtisch und schrieb eine Abhandlung —
„Über den Tanz, in Rücksicht seiner Wirkung auf das weibliche Herz."*)

Wie unjugendlich, wie kalt und übernünftig! wird man sagen. Man denkt
an Friederiken, die sich mit dem Straßburger Studenten so fröhlich im Kreise
drehte, an Lotten, die mit Werthern zum Balle fuhr. Auch Pauline verwahrt
sich dagegen, eine „grämliche Moralistin" zu sein. Aber sie hat über diese
Beschäftigung, die, wie sie aus Selbstprüfung und Erfahrung weiß, so heftig
auf Herz und Sinnlichkeit wirkt, viel nachgedacht und durch zwei jüngst er¬
schienene Romane des bekannten Modeschriftstellers Joh. Timotheus Hermes
noch eine besondre Anregung empfangen. Daß eine junge und hochgebildete
Dame an diesen seicht und unerträglich breit geschriebnen Geschichten Geschmack
finden konnte, erscheint uns heute unbegreiflich. Doch gerade das, was uns
so unangenehm berührt, die lehrhafte Tendenz, die Absichtlichkeit im Morali¬
sieren, gefiel den damaligen Lesern. Und so mochte es auch Paulinens Herz
hoch befriedigen, als sie bei dem Verfasser von „Sophiens Reise von Memel
nach Sachsen" las, wie sündhaft und für die Gesundheit schädlich der Tanz
sei. Diesen Gedanken führt sie nun weiter aus, und abgesehen von einigen
Verstiegenheiten und Wunderlichkeiten, durchaus nicht ungeschickt. Sie schreibt,
besonders für eine Prinzessin jener Zeit — man vergleiche die deutschen Briefe



Wieder entdeckt und mit dem weiter unten erwähnten Aussatz herausgegeben von Hans
Schulz. (Zur Frauenzimmermoral, Leipzig, 1303.)
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[0236] Fürstin pauline zur Lippe Güte und Geist zu entdecken: „wieviele treffliche Anlagen müssen im Menschen liegen, da sie zu verschrauben oft bei aller Mühe nicht möglich wird." Sie spann sich gern in die Einsamkeit ein und wollte von der großen Welt und ihrem sinnlichen Jubel nichts wissen- Doch verschmähte sie es nicht, ihr kleines poetisches Talent in den Dienst des Hofes zu stellen, wenn es galt, den Ge¬ burtstag eines Angehörigen zu feiern. Auch Jagdlieder von ihr wurden einmal an die Jagdgesellschaft verteilt. Ihre Verse, meist Gelegenheitsverse oder Übersetzungen aus dem Lateinischen, sind nicht immer glatt und geschmack¬ voll, aber auch nicht viel schlechter als manche Gedichte ihres Lehrmeisters Gleim, Der Alte, der mit dem Ballenstedter Hofe seit lange nachbarliche Be¬ ziehungen hatte, war glückselig über die gelehrige Schülerin und pries sie als „die einzige Fürstin unsers lieben Vaterlandes, die den deutschen Musen opfere". Pauline war zu verständig, auf ihre Reimereien großen Wert zu legen. „Nur selten und schüchtern, so schreibt sie selbst, wage ich den Musen zu opfern, aus Furcht, mein Weihrauch möchte als mittelmäßiges Rauchwerk den neun ver¬ götterten Schwestern mißfallen." Es waren für sie Beschäftigungen müßiger Stunden, der Ehrgeiz der Dichterin lockte sie nicht. Aber ein heißes Verlangen, ihre Gedanken und Empfindungen auch in den Herzen andrer wieder erklingen zu lassen, war schon früh in ihr lebendig; sie wollte wirken und schaffen, den Menschen nützen und sie besser und glücklicher machen. So setzte sich das neunzehnjährige Mädchen an den Schreibtisch und schrieb eine Abhandlung — „Über den Tanz, in Rücksicht seiner Wirkung auf das weibliche Herz."*) Wie unjugendlich, wie kalt und übernünftig! wird man sagen. Man denkt an Friederiken, die sich mit dem Straßburger Studenten so fröhlich im Kreise drehte, an Lotten, die mit Werthern zum Balle fuhr. Auch Pauline verwahrt sich dagegen, eine „grämliche Moralistin" zu sein. Aber sie hat über diese Beschäftigung, die, wie sie aus Selbstprüfung und Erfahrung weiß, so heftig auf Herz und Sinnlichkeit wirkt, viel nachgedacht und durch zwei jüngst er¬ schienene Romane des bekannten Modeschriftstellers Joh. Timotheus Hermes noch eine besondre Anregung empfangen. Daß eine junge und hochgebildete Dame an diesen seicht und unerträglich breit geschriebnen Geschichten Geschmack finden konnte, erscheint uns heute unbegreiflich. Doch gerade das, was uns so unangenehm berührt, die lehrhafte Tendenz, die Absichtlichkeit im Morali¬ sieren, gefiel den damaligen Lesern. Und so mochte es auch Paulinens Herz hoch befriedigen, als sie bei dem Verfasser von „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen" las, wie sündhaft und für die Gesundheit schädlich der Tanz sei. Diesen Gedanken führt sie nun weiter aus, und abgesehen von einigen Verstiegenheiten und Wunderlichkeiten, durchaus nicht ungeschickt. Sie schreibt, besonders für eine Prinzessin jener Zeit — man vergleiche die deutschen Briefe Wieder entdeckt und mit dem weiter unten erwähnten Aussatz herausgegeben von Hans Schulz. (Zur Frauenzimmermoral, Leipzig, 1303.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/236>, abgerufen am 24.07.2024.