Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse

um sich eine Schutztruppe zu bilden. Aber eben die Reichtümer verstärken
die Lockung für die Ausgeschlossenen. Die Unzufriedenheit greift um sich,
es bilden sich Verschwörungen. Offner Aufruhr oder schleichender Mord be¬
drohen jede Regierung. Leicht kommt eine Revolution, ein Bürgerkrieg zu¬
stande. Siege die andre Partei, der andre Diktaturprätendent, so wird an
den allgemeinen Verhältnissen kaum etwas geändert, nur kommt die Gewalttat
von der andern Seite. Die europäischen und nordamerikanischen Fremden
kommen dabei meist noch leidlich weg, denn man wagt sich nicht an sie heran,
weil man weiß, daß hinter ihnen die Macht ihrer heimatlichen Regierungen
steht. Aber die eignen Bürger haben keinen fremden Schutz.

Die Vereinigten Staaten und Kanada sind ganz überwiegend protestantisch,
das übrige Amerika ist noch viel überwiegender katholisch. Das offizielle
Direktorium der römisch-katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gibt
(wohl für 1907) 12651944 Angehörige an. also reichlich ein Siebentel.
Doch macht sich der konfessionelle Unterschied nicht übermäßig geltend. In
den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat vollständig
durchgeführt. Die Kirche ist nur Privatangelegenheit ihrer Angehörigen. Der
Protestantismus ist vollständig zerklüftet in allerlei Sekten; zahllose Leute
unterlassen es, sich einer bestimmten Kirche anzuschließen. Sogar das Taufen
ist keine maßgebende Sitte mehr, wenn auch das Nichttaufen noch keineswegs
den Bruch mit dem Christentum bedeutet. Die politische Macht der katholischen
Kirche ist oft ganz übertrieben geschildert worden. Selbst in der Stadt
Newyork, wo sie einst auf Grund des starken Bruchteils irischer Bevölkerung
sehr groß war, ist sie sehr in den Hintergrund getreten. In den katholischen
Republiken taucht gelegentlich eine klerikale Partei auf, aber nur als lockeres
Gebilde. Denn Rom ist weit, zu weit, als daß es eine folgerichtige Politik
betreiben könnte. Auch fehlt es an dem belebenden Gegensatz des Klerikalismus,
einer ausgesprochen antiklerikalen Partei.

Das Menschenmaterial der spanischen Republiken ist ziemlich gleichartig
von Mexiko bis Chile, nur tritt in den beiden südlichsten Republiken des
Weltteils das Europäertum stärker hervor. Je näher dem Äquator, desto
reiner kommt der kreolische Charakter des Staatsgebildes zum Vorschein.
Venezuela, Colombia, sodann Zentralamerika sind am wenigsten vom Euro¬
päertum, namentlich von angelsächsisch-germanischem Blute beeinflußt. Das
portugiesische Brasilien ist nur in der Sprache vom spanischen unterschieden,
nicht im Charakter. Nur ist das Negerelement stärker. Brasilien selbst be¬
ziffert seine Neger und Mulatten auf 19^ vom Hundert, die Weißen auf
37,7 vom Hundert, Mestizen (Kreolen) auf 38 vom Hundert, doch ist es
sicher, daß die Zahl der Weißen viel zu hoch angegeben ist. Es ist eine Ehre,
Weißer zu sein; wer irgend kann, nennt sich Weißer. Trotz der Gleichartig¬
keit des Menschenmaterials und (mit Ausnahme Brasiliens) der Sprache ist
es nie zu einer gemeinsamen staatlichen Bildung im spanischen Amerika ge-


Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse

um sich eine Schutztruppe zu bilden. Aber eben die Reichtümer verstärken
die Lockung für die Ausgeschlossenen. Die Unzufriedenheit greift um sich,
es bilden sich Verschwörungen. Offner Aufruhr oder schleichender Mord be¬
drohen jede Regierung. Leicht kommt eine Revolution, ein Bürgerkrieg zu¬
stande. Siege die andre Partei, der andre Diktaturprätendent, so wird an
den allgemeinen Verhältnissen kaum etwas geändert, nur kommt die Gewalttat
von der andern Seite. Die europäischen und nordamerikanischen Fremden
kommen dabei meist noch leidlich weg, denn man wagt sich nicht an sie heran,
weil man weiß, daß hinter ihnen die Macht ihrer heimatlichen Regierungen
steht. Aber die eignen Bürger haben keinen fremden Schutz.

Die Vereinigten Staaten und Kanada sind ganz überwiegend protestantisch,
das übrige Amerika ist noch viel überwiegender katholisch. Das offizielle
Direktorium der römisch-katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gibt
(wohl für 1907) 12651944 Angehörige an. also reichlich ein Siebentel.
Doch macht sich der konfessionelle Unterschied nicht übermäßig geltend. In
den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat vollständig
durchgeführt. Die Kirche ist nur Privatangelegenheit ihrer Angehörigen. Der
Protestantismus ist vollständig zerklüftet in allerlei Sekten; zahllose Leute
unterlassen es, sich einer bestimmten Kirche anzuschließen. Sogar das Taufen
ist keine maßgebende Sitte mehr, wenn auch das Nichttaufen noch keineswegs
den Bruch mit dem Christentum bedeutet. Die politische Macht der katholischen
Kirche ist oft ganz übertrieben geschildert worden. Selbst in der Stadt
Newyork, wo sie einst auf Grund des starken Bruchteils irischer Bevölkerung
sehr groß war, ist sie sehr in den Hintergrund getreten. In den katholischen
Republiken taucht gelegentlich eine klerikale Partei auf, aber nur als lockeres
Gebilde. Denn Rom ist weit, zu weit, als daß es eine folgerichtige Politik
betreiben könnte. Auch fehlt es an dem belebenden Gegensatz des Klerikalismus,
einer ausgesprochen antiklerikalen Partei.

Das Menschenmaterial der spanischen Republiken ist ziemlich gleichartig
von Mexiko bis Chile, nur tritt in den beiden südlichsten Republiken des
Weltteils das Europäertum stärker hervor. Je näher dem Äquator, desto
reiner kommt der kreolische Charakter des Staatsgebildes zum Vorschein.
Venezuela, Colombia, sodann Zentralamerika sind am wenigsten vom Euro¬
päertum, namentlich von angelsächsisch-germanischem Blute beeinflußt. Das
portugiesische Brasilien ist nur in der Sprache vom spanischen unterschieden,
nicht im Charakter. Nur ist das Negerelement stärker. Brasilien selbst be¬
ziffert seine Neger und Mulatten auf 19^ vom Hundert, die Weißen auf
37,7 vom Hundert, Mestizen (Kreolen) auf 38 vom Hundert, doch ist es
sicher, daß die Zahl der Weißen viel zu hoch angegeben ist. Es ist eine Ehre,
Weißer zu sein; wer irgend kann, nennt sich Weißer. Trotz der Gleichartig¬
keit des Menschenmaterials und (mit Ausnahme Brasiliens) der Sprache ist
es nie zu einer gemeinsamen staatlichen Bildung im spanischen Amerika ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0216" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311903"/>
          <fw type="header" place="top"> Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_903" prev="#ID_902"> um sich eine Schutztruppe zu bilden. Aber eben die Reichtümer verstärken<lb/>
die Lockung für die Ausgeschlossenen. Die Unzufriedenheit greift um sich,<lb/>
es bilden sich Verschwörungen. Offner Aufruhr oder schleichender Mord be¬<lb/>
drohen jede Regierung. Leicht kommt eine Revolution, ein Bürgerkrieg zu¬<lb/>
stande. Siege die andre Partei, der andre Diktaturprätendent, so wird an<lb/>
den allgemeinen Verhältnissen kaum etwas geändert, nur kommt die Gewalttat<lb/>
von der andern Seite. Die europäischen und nordamerikanischen Fremden<lb/>
kommen dabei meist noch leidlich weg, denn man wagt sich nicht an sie heran,<lb/>
weil man weiß, daß hinter ihnen die Macht ihrer heimatlichen Regierungen<lb/>
steht. Aber die eignen Bürger haben keinen fremden Schutz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_904"> Die Vereinigten Staaten und Kanada sind ganz überwiegend protestantisch,<lb/>
das übrige Amerika ist noch viel überwiegender katholisch. Das offizielle<lb/>
Direktorium der römisch-katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gibt<lb/>
(wohl für 1907) 12651944 Angehörige an. also reichlich ein Siebentel.<lb/>
Doch macht sich der konfessionelle Unterschied nicht übermäßig geltend. In<lb/>
den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat vollständig<lb/>
durchgeführt. Die Kirche ist nur Privatangelegenheit ihrer Angehörigen. Der<lb/>
Protestantismus ist vollständig zerklüftet in allerlei Sekten; zahllose Leute<lb/>
unterlassen es, sich einer bestimmten Kirche anzuschließen. Sogar das Taufen<lb/>
ist keine maßgebende Sitte mehr, wenn auch das Nichttaufen noch keineswegs<lb/>
den Bruch mit dem Christentum bedeutet. Die politische Macht der katholischen<lb/>
Kirche ist oft ganz übertrieben geschildert worden. Selbst in der Stadt<lb/>
Newyork, wo sie einst auf Grund des starken Bruchteils irischer Bevölkerung<lb/>
sehr groß war, ist sie sehr in den Hintergrund getreten. In den katholischen<lb/>
Republiken taucht gelegentlich eine klerikale Partei auf, aber nur als lockeres<lb/>
Gebilde. Denn Rom ist weit, zu weit, als daß es eine folgerichtige Politik<lb/>
betreiben könnte. Auch fehlt es an dem belebenden Gegensatz des Klerikalismus,<lb/>
einer ausgesprochen antiklerikalen Partei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_905" next="#ID_906"> Das Menschenmaterial der spanischen Republiken ist ziemlich gleichartig<lb/>
von Mexiko bis Chile, nur tritt in den beiden südlichsten Republiken des<lb/>
Weltteils das Europäertum stärker hervor. Je näher dem Äquator, desto<lb/>
reiner kommt der kreolische Charakter des Staatsgebildes zum Vorschein.<lb/>
Venezuela, Colombia, sodann Zentralamerika sind am wenigsten vom Euro¬<lb/>
päertum, namentlich von angelsächsisch-germanischem Blute beeinflußt. Das<lb/>
portugiesische Brasilien ist nur in der Sprache vom spanischen unterschieden,<lb/>
nicht im Charakter. Nur ist das Negerelement stärker. Brasilien selbst be¬<lb/>
ziffert seine Neger und Mulatten auf 19^ vom Hundert, die Weißen auf<lb/>
37,7 vom Hundert, Mestizen (Kreolen) auf 38 vom Hundert, doch ist es<lb/>
sicher, daß die Zahl der Weißen viel zu hoch angegeben ist. Es ist eine Ehre,<lb/>
Weißer zu sein; wer irgend kann, nennt sich Weißer. Trotz der Gleichartig¬<lb/>
keit des Menschenmaterials und (mit Ausnahme Brasiliens) der Sprache ist<lb/>
es nie zu einer gemeinsamen staatlichen Bildung im spanischen Amerika ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0216] Amerika und die Dauerhaftigkeit seiner politischen Verhältnisse um sich eine Schutztruppe zu bilden. Aber eben die Reichtümer verstärken die Lockung für die Ausgeschlossenen. Die Unzufriedenheit greift um sich, es bilden sich Verschwörungen. Offner Aufruhr oder schleichender Mord be¬ drohen jede Regierung. Leicht kommt eine Revolution, ein Bürgerkrieg zu¬ stande. Siege die andre Partei, der andre Diktaturprätendent, so wird an den allgemeinen Verhältnissen kaum etwas geändert, nur kommt die Gewalttat von der andern Seite. Die europäischen und nordamerikanischen Fremden kommen dabei meist noch leidlich weg, denn man wagt sich nicht an sie heran, weil man weiß, daß hinter ihnen die Macht ihrer heimatlichen Regierungen steht. Aber die eignen Bürger haben keinen fremden Schutz. Die Vereinigten Staaten und Kanada sind ganz überwiegend protestantisch, das übrige Amerika ist noch viel überwiegender katholisch. Das offizielle Direktorium der römisch-katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten gibt (wohl für 1907) 12651944 Angehörige an. also reichlich ein Siebentel. Doch macht sich der konfessionelle Unterschied nicht übermäßig geltend. In den Vereinigten Staaten ist die Trennung von Kirche und Staat vollständig durchgeführt. Die Kirche ist nur Privatangelegenheit ihrer Angehörigen. Der Protestantismus ist vollständig zerklüftet in allerlei Sekten; zahllose Leute unterlassen es, sich einer bestimmten Kirche anzuschließen. Sogar das Taufen ist keine maßgebende Sitte mehr, wenn auch das Nichttaufen noch keineswegs den Bruch mit dem Christentum bedeutet. Die politische Macht der katholischen Kirche ist oft ganz übertrieben geschildert worden. Selbst in der Stadt Newyork, wo sie einst auf Grund des starken Bruchteils irischer Bevölkerung sehr groß war, ist sie sehr in den Hintergrund getreten. In den katholischen Republiken taucht gelegentlich eine klerikale Partei auf, aber nur als lockeres Gebilde. Denn Rom ist weit, zu weit, als daß es eine folgerichtige Politik betreiben könnte. Auch fehlt es an dem belebenden Gegensatz des Klerikalismus, einer ausgesprochen antiklerikalen Partei. Das Menschenmaterial der spanischen Republiken ist ziemlich gleichartig von Mexiko bis Chile, nur tritt in den beiden südlichsten Republiken des Weltteils das Europäertum stärker hervor. Je näher dem Äquator, desto reiner kommt der kreolische Charakter des Staatsgebildes zum Vorschein. Venezuela, Colombia, sodann Zentralamerika sind am wenigsten vom Euro¬ päertum, namentlich von angelsächsisch-germanischem Blute beeinflußt. Das portugiesische Brasilien ist nur in der Sprache vom spanischen unterschieden, nicht im Charakter. Nur ist das Negerelement stärker. Brasilien selbst be¬ ziffert seine Neger und Mulatten auf 19^ vom Hundert, die Weißen auf 37,7 vom Hundert, Mestizen (Kreolen) auf 38 vom Hundert, doch ist es sicher, daß die Zahl der Weißen viel zu hoch angegeben ist. Es ist eine Ehre, Weißer zu sein; wer irgend kann, nennt sich Weißer. Trotz der Gleichartig¬ keit des Menschenmaterials und (mit Ausnahme Brasiliens) der Sprache ist es nie zu einer gemeinsamen staatlichen Bildung im spanischen Amerika ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/216
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/216>, abgerufen am 24.07.2024.