Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Politik in der Schule

der geschichtliche Unterricht, sondern auch alle andern Fächer, in denen über¬
haupt geschichtliche Vorgänge in irgendeiner Form vermittelt werden, vor allem
also auch die Beschäftigung mit hervorragenden Werken der Literatur, seien sie
historischen, mythologischen, patriotischen Inhalts, aus dem Leben fremder
Völker genommen oder aus dem der eignen Nation, oder seien sie freie
Schöpfungen der Phantasie, die unsern Geist durch das künstlerisch-heitre Spiel
der Gedanken anregen und unser Empfindungsleben kräftigen und vor schwäch¬
licher, verschwommner Duselei bewahren. Denn immerfort müssen wir darauf
bedacht sein, unserm Empfindungsleben neuen Stoff, neuen Inhalt zuzuführen;
niemand ist so reich in sich selbst, daß er gar keiner fremden Anregung bedürfte.
Welche bessere Anregung aber kann es geben als die, die uns die ersten Geister
aller Zeiten in ihren besten Werken darbieten? Daran richten wir uns immer
wieder von neuem auf; ganz unerschöpflich ist diese Quelle, und noch keiner hat
es bereut, dort Erquickung gesucht zu haben. Aber ich betone, daß die warme
Empfindung, die natürliche Empfänglichkeit für Großes, Schönes, Edles sich
kräftigen muß, um der tierischen Vorliebe für das Gemeine erfolgreich ent¬
gegentreten zu können. Damit ist wenig gewonnen, daß einer sich vollpfropft
mit Wissen aller Art, nur um des Wissens willen: denn das bloße Wissen
ist tot, wenn es sich nicht mit lebendiger Empfindung vermählt: erst die Ver¬
bindung beider treibt die schönsten Blüten menschlicher Bildung. Und die Schule
ists fast immer, die zuerst den begeisterungsfähigen Boden der jugendlichen Seele
bereit und geschickt macht zur Aufnahme der Schätze menschlichen Denkens und
Fühlens. Und da ist das Beste gerade gut genug; langdauernde Beschäftigung
aber mit diesem Besten verschafft dem Zögling ein Kapital, dessen Zinsen er
später als Bürger zu seinem und seines Vaterlands Nutzen verwenden kann. Das
alles also bildet einen Teil des materiellen Nutzens, den die Schule ihren Zög¬
lingen als Mitgift für das spätere Leben zu bieten vermag. Dazu kommt die För¬
derung, die die verstandesmäßige Auffassung der Welt in formeller Beziehung er¬
fahrt, insofern alle Zweige geistiger Arbeit auf dasselbe Ziel lostreiben, nämlich die
zunächst rein formale Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges im ganzen
Weltgetriebe. Überall ist Gliederung, Einfaches und Zusammengesetztes, Entwick¬
lung, Ausbildung, Abschluß. Aus Einzelheiten setzt sich das Ganze zusammen; die
Einzelheiten sind jede für sich etwas Eignes, Wesentliches, Selbständiges, aber
im Verhältnis zum Ganzen doch immer nur Einzelheiten. So ist es bei den
Sprachen, wo sich aus den einfachsten grammatischen und syntaktischen Grund¬
begriffen das weitläufige und imposante Gebäude der ganzen Sprache, ja der
Sprachwissenschaft überhaupt entwickelt, das finden wir in der Mathematik,
wo die einfachsten Zahlen und Formeln zu den erstaunlichsten und kunstvollsten
Begriffen und Systemen aufwachsen, die mithelfen, die tiefsten Probleme der
Wissenschaft und des Lebens zu begreifen. Und so ist es mit allen den andern
sogenannten "Fächern", sie sprechen, jede in andrer Form, denselben Gedanken
aus, sie predigen jedem, der nicht blindwütig und verständnislos mit scheinen-


Politik in der Schule

der geschichtliche Unterricht, sondern auch alle andern Fächer, in denen über¬
haupt geschichtliche Vorgänge in irgendeiner Form vermittelt werden, vor allem
also auch die Beschäftigung mit hervorragenden Werken der Literatur, seien sie
historischen, mythologischen, patriotischen Inhalts, aus dem Leben fremder
Völker genommen oder aus dem der eignen Nation, oder seien sie freie
Schöpfungen der Phantasie, die unsern Geist durch das künstlerisch-heitre Spiel
der Gedanken anregen und unser Empfindungsleben kräftigen und vor schwäch¬
licher, verschwommner Duselei bewahren. Denn immerfort müssen wir darauf
bedacht sein, unserm Empfindungsleben neuen Stoff, neuen Inhalt zuzuführen;
niemand ist so reich in sich selbst, daß er gar keiner fremden Anregung bedürfte.
Welche bessere Anregung aber kann es geben als die, die uns die ersten Geister
aller Zeiten in ihren besten Werken darbieten? Daran richten wir uns immer
wieder von neuem auf; ganz unerschöpflich ist diese Quelle, und noch keiner hat
es bereut, dort Erquickung gesucht zu haben. Aber ich betone, daß die warme
Empfindung, die natürliche Empfänglichkeit für Großes, Schönes, Edles sich
kräftigen muß, um der tierischen Vorliebe für das Gemeine erfolgreich ent¬
gegentreten zu können. Damit ist wenig gewonnen, daß einer sich vollpfropft
mit Wissen aller Art, nur um des Wissens willen: denn das bloße Wissen
ist tot, wenn es sich nicht mit lebendiger Empfindung vermählt: erst die Ver¬
bindung beider treibt die schönsten Blüten menschlicher Bildung. Und die Schule
ists fast immer, die zuerst den begeisterungsfähigen Boden der jugendlichen Seele
bereit und geschickt macht zur Aufnahme der Schätze menschlichen Denkens und
Fühlens. Und da ist das Beste gerade gut genug; langdauernde Beschäftigung
aber mit diesem Besten verschafft dem Zögling ein Kapital, dessen Zinsen er
später als Bürger zu seinem und seines Vaterlands Nutzen verwenden kann. Das
alles also bildet einen Teil des materiellen Nutzens, den die Schule ihren Zög¬
lingen als Mitgift für das spätere Leben zu bieten vermag. Dazu kommt die För¬
derung, die die verstandesmäßige Auffassung der Welt in formeller Beziehung er¬
fahrt, insofern alle Zweige geistiger Arbeit auf dasselbe Ziel lostreiben, nämlich die
zunächst rein formale Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges im ganzen
Weltgetriebe. Überall ist Gliederung, Einfaches und Zusammengesetztes, Entwick¬
lung, Ausbildung, Abschluß. Aus Einzelheiten setzt sich das Ganze zusammen; die
Einzelheiten sind jede für sich etwas Eignes, Wesentliches, Selbständiges, aber
im Verhältnis zum Ganzen doch immer nur Einzelheiten. So ist es bei den
Sprachen, wo sich aus den einfachsten grammatischen und syntaktischen Grund¬
begriffen das weitläufige und imposante Gebäude der ganzen Sprache, ja der
Sprachwissenschaft überhaupt entwickelt, das finden wir in der Mathematik,
wo die einfachsten Zahlen und Formeln zu den erstaunlichsten und kunstvollsten
Begriffen und Systemen aufwachsen, die mithelfen, die tiefsten Probleme der
Wissenschaft und des Lebens zu begreifen. Und so ist es mit allen den andern
sogenannten „Fächern", sie sprechen, jede in andrer Form, denselben Gedanken
aus, sie predigen jedem, der nicht blindwütig und verständnislos mit scheinen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311873"/>
          <fw type="header" place="top"> Politik in der Schule</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_802" prev="#ID_801" next="#ID_803"> der geschichtliche Unterricht, sondern auch alle andern Fächer, in denen über¬<lb/>
haupt geschichtliche Vorgänge in irgendeiner Form vermittelt werden, vor allem<lb/>
also auch die Beschäftigung mit hervorragenden Werken der Literatur, seien sie<lb/>
historischen, mythologischen, patriotischen Inhalts, aus dem Leben fremder<lb/>
Völker genommen oder aus dem der eignen Nation, oder seien sie freie<lb/>
Schöpfungen der Phantasie, die unsern Geist durch das künstlerisch-heitre Spiel<lb/>
der Gedanken anregen und unser Empfindungsleben kräftigen und vor schwäch¬<lb/>
licher, verschwommner Duselei bewahren. Denn immerfort müssen wir darauf<lb/>
bedacht sein, unserm Empfindungsleben neuen Stoff, neuen Inhalt zuzuführen;<lb/>
niemand ist so reich in sich selbst, daß er gar keiner fremden Anregung bedürfte.<lb/>
Welche bessere Anregung aber kann es geben als die, die uns die ersten Geister<lb/>
aller Zeiten in ihren besten Werken darbieten? Daran richten wir uns immer<lb/>
wieder von neuem auf; ganz unerschöpflich ist diese Quelle, und noch keiner hat<lb/>
es bereut, dort Erquickung gesucht zu haben. Aber ich betone, daß die warme<lb/>
Empfindung, die natürliche Empfänglichkeit für Großes, Schönes, Edles sich<lb/>
kräftigen muß, um der tierischen Vorliebe für das Gemeine erfolgreich ent¬<lb/>
gegentreten zu können. Damit ist wenig gewonnen, daß einer sich vollpfropft<lb/>
mit Wissen aller Art, nur um des Wissens willen: denn das bloße Wissen<lb/>
ist tot, wenn es sich nicht mit lebendiger Empfindung vermählt: erst die Ver¬<lb/>
bindung beider treibt die schönsten Blüten menschlicher Bildung. Und die Schule<lb/>
ists fast immer, die zuerst den begeisterungsfähigen Boden der jugendlichen Seele<lb/>
bereit und geschickt macht zur Aufnahme der Schätze menschlichen Denkens und<lb/>
Fühlens. Und da ist das Beste gerade gut genug; langdauernde Beschäftigung<lb/>
aber mit diesem Besten verschafft dem Zögling ein Kapital, dessen Zinsen er<lb/>
später als Bürger zu seinem und seines Vaterlands Nutzen verwenden kann. Das<lb/>
alles also bildet einen Teil des materiellen Nutzens, den die Schule ihren Zög¬<lb/>
lingen als Mitgift für das spätere Leben zu bieten vermag. Dazu kommt die För¬<lb/>
derung, die die verstandesmäßige Auffassung der Welt in formeller Beziehung er¬<lb/>
fahrt, insofern alle Zweige geistiger Arbeit auf dasselbe Ziel lostreiben, nämlich die<lb/>
zunächst rein formale Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges im ganzen<lb/>
Weltgetriebe. Überall ist Gliederung, Einfaches und Zusammengesetztes, Entwick¬<lb/>
lung, Ausbildung, Abschluß. Aus Einzelheiten setzt sich das Ganze zusammen; die<lb/>
Einzelheiten sind jede für sich etwas Eignes, Wesentliches, Selbständiges, aber<lb/>
im Verhältnis zum Ganzen doch immer nur Einzelheiten. So ist es bei den<lb/>
Sprachen, wo sich aus den einfachsten grammatischen und syntaktischen Grund¬<lb/>
begriffen das weitläufige und imposante Gebäude der ganzen Sprache, ja der<lb/>
Sprachwissenschaft überhaupt entwickelt, das finden wir in der Mathematik,<lb/>
wo die einfachsten Zahlen und Formeln zu den erstaunlichsten und kunstvollsten<lb/>
Begriffen und Systemen aufwachsen, die mithelfen, die tiefsten Probleme der<lb/>
Wissenschaft und des Lebens zu begreifen. Und so ist es mit allen den andern<lb/>
sogenannten &#x201E;Fächern", sie sprechen, jede in andrer Form, denselben Gedanken<lb/>
aus, sie predigen jedem, der nicht blindwütig und verständnislos mit scheinen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0186] Politik in der Schule der geschichtliche Unterricht, sondern auch alle andern Fächer, in denen über¬ haupt geschichtliche Vorgänge in irgendeiner Form vermittelt werden, vor allem also auch die Beschäftigung mit hervorragenden Werken der Literatur, seien sie historischen, mythologischen, patriotischen Inhalts, aus dem Leben fremder Völker genommen oder aus dem der eignen Nation, oder seien sie freie Schöpfungen der Phantasie, die unsern Geist durch das künstlerisch-heitre Spiel der Gedanken anregen und unser Empfindungsleben kräftigen und vor schwäch¬ licher, verschwommner Duselei bewahren. Denn immerfort müssen wir darauf bedacht sein, unserm Empfindungsleben neuen Stoff, neuen Inhalt zuzuführen; niemand ist so reich in sich selbst, daß er gar keiner fremden Anregung bedürfte. Welche bessere Anregung aber kann es geben als die, die uns die ersten Geister aller Zeiten in ihren besten Werken darbieten? Daran richten wir uns immer wieder von neuem auf; ganz unerschöpflich ist diese Quelle, und noch keiner hat es bereut, dort Erquickung gesucht zu haben. Aber ich betone, daß die warme Empfindung, die natürliche Empfänglichkeit für Großes, Schönes, Edles sich kräftigen muß, um der tierischen Vorliebe für das Gemeine erfolgreich ent¬ gegentreten zu können. Damit ist wenig gewonnen, daß einer sich vollpfropft mit Wissen aller Art, nur um des Wissens willen: denn das bloße Wissen ist tot, wenn es sich nicht mit lebendiger Empfindung vermählt: erst die Ver¬ bindung beider treibt die schönsten Blüten menschlicher Bildung. Und die Schule ists fast immer, die zuerst den begeisterungsfähigen Boden der jugendlichen Seele bereit und geschickt macht zur Aufnahme der Schätze menschlichen Denkens und Fühlens. Und da ist das Beste gerade gut genug; langdauernde Beschäftigung aber mit diesem Besten verschafft dem Zögling ein Kapital, dessen Zinsen er später als Bürger zu seinem und seines Vaterlands Nutzen verwenden kann. Das alles also bildet einen Teil des materiellen Nutzens, den die Schule ihren Zög¬ lingen als Mitgift für das spätere Leben zu bieten vermag. Dazu kommt die För¬ derung, die die verstandesmäßige Auffassung der Welt in formeller Beziehung er¬ fahrt, insofern alle Zweige geistiger Arbeit auf dasselbe Ziel lostreiben, nämlich die zunächst rein formale Erkenntnis eines organischen Zusammenhanges im ganzen Weltgetriebe. Überall ist Gliederung, Einfaches und Zusammengesetztes, Entwick¬ lung, Ausbildung, Abschluß. Aus Einzelheiten setzt sich das Ganze zusammen; die Einzelheiten sind jede für sich etwas Eignes, Wesentliches, Selbständiges, aber im Verhältnis zum Ganzen doch immer nur Einzelheiten. So ist es bei den Sprachen, wo sich aus den einfachsten grammatischen und syntaktischen Grund¬ begriffen das weitläufige und imposante Gebäude der ganzen Sprache, ja der Sprachwissenschaft überhaupt entwickelt, das finden wir in der Mathematik, wo die einfachsten Zahlen und Formeln zu den erstaunlichsten und kunstvollsten Begriffen und Systemen aufwachsen, die mithelfen, die tiefsten Probleme der Wissenschaft und des Lebens zu begreifen. Und so ist es mit allen den andern sogenannten „Fächern", sie sprechen, jede in andrer Form, denselben Gedanken aus, sie predigen jedem, der nicht blindwütig und verständnislos mit scheinen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/186
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/186>, abgerufen am 24.07.2024.