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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die neue Baugesinnung

eindringen will. Hat man aber die etwas trockne, spröde Form überwunden,
so wird man durch eine Fülle von klugen und vernünftigen Anregungen be¬
lohnt, die der Verfasser überdies meist schon zu einer Zeit öffentlich verfochten
hat, wo die junge Generation mit ihren ähnlich lautenden Forderungen und
Wünschen noch gar nicht auf den Plan getreten war. Wertvoller noch" weil
geschlossener in sich und um ein bestimmtes Thema gruppiert, scheinen mir
Henricis "Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau" (ebenda, 4 Mark),
ein außerordentlich nützliches Buch gerade heute, wo uns die Ahnung von der
grausamen Unnützlichkeit so mancher großartigen Stadterweiterung mehr und
mehr überkommt. Da aber finden wir nun auch Schultze-Naumburg mit dem
neuen vierten Bande seiner Kulturarbeiten über den Städtebau (ebenda, 5 Mark)
als einen der kräftigsten Rufer im Streite vor. Ja, genau genommen ist er
der erste, der es mit seiner konsequenten Methode der Gegenüberstellung guter
und schlechter baulicher Beispiele verstanden hat, die allgemeine Baugesinnung
der weitesten Kreise zu beeinflussen und gegen die Verunstaltung unsrer Heimat
mobil zu machen. Der Band über die Sünden der Städte ist recht stattlich
geworden, und doch ist er noch klein, wenn man die Fülle der Fragen bedenkt,
die er streift und aufrührt. Straßenführungen und Platzanlagen, in Verbindung
damit die heute so sehr beliebte Freilegung alter Kirchen, die Erbauung neuer
an Stellen, wo sie architektonisch nichts bedeuten; Hausanlagen auf Terrassen.
Treppen und überwölbte Straßendurchgänge, schöne alte Wallpromenaden und
langweilig abgeplattete Wall- und Ringstraßen. Eckbebauungen, "offne" Bau¬
weise in den Vorstädten, ja bis zu den Gartenmauern und Erkeranlagen hin
verbreitet sich Schultze mit unermüdlicher Entdecker- und Netterfreude. Über
den erziehlichen Wert dieses ausgezeichneten Anschauungsmaterials (fast 300 Auf¬
nahmen), über des Verfassers bündige und lebendige Art der Erläuterung sind
wohl alle Freunde unsers Volkstums in der Anerkennung einig. Sie werden
es auch verschmerzen können, daß Schultze in der Bekämpfung der kleinstädtischen
Großstadtkrankheit die positiven Verdienste der Großstadt zu gering bewertet
und für ihre besondern baulichen Entwicklungsschmerzen nicht viel erübrigt. Er
sagt: "Auch die kleinern und kleinen Städte sind wichtig, ja sie werden mit
der Zeit eine immer größere Bedeutung haben, wenn die Großstadtkrankheit
überwunden ist. Und da es bei uns in Deutschland noch gar vieles zu retten
gilt, habe ich manche Betrachtung in das Buch aufgenommen, die für die
eigentliche Großstadt leider nicht mehr nutzen kann."

Wer einen Einblick in die modernen Aufgaben des Städtebaues wünscht,
der greife zu der Monatsschrift "Der Städtebau", die der treffliche Camillo Sitte
vor vier Jahren, kurz vor seinem Tode, gemeinsam mit Theodor Goecke be¬
gründet hat. (Berlin, Wasmuth. 12 Hefte 20 Mark.) Es ist der schönste Be¬
weis für den Fortschritt der neuen Baugesinnung, daß eine solche Zeitschrift
überhaupt gegründet werden und sich bis heute nicht nur halten, sondern, trotz
Sittes Verlust, anscheinend auch gedeihen konnte. Denn es ist ein Fachblatt


Die neue Baugesinnung

eindringen will. Hat man aber die etwas trockne, spröde Form überwunden,
so wird man durch eine Fülle von klugen und vernünftigen Anregungen be¬
lohnt, die der Verfasser überdies meist schon zu einer Zeit öffentlich verfochten
hat, wo die junge Generation mit ihren ähnlich lautenden Forderungen und
Wünschen noch gar nicht auf den Plan getreten war. Wertvoller noch» weil
geschlossener in sich und um ein bestimmtes Thema gruppiert, scheinen mir
Henricis „Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau" (ebenda, 4 Mark),
ein außerordentlich nützliches Buch gerade heute, wo uns die Ahnung von der
grausamen Unnützlichkeit so mancher großartigen Stadterweiterung mehr und
mehr überkommt. Da aber finden wir nun auch Schultze-Naumburg mit dem
neuen vierten Bande seiner Kulturarbeiten über den Städtebau (ebenda, 5 Mark)
als einen der kräftigsten Rufer im Streite vor. Ja, genau genommen ist er
der erste, der es mit seiner konsequenten Methode der Gegenüberstellung guter
und schlechter baulicher Beispiele verstanden hat, die allgemeine Baugesinnung
der weitesten Kreise zu beeinflussen und gegen die Verunstaltung unsrer Heimat
mobil zu machen. Der Band über die Sünden der Städte ist recht stattlich
geworden, und doch ist er noch klein, wenn man die Fülle der Fragen bedenkt,
die er streift und aufrührt. Straßenführungen und Platzanlagen, in Verbindung
damit die heute so sehr beliebte Freilegung alter Kirchen, die Erbauung neuer
an Stellen, wo sie architektonisch nichts bedeuten; Hausanlagen auf Terrassen.
Treppen und überwölbte Straßendurchgänge, schöne alte Wallpromenaden und
langweilig abgeplattete Wall- und Ringstraßen. Eckbebauungen, „offne" Bau¬
weise in den Vorstädten, ja bis zu den Gartenmauern und Erkeranlagen hin
verbreitet sich Schultze mit unermüdlicher Entdecker- und Netterfreude. Über
den erziehlichen Wert dieses ausgezeichneten Anschauungsmaterials (fast 300 Auf¬
nahmen), über des Verfassers bündige und lebendige Art der Erläuterung sind
wohl alle Freunde unsers Volkstums in der Anerkennung einig. Sie werden
es auch verschmerzen können, daß Schultze in der Bekämpfung der kleinstädtischen
Großstadtkrankheit die positiven Verdienste der Großstadt zu gering bewertet
und für ihre besondern baulichen Entwicklungsschmerzen nicht viel erübrigt. Er
sagt: „Auch die kleinern und kleinen Städte sind wichtig, ja sie werden mit
der Zeit eine immer größere Bedeutung haben, wenn die Großstadtkrankheit
überwunden ist. Und da es bei uns in Deutschland noch gar vieles zu retten
gilt, habe ich manche Betrachtung in das Buch aufgenommen, die für die
eigentliche Großstadt leider nicht mehr nutzen kann."

Wer einen Einblick in die modernen Aufgaben des Städtebaues wünscht,
der greife zu der Monatsschrift „Der Städtebau", die der treffliche Camillo Sitte
vor vier Jahren, kurz vor seinem Tode, gemeinsam mit Theodor Goecke be¬
gründet hat. (Berlin, Wasmuth. 12 Hefte 20 Mark.) Es ist der schönste Be¬
weis für den Fortschritt der neuen Baugesinnung, daß eine solche Zeitschrift
überhaupt gegründet werden und sich bis heute nicht nur halten, sondern, trotz
Sittes Verlust, anscheinend auch gedeihen konnte. Denn es ist ein Fachblatt


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[0147] Die neue Baugesinnung eindringen will. Hat man aber die etwas trockne, spröde Form überwunden, so wird man durch eine Fülle von klugen und vernünftigen Anregungen be¬ lohnt, die der Verfasser überdies meist schon zu einer Zeit öffentlich verfochten hat, wo die junge Generation mit ihren ähnlich lautenden Forderungen und Wünschen noch gar nicht auf den Plan getreten war. Wertvoller noch» weil geschlossener in sich und um ein bestimmtes Thema gruppiert, scheinen mir Henricis „Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau" (ebenda, 4 Mark), ein außerordentlich nützliches Buch gerade heute, wo uns die Ahnung von der grausamen Unnützlichkeit so mancher großartigen Stadterweiterung mehr und mehr überkommt. Da aber finden wir nun auch Schultze-Naumburg mit dem neuen vierten Bande seiner Kulturarbeiten über den Städtebau (ebenda, 5 Mark) als einen der kräftigsten Rufer im Streite vor. Ja, genau genommen ist er der erste, der es mit seiner konsequenten Methode der Gegenüberstellung guter und schlechter baulicher Beispiele verstanden hat, die allgemeine Baugesinnung der weitesten Kreise zu beeinflussen und gegen die Verunstaltung unsrer Heimat mobil zu machen. Der Band über die Sünden der Städte ist recht stattlich geworden, und doch ist er noch klein, wenn man die Fülle der Fragen bedenkt, die er streift und aufrührt. Straßenführungen und Platzanlagen, in Verbindung damit die heute so sehr beliebte Freilegung alter Kirchen, die Erbauung neuer an Stellen, wo sie architektonisch nichts bedeuten; Hausanlagen auf Terrassen. Treppen und überwölbte Straßendurchgänge, schöne alte Wallpromenaden und langweilig abgeplattete Wall- und Ringstraßen. Eckbebauungen, „offne" Bau¬ weise in den Vorstädten, ja bis zu den Gartenmauern und Erkeranlagen hin verbreitet sich Schultze mit unermüdlicher Entdecker- und Netterfreude. Über den erziehlichen Wert dieses ausgezeichneten Anschauungsmaterials (fast 300 Auf¬ nahmen), über des Verfassers bündige und lebendige Art der Erläuterung sind wohl alle Freunde unsers Volkstums in der Anerkennung einig. Sie werden es auch verschmerzen können, daß Schultze in der Bekämpfung der kleinstädtischen Großstadtkrankheit die positiven Verdienste der Großstadt zu gering bewertet und für ihre besondern baulichen Entwicklungsschmerzen nicht viel erübrigt. Er sagt: „Auch die kleinern und kleinen Städte sind wichtig, ja sie werden mit der Zeit eine immer größere Bedeutung haben, wenn die Großstadtkrankheit überwunden ist. Und da es bei uns in Deutschland noch gar vieles zu retten gilt, habe ich manche Betrachtung in das Buch aufgenommen, die für die eigentliche Großstadt leider nicht mehr nutzen kann." Wer einen Einblick in die modernen Aufgaben des Städtebaues wünscht, der greife zu der Monatsschrift „Der Städtebau", die der treffliche Camillo Sitte vor vier Jahren, kurz vor seinem Tode, gemeinsam mit Theodor Goecke be¬ gründet hat. (Berlin, Wasmuth. 12 Hefte 20 Mark.) Es ist der schönste Be¬ weis für den Fortschritt der neuen Baugesinnung, daß eine solche Zeitschrift überhaupt gegründet werden und sich bis heute nicht nur halten, sondern, trotz Sittes Verlust, anscheinend auch gedeihen konnte. Denn es ist ein Fachblatt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/147>, abgerufen am 24.07.2024.