Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.T>er preußische Staat und die polnische Frage bedingungslosen Übergangs in die preußische Interessensphäre. Geschah das, Leider geschah in Wirklichkeit das Gegenteil. Die preußischen Bevoll¬ Für die Polen wurden die "Wiener Verträge" von 1815 gewissermaßen Zur Zeit der alten polnischen Republik hat der herrschende Adel mit un¬ T>er preußische Staat und die polnische Frage bedingungslosen Übergangs in die preußische Interessensphäre. Geschah das, Leider geschah in Wirklichkeit das Gegenteil. Die preußischen Bevoll¬ Für die Polen wurden die „Wiener Verträge" von 1815 gewissermaßen Zur Zeit der alten polnischen Republik hat der herrschende Adel mit un¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311146"/> <fw type="header" place="top"> T>er preußische Staat und die polnische Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_259" prev="#ID_258"> bedingungslosen Übergangs in die preußische Interessensphäre. Geschah das,<lb/> dann schied Preußen, obwohl es dasselbe Gebiet erhielt, das es heute von<lb/> dem ehemaligen Königreich Polen besitzt, offiziell aus der Reihe der „Teilungs¬<lb/> mächte" aus und hatte den Polen gegenüber völlig freie Hand.</p><lb/> <p xml:id="ID_260"> Leider geschah in Wirklichkeit das Gegenteil. Die preußischen Bevoll¬<lb/> mächtigten, die sich von Osterreich irreführen ließen und von dem stärksten<lb/> Mißtrauen gegen Kaiser Alexander beseelt waren, hielten die polnischen Ansprüche<lb/> bis aufs äußerste aufrecht, und erst im letzten Augenblick fanden sie so viel<lb/> Anschluß an Rußland, daß sie wenigstens die Provinz Posen noch für Preußen<lb/> retten konnten. So hatten sie in der polnischen Frage nur das Notwendigste<lb/> durchgesetzt, mußten es aber dulden, daß Preußen in die Bestimmungen hinein¬<lb/> gezogen wurde, die in der polnischen Frage den Teilungsmüchten auferlegt<lb/> wurden. Diese Bestimmungen waren freilich so nichtssagend und nebelhaft, daß<lb/> sie keinen der beteiligten Staaten in Wahrheit hinderten, mit den Polen zu<lb/> machen, was er wollte. Aber trotz alledem war es für die Auffassung der<lb/> staatsrechtlichen Grundlagen dieses Verhältnisses nicht gleichgiltig, wie die<lb/> Schlußakte des Wiener Kongresses die Rechtslage formuliert hatte. Und da<lb/> wurde es bedeutungsvoll, daß das polnische Volk, wenn auch seine politische<lb/> Führung in die Hand von drei fremden Regierungen gelegt wurde, doch durch<lb/> einen internationalen Rechtsakt als ein fortbestehendes Ganzes, als eine „politische<lb/> Persönlichkeit" — wie man nach Analogie des Begriffs „juristische Persönlich¬<lb/> keit" sagen möchte — anerkannt wurde. Das war das Kuckucksei, das die West¬<lb/> mächte oder vielmehr Talleyrand als Inspirator der französischen Politik — Lord<lb/> Castlereagh segelte in seinem Kielwasser — den Ostmächten in das Nest ge¬<lb/> legt hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_261"> Für die Polen wurden die „Wiener Verträge" von 1815 gewissermaßen<lb/> die maZna odarta, ihrer nationalen Bestrebungen. Sie haben keinen Augenblick<lb/> das Prinzip verleugnet, daß ihnen durch diese Abmachungen die Fortführung<lb/> ihrer nationalen Existenz gesichert sei. Danach haben sie ihr ganzes Handeln<lb/> eingerichtet, sowohl in Österreich und Rußland wie auch in Preußen. Niemals<lb/> ist es ihnen eingefallen, daß sie sich mit der Duldung ihrer Sprache und Sitte<lb/> auf Grund der Rechte, die ihnen als preußische, russische oder österreichische<lb/> Untertanen zustanden, begnügen können. Die Hauptsache war ihnen, daß das<lb/> Polnische Volk fortfuhr ein geschichtliches Ganzes zu bilden, das die Berechtigung<lb/> dazu aus seiner nationalen Geschichte entnahm. Wenn noch immer von einigen<lb/> leicht zu täuschenden oder schlecht orientierten Deutschen der Wahn aufrecht<lb/> erhalten wird, diese Anschauung sei nur die einiger Hetzer oder Träumer unter<lb/> den Polen, so kann das nicht entschieden genug zurückgewiesen werden. Daher<lb/> einige Worte über Art und Umfang der sogenannten „Loyalität" der Polen.</p><lb/> <p xml:id="ID_262" next="#ID_263"> Zur Zeit der alten polnischen Republik hat der herrschende Adel mit un¬<lb/> beschränkter Willkür dem völlig rechtlosen Volke gegenüber gestanden. Er war<lb/> bestrebt, die Massen in Unwissenheit und Trägheit niederzuhalten und ihnen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
T>er preußische Staat und die polnische Frage
bedingungslosen Übergangs in die preußische Interessensphäre. Geschah das,
dann schied Preußen, obwohl es dasselbe Gebiet erhielt, das es heute von
dem ehemaligen Königreich Polen besitzt, offiziell aus der Reihe der „Teilungs¬
mächte" aus und hatte den Polen gegenüber völlig freie Hand.
Leider geschah in Wirklichkeit das Gegenteil. Die preußischen Bevoll¬
mächtigten, die sich von Osterreich irreführen ließen und von dem stärksten
Mißtrauen gegen Kaiser Alexander beseelt waren, hielten die polnischen Ansprüche
bis aufs äußerste aufrecht, und erst im letzten Augenblick fanden sie so viel
Anschluß an Rußland, daß sie wenigstens die Provinz Posen noch für Preußen
retten konnten. So hatten sie in der polnischen Frage nur das Notwendigste
durchgesetzt, mußten es aber dulden, daß Preußen in die Bestimmungen hinein¬
gezogen wurde, die in der polnischen Frage den Teilungsmüchten auferlegt
wurden. Diese Bestimmungen waren freilich so nichtssagend und nebelhaft, daß
sie keinen der beteiligten Staaten in Wahrheit hinderten, mit den Polen zu
machen, was er wollte. Aber trotz alledem war es für die Auffassung der
staatsrechtlichen Grundlagen dieses Verhältnisses nicht gleichgiltig, wie die
Schlußakte des Wiener Kongresses die Rechtslage formuliert hatte. Und da
wurde es bedeutungsvoll, daß das polnische Volk, wenn auch seine politische
Führung in die Hand von drei fremden Regierungen gelegt wurde, doch durch
einen internationalen Rechtsakt als ein fortbestehendes Ganzes, als eine „politische
Persönlichkeit" — wie man nach Analogie des Begriffs „juristische Persönlich¬
keit" sagen möchte — anerkannt wurde. Das war das Kuckucksei, das die West¬
mächte oder vielmehr Talleyrand als Inspirator der französischen Politik — Lord
Castlereagh segelte in seinem Kielwasser — den Ostmächten in das Nest ge¬
legt hatte.
Für die Polen wurden die „Wiener Verträge" von 1815 gewissermaßen
die maZna odarta, ihrer nationalen Bestrebungen. Sie haben keinen Augenblick
das Prinzip verleugnet, daß ihnen durch diese Abmachungen die Fortführung
ihrer nationalen Existenz gesichert sei. Danach haben sie ihr ganzes Handeln
eingerichtet, sowohl in Österreich und Rußland wie auch in Preußen. Niemals
ist es ihnen eingefallen, daß sie sich mit der Duldung ihrer Sprache und Sitte
auf Grund der Rechte, die ihnen als preußische, russische oder österreichische
Untertanen zustanden, begnügen können. Die Hauptsache war ihnen, daß das
Polnische Volk fortfuhr ein geschichtliches Ganzes zu bilden, das die Berechtigung
dazu aus seiner nationalen Geschichte entnahm. Wenn noch immer von einigen
leicht zu täuschenden oder schlecht orientierten Deutschen der Wahn aufrecht
erhalten wird, diese Anschauung sei nur die einiger Hetzer oder Träumer unter
den Polen, so kann das nicht entschieden genug zurückgewiesen werden. Daher
einige Worte über Art und Umfang der sogenannten „Loyalität" der Polen.
Zur Zeit der alten polnischen Republik hat der herrschende Adel mit un¬
beschränkter Willkür dem völlig rechtlosen Volke gegenüber gestanden. Er war
bestrebt, die Massen in Unwissenheit und Trägheit niederzuhalten und ihnen
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |