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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gibraltar

hat, muß außerhalb der Mauern kampieren. Um halb zehn Uhr dröhnt die
zweite Kanone, und da darf nur noch die Nasenspitze aus den Daumen Heraus¬
gucken. Selbst tagsüber kann man nicht frei umherschleudern, grimmige Konstabler
und Schildwachen bewachen jeden Schritt, den man unternimmt, an den lächer¬
lichsten Stellen werden militärische Zutrittskarten abgefordert, und die Adresse
einer Wäscherin, die man in sein Notizbuch schreibt, gilt den wachsamen Krieger¬
augen als ein Grundriß der Festung. Wir, die wir aus dem freien Andalusien
kommen, wo Mangel an Pedanterie und an Uniformierungswut einem das
Leben und Atmen so leicht machen, können fast nicht Luft schöpfen vor lauter
dummer mechanischer Gesetzeshandhabung, die zunächst auf Kriegszustand berechnet
scheint. Der Aufenthalt innerhalb der Mauern wirkt noch aufreizender durch
das unaufhörliche Patrouillieren verschiedner Waffengattungen, straßenauf,
straßcnab, die aufmarschieren, schwenken und weitermarschieren -- alles nach
den unfaßlichen Gesetzen eines höhern Idiotismus. Längs der Fußsteige und
auf den Balkons stehn sonst kaltblütige Briten aufgepflanzt, die weder vor der
Roheit eines Stiergefechts noch angesichts der Schönheit der Alhambra eine
Miene verziehn, und saugen mit einem delirischen Ausdruck diesen Strom von
Trommelwirbel, Kommandorufen und wechselnden Beinen in sich ein.

Auf dem Felsen leben wohl 30000 Menschen. Von diesen sind 6000 eng¬
lische Söldner und Offiziere, hierzu sind die englischen Beamten und viele
englische Privatfamilien zu zählen. Die Hauptmasse jedoch -- die ganze niedere
Bevölkerung und der größte Teil der Mittelklasse -- ist ebenso südländisch wie
das Klima. Indische, jüdische, türkische und spanische Geschäftsläden lösen
einander ab, sobald man von der Hauptstraße abbiegt, hier und da nur unter¬
brochen von einer englischen Seemannskneipe, einem deutschen oder skandinavischen
Schiffshändel. Auf dem Marktplatze begegnen sich Toga, Judenkaftan und der
weiße Burnus des Arabers, man radebrecht Englisch in den verschiedensten
Accenten, man flucht und prellt in den mannigfaltigsten Sprachen. Kukis,
Neger und spanische und italienische Tagelöhner verrichten die grobe Arbeit
in und bei den Häfen. Jede Rasse betet an ihren eignen Feiertagen, die Hindus
schließen ihre Läden Freitags, die Juden Sonnabends. Es fehlt auch nicht an
morgenländisch flachen Dächern, an andalusischen Balkonen oder maurischen
Säulenhöfen mit Springbrunnen; die Rücken der Esel tragen alle herrlichen
Früchte des Südens durch die Straßen, Klima und Vegetation sind tropisch.

Aber die orientalische sorglose Ruhe, der Gleichmut und behagliche
Schlendrian, all das Freie und Untätige und Tierisch-Leichtlebige, das eine
starke Seite des südländischen Volkscharakters bildet, ist fort. Und ebenso die
Grandezza, das gedankenlos Freigebige, die uneigennützige Aufopferung, die
stolze Verachtung aller Krämermoral und deren blonder Handhaber. Keiner
steigt hier ab und bietet einem müden Wandrer seinen Esel an, oder vielmehr,
sie tun es alle -- für Geld. Fragt man einen von ihnen nach dem Wege,
so nennt er zuerst einen Preis und geht dann mit.


Gibraltar

hat, muß außerhalb der Mauern kampieren. Um halb zehn Uhr dröhnt die
zweite Kanone, und da darf nur noch die Nasenspitze aus den Daumen Heraus¬
gucken. Selbst tagsüber kann man nicht frei umherschleudern, grimmige Konstabler
und Schildwachen bewachen jeden Schritt, den man unternimmt, an den lächer¬
lichsten Stellen werden militärische Zutrittskarten abgefordert, und die Adresse
einer Wäscherin, die man in sein Notizbuch schreibt, gilt den wachsamen Krieger¬
augen als ein Grundriß der Festung. Wir, die wir aus dem freien Andalusien
kommen, wo Mangel an Pedanterie und an Uniformierungswut einem das
Leben und Atmen so leicht machen, können fast nicht Luft schöpfen vor lauter
dummer mechanischer Gesetzeshandhabung, die zunächst auf Kriegszustand berechnet
scheint. Der Aufenthalt innerhalb der Mauern wirkt noch aufreizender durch
das unaufhörliche Patrouillieren verschiedner Waffengattungen, straßenauf,
straßcnab, die aufmarschieren, schwenken und weitermarschieren — alles nach
den unfaßlichen Gesetzen eines höhern Idiotismus. Längs der Fußsteige und
auf den Balkons stehn sonst kaltblütige Briten aufgepflanzt, die weder vor der
Roheit eines Stiergefechts noch angesichts der Schönheit der Alhambra eine
Miene verziehn, und saugen mit einem delirischen Ausdruck diesen Strom von
Trommelwirbel, Kommandorufen und wechselnden Beinen in sich ein.

Auf dem Felsen leben wohl 30000 Menschen. Von diesen sind 6000 eng¬
lische Söldner und Offiziere, hierzu sind die englischen Beamten und viele
englische Privatfamilien zu zählen. Die Hauptmasse jedoch — die ganze niedere
Bevölkerung und der größte Teil der Mittelklasse — ist ebenso südländisch wie
das Klima. Indische, jüdische, türkische und spanische Geschäftsläden lösen
einander ab, sobald man von der Hauptstraße abbiegt, hier und da nur unter¬
brochen von einer englischen Seemannskneipe, einem deutschen oder skandinavischen
Schiffshändel. Auf dem Marktplatze begegnen sich Toga, Judenkaftan und der
weiße Burnus des Arabers, man radebrecht Englisch in den verschiedensten
Accenten, man flucht und prellt in den mannigfaltigsten Sprachen. Kukis,
Neger und spanische und italienische Tagelöhner verrichten die grobe Arbeit
in und bei den Häfen. Jede Rasse betet an ihren eignen Feiertagen, die Hindus
schließen ihre Läden Freitags, die Juden Sonnabends. Es fehlt auch nicht an
morgenländisch flachen Dächern, an andalusischen Balkonen oder maurischen
Säulenhöfen mit Springbrunnen; die Rücken der Esel tragen alle herrlichen
Früchte des Südens durch die Straßen, Klima und Vegetation sind tropisch.

Aber die orientalische sorglose Ruhe, der Gleichmut und behagliche
Schlendrian, all das Freie und Untätige und Tierisch-Leichtlebige, das eine
starke Seite des südländischen Volkscharakters bildet, ist fort. Und ebenso die
Grandezza, das gedankenlos Freigebige, die uneigennützige Aufopferung, die
stolze Verachtung aller Krämermoral und deren blonder Handhaber. Keiner
steigt hier ab und bietet einem müden Wandrer seinen Esel an, oder vielmehr,
sie tun es alle — für Geld. Fragt man einen von ihnen nach dem Wege,
so nennt er zuerst einen Preis und geht dann mit.


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[0630] Gibraltar hat, muß außerhalb der Mauern kampieren. Um halb zehn Uhr dröhnt die zweite Kanone, und da darf nur noch die Nasenspitze aus den Daumen Heraus¬ gucken. Selbst tagsüber kann man nicht frei umherschleudern, grimmige Konstabler und Schildwachen bewachen jeden Schritt, den man unternimmt, an den lächer¬ lichsten Stellen werden militärische Zutrittskarten abgefordert, und die Adresse einer Wäscherin, die man in sein Notizbuch schreibt, gilt den wachsamen Krieger¬ augen als ein Grundriß der Festung. Wir, die wir aus dem freien Andalusien kommen, wo Mangel an Pedanterie und an Uniformierungswut einem das Leben und Atmen so leicht machen, können fast nicht Luft schöpfen vor lauter dummer mechanischer Gesetzeshandhabung, die zunächst auf Kriegszustand berechnet scheint. Der Aufenthalt innerhalb der Mauern wirkt noch aufreizender durch das unaufhörliche Patrouillieren verschiedner Waffengattungen, straßenauf, straßcnab, die aufmarschieren, schwenken und weitermarschieren — alles nach den unfaßlichen Gesetzen eines höhern Idiotismus. Längs der Fußsteige und auf den Balkons stehn sonst kaltblütige Briten aufgepflanzt, die weder vor der Roheit eines Stiergefechts noch angesichts der Schönheit der Alhambra eine Miene verziehn, und saugen mit einem delirischen Ausdruck diesen Strom von Trommelwirbel, Kommandorufen und wechselnden Beinen in sich ein. Auf dem Felsen leben wohl 30000 Menschen. Von diesen sind 6000 eng¬ lische Söldner und Offiziere, hierzu sind die englischen Beamten und viele englische Privatfamilien zu zählen. Die Hauptmasse jedoch — die ganze niedere Bevölkerung und der größte Teil der Mittelklasse — ist ebenso südländisch wie das Klima. Indische, jüdische, türkische und spanische Geschäftsläden lösen einander ab, sobald man von der Hauptstraße abbiegt, hier und da nur unter¬ brochen von einer englischen Seemannskneipe, einem deutschen oder skandinavischen Schiffshändel. Auf dem Marktplatze begegnen sich Toga, Judenkaftan und der weiße Burnus des Arabers, man radebrecht Englisch in den verschiedensten Accenten, man flucht und prellt in den mannigfaltigsten Sprachen. Kukis, Neger und spanische und italienische Tagelöhner verrichten die grobe Arbeit in und bei den Häfen. Jede Rasse betet an ihren eignen Feiertagen, die Hindus schließen ihre Läden Freitags, die Juden Sonnabends. Es fehlt auch nicht an morgenländisch flachen Dächern, an andalusischen Balkonen oder maurischen Säulenhöfen mit Springbrunnen; die Rücken der Esel tragen alle herrlichen Früchte des Südens durch die Straßen, Klima und Vegetation sind tropisch. Aber die orientalische sorglose Ruhe, der Gleichmut und behagliche Schlendrian, all das Freie und Untätige und Tierisch-Leichtlebige, das eine starke Seite des südländischen Volkscharakters bildet, ist fort. Und ebenso die Grandezza, das gedankenlos Freigebige, die uneigennützige Aufopferung, die stolze Verachtung aller Krämermoral und deren blonder Handhaber. Keiner steigt hier ab und bietet einem müden Wandrer seinen Esel an, oder vielmehr, sie tun es alle — für Geld. Fragt man einen von ihnen nach dem Wege, so nennt er zuerst einen Preis und geht dann mit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/630>, abgerufen am 24.07.2024.