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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Gibraltar

und spinnen auf ihrer Holzspindel. draußen in der Sonne auf den Bänken der
Alameda sitzen die Männer mit geschlossenen Augen, in ihre langen Mäntel
gehüllt. Sie haben große Gesichter, eine wuchtige offne Stirn, weichen schwarzen
Vollbart und gleichmäßigen nußbrauner Teint; die Frauen zeigen die großen
runden Züge der Odalisken und eine Farbe wie roher Rahm.

Nur zwanzig Minuten Fahrt über die Bucht, und die Szenerie wird eine
andre. Schon auf halbem Wege verliert das Wasser seine tiefblaue Farbe und
bedeckt sich mit einem Häutchen Kohlenstaub, das in der Sonne grau und
trocken aufglänzt. Dampf- und Segelboote kreuzen einander in allen Richtungen
und schneiden blanke Furchen in die Staubdecke, die, ehe sie sich schließt, ein
Stück Meeresgrund auf viele Fuß Tiefe entblößt: gelben Sand, violette
Schlacken, polypenartige Klippenformationen.

Die große Bucht, die sich nur gegen Süden öffnet, bildet einen natür¬
lichen Hafen. Wir gleiten in einen Wald von Masten und Dampfschiffschloten,
die Flaggen aller Nationen klatschen in der Luft, dickbäuchige Schulen schaukeln
gemächlich auf dem Wasser, während man ihren schwarzen Inhalt entleert.
Ungeheure Eisenkolosse kommen herein, schlucken vier bis fünf gewöhnliche
Schiffsladungen des schwarzen Futters in ebenso vielen Stunden und eilen
wieder davon, nach dem Orient oder nach Amerika. Kohlen und Kohlen aller¬
orten! Die Luft klingt von Eisen und Stahl: von Ankern, die ausgeworfen
und gelichtet werden, von arbeitenden Dampfspillen, von den Riesenkrcmen der
Prasum, die sich gleich ungeheuern schwarzen Schwänen zu den Seiten des
Schiffes wiegen, ihren Stahlkopf auf dem langen krummen Halse behutsam in
dessen Ladung senken und dann in einer langen gleitenden Schwenkung wieder
aufrichten; draußen oberhalb der Prahme öffnen sie den Stahlschnabel und
lassen einen Mundvoll Kohle fallen -- so groß wie eine Wagenladung. Und
wieder und wieder! Kurze Pfiffe und langgezognes Brüllen wechseln, und ein
Paketdampfer stößt in seine Sirene -- drei kurze Raubvogelschreie, die einen
erschreckt emporfahren lassen und lange Zeit heulend von Küste zu Küste irren.

Gibraltar ist eine Festung, die einzige uneinnehmbare in der ganzen Welt,
behauptet England. Das Vertrauen in deren Uneinnehmbarkeit geht jedoch
Nicht weiter, als daß man dem Fremden bei seiner Landung sein Taschenmesser
abfordert und ihn mit der Ermahnung, vor Sonnenuntergang außerhalb eng¬
lischen Gebiets zu sein, durch das Tor schiebt. Diese Frist kann allerdings auf
Fürsprache des Konsuls oder eines angesehenen Bürgers bis auf zehn Tage
verlängert werden. Die Stadt ist ein Freihandelsplatz, wird aber ausschließlich
nach militärischen Regeln regiert, die an Strenge die eines Gefängnisses über¬
treffen. Bei Sonnenuntergang (jetzt im Januar etwa fünf Uhr nachmittags)
wird eine Kanone abgefeuert, und fünf Minuten danach schließt man die
Stadttore; die Stadt ist nun bis nächsten Morgen sieben Uhr vollständig von
der Verbindung mit dem Meere und der Außenwelt abgeschnitten, und der
Bürger, der seine auswärtigen Geschäfte nicht bis Sonnenuntergang beendet


Grenzboten I 1908
Gibraltar

und spinnen auf ihrer Holzspindel. draußen in der Sonne auf den Bänken der
Alameda sitzen die Männer mit geschlossenen Augen, in ihre langen Mäntel
gehüllt. Sie haben große Gesichter, eine wuchtige offne Stirn, weichen schwarzen
Vollbart und gleichmäßigen nußbrauner Teint; die Frauen zeigen die großen
runden Züge der Odalisken und eine Farbe wie roher Rahm.

Nur zwanzig Minuten Fahrt über die Bucht, und die Szenerie wird eine
andre. Schon auf halbem Wege verliert das Wasser seine tiefblaue Farbe und
bedeckt sich mit einem Häutchen Kohlenstaub, das in der Sonne grau und
trocken aufglänzt. Dampf- und Segelboote kreuzen einander in allen Richtungen
und schneiden blanke Furchen in die Staubdecke, die, ehe sie sich schließt, ein
Stück Meeresgrund auf viele Fuß Tiefe entblößt: gelben Sand, violette
Schlacken, polypenartige Klippenformationen.

Die große Bucht, die sich nur gegen Süden öffnet, bildet einen natür¬
lichen Hafen. Wir gleiten in einen Wald von Masten und Dampfschiffschloten,
die Flaggen aller Nationen klatschen in der Luft, dickbäuchige Schulen schaukeln
gemächlich auf dem Wasser, während man ihren schwarzen Inhalt entleert.
Ungeheure Eisenkolosse kommen herein, schlucken vier bis fünf gewöhnliche
Schiffsladungen des schwarzen Futters in ebenso vielen Stunden und eilen
wieder davon, nach dem Orient oder nach Amerika. Kohlen und Kohlen aller¬
orten! Die Luft klingt von Eisen und Stahl: von Ankern, die ausgeworfen
und gelichtet werden, von arbeitenden Dampfspillen, von den Riesenkrcmen der
Prasum, die sich gleich ungeheuern schwarzen Schwänen zu den Seiten des
Schiffes wiegen, ihren Stahlkopf auf dem langen krummen Halse behutsam in
dessen Ladung senken und dann in einer langen gleitenden Schwenkung wieder
aufrichten; draußen oberhalb der Prahme öffnen sie den Stahlschnabel und
lassen einen Mundvoll Kohle fallen — so groß wie eine Wagenladung. Und
wieder und wieder! Kurze Pfiffe und langgezognes Brüllen wechseln, und ein
Paketdampfer stößt in seine Sirene — drei kurze Raubvogelschreie, die einen
erschreckt emporfahren lassen und lange Zeit heulend von Küste zu Küste irren.

Gibraltar ist eine Festung, die einzige uneinnehmbare in der ganzen Welt,
behauptet England. Das Vertrauen in deren Uneinnehmbarkeit geht jedoch
Nicht weiter, als daß man dem Fremden bei seiner Landung sein Taschenmesser
abfordert und ihn mit der Ermahnung, vor Sonnenuntergang außerhalb eng¬
lischen Gebiets zu sein, durch das Tor schiebt. Diese Frist kann allerdings auf
Fürsprache des Konsuls oder eines angesehenen Bürgers bis auf zehn Tage
verlängert werden. Die Stadt ist ein Freihandelsplatz, wird aber ausschließlich
nach militärischen Regeln regiert, die an Strenge die eines Gefängnisses über¬
treffen. Bei Sonnenuntergang (jetzt im Januar etwa fünf Uhr nachmittags)
wird eine Kanone abgefeuert, und fünf Minuten danach schließt man die
Stadttore; die Stadt ist nun bis nächsten Morgen sieben Uhr vollständig von
der Verbindung mit dem Meere und der Außenwelt abgeschnitten, und der
Bürger, der seine auswärtigen Geschäfte nicht bis Sonnenuntergang beendet


Grenzboten I 1908
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[0629] Gibraltar und spinnen auf ihrer Holzspindel. draußen in der Sonne auf den Bänken der Alameda sitzen die Männer mit geschlossenen Augen, in ihre langen Mäntel gehüllt. Sie haben große Gesichter, eine wuchtige offne Stirn, weichen schwarzen Vollbart und gleichmäßigen nußbrauner Teint; die Frauen zeigen die großen runden Züge der Odalisken und eine Farbe wie roher Rahm. Nur zwanzig Minuten Fahrt über die Bucht, und die Szenerie wird eine andre. Schon auf halbem Wege verliert das Wasser seine tiefblaue Farbe und bedeckt sich mit einem Häutchen Kohlenstaub, das in der Sonne grau und trocken aufglänzt. Dampf- und Segelboote kreuzen einander in allen Richtungen und schneiden blanke Furchen in die Staubdecke, die, ehe sie sich schließt, ein Stück Meeresgrund auf viele Fuß Tiefe entblößt: gelben Sand, violette Schlacken, polypenartige Klippenformationen. Die große Bucht, die sich nur gegen Süden öffnet, bildet einen natür¬ lichen Hafen. Wir gleiten in einen Wald von Masten und Dampfschiffschloten, die Flaggen aller Nationen klatschen in der Luft, dickbäuchige Schulen schaukeln gemächlich auf dem Wasser, während man ihren schwarzen Inhalt entleert. Ungeheure Eisenkolosse kommen herein, schlucken vier bis fünf gewöhnliche Schiffsladungen des schwarzen Futters in ebenso vielen Stunden und eilen wieder davon, nach dem Orient oder nach Amerika. Kohlen und Kohlen aller¬ orten! Die Luft klingt von Eisen und Stahl: von Ankern, die ausgeworfen und gelichtet werden, von arbeitenden Dampfspillen, von den Riesenkrcmen der Prasum, die sich gleich ungeheuern schwarzen Schwänen zu den Seiten des Schiffes wiegen, ihren Stahlkopf auf dem langen krummen Halse behutsam in dessen Ladung senken und dann in einer langen gleitenden Schwenkung wieder aufrichten; draußen oberhalb der Prahme öffnen sie den Stahlschnabel und lassen einen Mundvoll Kohle fallen — so groß wie eine Wagenladung. Und wieder und wieder! Kurze Pfiffe und langgezognes Brüllen wechseln, und ein Paketdampfer stößt in seine Sirene — drei kurze Raubvogelschreie, die einen erschreckt emporfahren lassen und lange Zeit heulend von Küste zu Küste irren. Gibraltar ist eine Festung, die einzige uneinnehmbare in der ganzen Welt, behauptet England. Das Vertrauen in deren Uneinnehmbarkeit geht jedoch Nicht weiter, als daß man dem Fremden bei seiner Landung sein Taschenmesser abfordert und ihn mit der Ermahnung, vor Sonnenuntergang außerhalb eng¬ lischen Gebiets zu sein, durch das Tor schiebt. Diese Frist kann allerdings auf Fürsprache des Konsuls oder eines angesehenen Bürgers bis auf zehn Tage verlängert werden. Die Stadt ist ein Freihandelsplatz, wird aber ausschließlich nach militärischen Regeln regiert, die an Strenge die eines Gefängnisses über¬ treffen. Bei Sonnenuntergang (jetzt im Januar etwa fünf Uhr nachmittags) wird eine Kanone abgefeuert, und fünf Minuten danach schließt man die Stadttore; die Stadt ist nun bis nächsten Morgen sieben Uhr vollständig von der Verbindung mit dem Meere und der Außenwelt abgeschnitten, und der Bürger, der seine auswärtigen Geschäfte nicht bis Sonnenuntergang beendet Grenzboten I 1908

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/629>, abgerufen am 24.07.2024.