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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Biologischer Unterricht in den Schulen

schaft zu lehren, mit den" Bekenntnisse und der Moral habe der Gymnasial¬
unterricht nichts zu tun; es sei gut, wenn auf diesem und auf jedem andern
Gebiete, zum Beispiel in der Geschichte, der Schüler verschiedne Auffassungen
kennen lerne und zwischen ihnen die Wahl habe, er werde sich die aneignen,
die seiner Individualität entspreche. Diese Weisheit soll in Frankreich wirklich
zu einer gewissen Lehrfreiheit auf den Schulen geführt haben, dergestalt, daß
beispielsweise an einer staatlichen Anstalt eine sozialdemokratische Uebelsein ihre
Anschauungen den jungen Schülerinnen vorträgt unbehelligt von der Vorsteherin
und der Schulbehörde. Was dort wohl aus politischen Rücksichten geschieht,
das könnte vielleicht auf unsern Gymnasien Eingang finden, um das von allen
Seiten so sehr gewünschte Auswachsen individueller Persönlichkeiten zu erleichtern.
Als ob es dafür nicht vor allem darauf ankäme, in dem jungen Geiste fiir
ein beschränktes Gebiet Klarheit, in dem jungen Herzen Festigkeit zu schaffen.
Ist das vorhanden, dann wird die "Individualität", die wir brauchen, nämlich
der eigne selbständige Charakter, sich schon bilden, falls Anlage dazu vorhanden
ist. Leute, die etwas darin suchen, anders zu denken als "die Menge", "Narren
auf eigne Hand", brauchen wir nicht künstlich zu züchten, wir haben ihrer mehr
als genug, wohl infolge der Verworrenheit unsrer Jugenderziehung.

Wenn heute bei ehemaligen Zöglingen mancher höherer Lehranstalten neben
Wissensdünkel so viel Pietätlosigkeit gegenüber ihrer Schule bemerkbar ist, so
liegt die Erklärung nahe, daß diese ihnen für ihre langjährige Quälerei zu
wenig ethische Werte übermittelt hat. Hütten die jungen Leute die erhalten,
so würden sie ob der Zucht und Quälerei ebensowenig grollen, wie es die
alten Soldaten tun, die fast ausnahmslos eine so dankbare Anhänglichkeit an
ihre strenge aber fruchtbare Dienstzeit bewahren. Sollte nicht, um ein wichtiges
Beispiel zu nennen, die anscheinend im Zunehmen befindliche Abneigung gegen
die alten Sprachen zum großen Teil darauf zurückzuführen sein, daß die Lektüre
der Klassiker vielfach mehr von sprachwissenschaftlichen und literarischen als von
historischen, ästhetischen und ethischen Standpunkten aus betrieben wird? Und
gibt nicht die heutzutage wie schon seit Jahren unvermeidliche Ochserei zum
Abitnrium Berechtigung zu dem Zweifel, ob denn dieses Examen wirklich noch
eine "Reise"prüfung darstelle, ob die Anstalt oder die hohe Schulbehörde als
Ziel die Heranbildung zur Reife des Geistes und Herzens verfolge, wenn sie
zu dem Nachweise für die Erreichung ihres Zieles so viel rasch eingepaukten
und rasch vergessenen Gedächtniskram fordere.

Wir sprechen von dem Gymnasium im allgemeinen lind von seinen
möglicherweise vorhandnen Mängeln, während wir es doch mit der Biologie
zu tun haben. Aber diese Betrachtung gehörte durchaus zur Sache. Denn
wir fordern die Biologie nicht darum, weil es nur auf die Vermehrung der
Kenntnisse des Schülers ankäme, nicht als neues praktisches Fach, sondern als
ein notwendiges Glied eines systematischen, die Ausbildung von Geist und
Gemüt erstrebenden Lehrplans, und deswegen mußte auch von diesem System


Biologischer Unterricht in den Schulen

schaft zu lehren, mit den« Bekenntnisse und der Moral habe der Gymnasial¬
unterricht nichts zu tun; es sei gut, wenn auf diesem und auf jedem andern
Gebiete, zum Beispiel in der Geschichte, der Schüler verschiedne Auffassungen
kennen lerne und zwischen ihnen die Wahl habe, er werde sich die aneignen,
die seiner Individualität entspreche. Diese Weisheit soll in Frankreich wirklich
zu einer gewissen Lehrfreiheit auf den Schulen geführt haben, dergestalt, daß
beispielsweise an einer staatlichen Anstalt eine sozialdemokratische Uebelsein ihre
Anschauungen den jungen Schülerinnen vorträgt unbehelligt von der Vorsteherin
und der Schulbehörde. Was dort wohl aus politischen Rücksichten geschieht,
das könnte vielleicht auf unsern Gymnasien Eingang finden, um das von allen
Seiten so sehr gewünschte Auswachsen individueller Persönlichkeiten zu erleichtern.
Als ob es dafür nicht vor allem darauf ankäme, in dem jungen Geiste fiir
ein beschränktes Gebiet Klarheit, in dem jungen Herzen Festigkeit zu schaffen.
Ist das vorhanden, dann wird die „Individualität", die wir brauchen, nämlich
der eigne selbständige Charakter, sich schon bilden, falls Anlage dazu vorhanden
ist. Leute, die etwas darin suchen, anders zu denken als „die Menge", „Narren
auf eigne Hand", brauchen wir nicht künstlich zu züchten, wir haben ihrer mehr
als genug, wohl infolge der Verworrenheit unsrer Jugenderziehung.

Wenn heute bei ehemaligen Zöglingen mancher höherer Lehranstalten neben
Wissensdünkel so viel Pietätlosigkeit gegenüber ihrer Schule bemerkbar ist, so
liegt die Erklärung nahe, daß diese ihnen für ihre langjährige Quälerei zu
wenig ethische Werte übermittelt hat. Hütten die jungen Leute die erhalten,
so würden sie ob der Zucht und Quälerei ebensowenig grollen, wie es die
alten Soldaten tun, die fast ausnahmslos eine so dankbare Anhänglichkeit an
ihre strenge aber fruchtbare Dienstzeit bewahren. Sollte nicht, um ein wichtiges
Beispiel zu nennen, die anscheinend im Zunehmen befindliche Abneigung gegen
die alten Sprachen zum großen Teil darauf zurückzuführen sein, daß die Lektüre
der Klassiker vielfach mehr von sprachwissenschaftlichen und literarischen als von
historischen, ästhetischen und ethischen Standpunkten aus betrieben wird? Und
gibt nicht die heutzutage wie schon seit Jahren unvermeidliche Ochserei zum
Abitnrium Berechtigung zu dem Zweifel, ob denn dieses Examen wirklich noch
eine „Reise"prüfung darstelle, ob die Anstalt oder die hohe Schulbehörde als
Ziel die Heranbildung zur Reife des Geistes und Herzens verfolge, wenn sie
zu dem Nachweise für die Erreichung ihres Zieles so viel rasch eingepaukten
und rasch vergessenen Gedächtniskram fordere.

Wir sprechen von dem Gymnasium im allgemeinen lind von seinen
möglicherweise vorhandnen Mängeln, während wir es doch mit der Biologie
zu tun haben. Aber diese Betrachtung gehörte durchaus zur Sache. Denn
wir fordern die Biologie nicht darum, weil es nur auf die Vermehrung der
Kenntnisse des Schülers ankäme, nicht als neues praktisches Fach, sondern als
ein notwendiges Glied eines systematischen, die Ausbildung von Geist und
Gemüt erstrebenden Lehrplans, und deswegen mußte auch von diesem System


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[0568] Biologischer Unterricht in den Schulen schaft zu lehren, mit den« Bekenntnisse und der Moral habe der Gymnasial¬ unterricht nichts zu tun; es sei gut, wenn auf diesem und auf jedem andern Gebiete, zum Beispiel in der Geschichte, der Schüler verschiedne Auffassungen kennen lerne und zwischen ihnen die Wahl habe, er werde sich die aneignen, die seiner Individualität entspreche. Diese Weisheit soll in Frankreich wirklich zu einer gewissen Lehrfreiheit auf den Schulen geführt haben, dergestalt, daß beispielsweise an einer staatlichen Anstalt eine sozialdemokratische Uebelsein ihre Anschauungen den jungen Schülerinnen vorträgt unbehelligt von der Vorsteherin und der Schulbehörde. Was dort wohl aus politischen Rücksichten geschieht, das könnte vielleicht auf unsern Gymnasien Eingang finden, um das von allen Seiten so sehr gewünschte Auswachsen individueller Persönlichkeiten zu erleichtern. Als ob es dafür nicht vor allem darauf ankäme, in dem jungen Geiste fiir ein beschränktes Gebiet Klarheit, in dem jungen Herzen Festigkeit zu schaffen. Ist das vorhanden, dann wird die „Individualität", die wir brauchen, nämlich der eigne selbständige Charakter, sich schon bilden, falls Anlage dazu vorhanden ist. Leute, die etwas darin suchen, anders zu denken als „die Menge", „Narren auf eigne Hand", brauchen wir nicht künstlich zu züchten, wir haben ihrer mehr als genug, wohl infolge der Verworrenheit unsrer Jugenderziehung. Wenn heute bei ehemaligen Zöglingen mancher höherer Lehranstalten neben Wissensdünkel so viel Pietätlosigkeit gegenüber ihrer Schule bemerkbar ist, so liegt die Erklärung nahe, daß diese ihnen für ihre langjährige Quälerei zu wenig ethische Werte übermittelt hat. Hütten die jungen Leute die erhalten, so würden sie ob der Zucht und Quälerei ebensowenig grollen, wie es die alten Soldaten tun, die fast ausnahmslos eine so dankbare Anhänglichkeit an ihre strenge aber fruchtbare Dienstzeit bewahren. Sollte nicht, um ein wichtiges Beispiel zu nennen, die anscheinend im Zunehmen befindliche Abneigung gegen die alten Sprachen zum großen Teil darauf zurückzuführen sein, daß die Lektüre der Klassiker vielfach mehr von sprachwissenschaftlichen und literarischen als von historischen, ästhetischen und ethischen Standpunkten aus betrieben wird? Und gibt nicht die heutzutage wie schon seit Jahren unvermeidliche Ochserei zum Abitnrium Berechtigung zu dem Zweifel, ob denn dieses Examen wirklich noch eine „Reise"prüfung darstelle, ob die Anstalt oder die hohe Schulbehörde als Ziel die Heranbildung zur Reife des Geistes und Herzens verfolge, wenn sie zu dem Nachweise für die Erreichung ihres Zieles so viel rasch eingepaukten und rasch vergessenen Gedächtniskram fordere. Wir sprechen von dem Gymnasium im allgemeinen lind von seinen möglicherweise vorhandnen Mängeln, während wir es doch mit der Biologie zu tun haben. Aber diese Betrachtung gehörte durchaus zur Sache. Denn wir fordern die Biologie nicht darum, weil es nur auf die Vermehrung der Kenntnisse des Schülers ankäme, nicht als neues praktisches Fach, sondern als ein notwendiges Glied eines systematischen, die Ausbildung von Geist und Gemüt erstrebenden Lehrplans, und deswegen mußte auch von diesem System

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/568>, abgerufen am 29.06.2024.