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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Äirche und Ztaat in Frankreich

an die Vergangenheit auch eine Reaktion rechnen müssen, Vermutungen an-,
zustellen, wollen wir lieber aus der französischen Kirchengeschichte einige Ein¬
sichten in die bewegliche französische Volksseele und ihre religiösen Erregungen
und Wandlungen zu gewinnen suchen mit Hilfe eines sehr gediegnen Buches,
G. Desdevises du Dezert, aus dessen Studien über Spanien die Grenz¬
boten einiges mitgeteilt haben, veröffentlicht I^'lZZIiss et I'IZtat en öranvs.
?om<z Dinier. lMris, Looiete VriwcMse ä'imxrimeris et ac lidrairie, ruf
6e eiun7 15, 1907.) Der vorliegende erste Band behandelt die Zeit vom
Edikt von Nantes bis zum Konkordat. Eine einleitende religionsgeschichtliche
Übersicht, gegen die sich manches einwenden ließe, schließt der Verfasser mit
einer Kennzeichnung seiner Stellung. Er fühle tiefe Ehrfurcht vor der reli¬
giösen Idee, betrachte den Katholizismus als eine der edelsten Formen, aber
nicht als die einzige achtungswerte Form dieser Idee, schätze die Toleranz und
die Charitas höher als die Dogmen, sei entschiedner Gegner jeder Tyrannei,
möge diese von der Kirche oder vom Staat ausgeübt werden, glaube mit
Sieyes, daß der Mann, der andern die Gerechtigkeit verweigert, den Namen
eines Freien nicht verdient, und will ..diese große Geschichte" mit all der ehr¬
lichen Gesinnung und Unparteilichkeit schreiben, deren er fähig ist.

Das Edikt vom 13. April 1598 nennt er den schönsten Ruhmestitel
Heinrichs des Vierten, denn damit sei zum erstenmale von einem katholischen
Staat (überhaupt von einem christlichen Staat!) einem abweichenden Bekenntnis
die Kultusfreiheit eingeräumt worden. Freilich sei dieser große Fortschritt nicht
ein Ausfluß der Gesinnung oder der Philosophie, sondern das Ergebnis poli¬
tischer Erwägungen gewesen. Die Gesinnung der Parteien blieb dieselbe. Die
Katholiken rasten. Paris war so fanatisch, daß Heinrich den sich ber Hofe
aufhaltenden Herren ihren Gottesdienst nur im eignen Logis bei geschlossenen
Türen zu gestatten wagte; erst fünf Meilen von der Hauptstadt war der öffent-
liche Kult erlaubt. Die Parlamente verweigerten die Registrierung und ver¬
standen sich, eins nach dem andern, erst nach und nach dazu; Rouen zögerte
bis 1609. Die Hugenotten andrerseits waren mit den ihnen gemachten Zu¬
geständnissen, die sie beinahe zu einem Staat im Staate erhoben. keineswegs
zufrieden, erweiterten sie eigenmächtig und führen fort, die Gegner mit Streit¬
schriften zu reizen. Daß ihnen hundert feste Plätze eingeräumt wurden, deren
Garnisonen der König besoldete, war nach Desdevises geradezu eine Gefahr
für den Staat, da ihrer Partei 3500 Edelleute angehörten, die 25000 Sol¬
daten stellen konnten, während das stehende Heer des Königs in Friedens-
Zeit nur 10000 Mann zählte. Heinrich hat denn auch selbst in diesem Punkte
"icht völlig Wort gehalten; er ließ die Mauern mehrerer dieser Platze ver¬
fallen und zahlte statt der versprochn" 160000 Taler Sold nur 50000.
Solange Heinrich lebte, vermochte seine Energie und seine Klugheit gefährliche
Ausbrüche der von ihm gefesselten, nicht gebändigten Leidenschaften niederzuhalten.
Aber nach seinem Tode genügte die Nachricht von der Verlobung des jungen


Grenzboten I 1908
Äirche und Ztaat in Frankreich

an die Vergangenheit auch eine Reaktion rechnen müssen, Vermutungen an-,
zustellen, wollen wir lieber aus der französischen Kirchengeschichte einige Ein¬
sichten in die bewegliche französische Volksseele und ihre religiösen Erregungen
und Wandlungen zu gewinnen suchen mit Hilfe eines sehr gediegnen Buches,
G. Desdevises du Dezert, aus dessen Studien über Spanien die Grenz¬
boten einiges mitgeteilt haben, veröffentlicht I^'lZZIiss et I'IZtat en öranvs.
?om<z Dinier. lMris, Looiete VriwcMse ä'imxrimeris et ac lidrairie, ruf
6e eiun7 15, 1907.) Der vorliegende erste Band behandelt die Zeit vom
Edikt von Nantes bis zum Konkordat. Eine einleitende religionsgeschichtliche
Übersicht, gegen die sich manches einwenden ließe, schließt der Verfasser mit
einer Kennzeichnung seiner Stellung. Er fühle tiefe Ehrfurcht vor der reli¬
giösen Idee, betrachte den Katholizismus als eine der edelsten Formen, aber
nicht als die einzige achtungswerte Form dieser Idee, schätze die Toleranz und
die Charitas höher als die Dogmen, sei entschiedner Gegner jeder Tyrannei,
möge diese von der Kirche oder vom Staat ausgeübt werden, glaube mit
Sieyes, daß der Mann, der andern die Gerechtigkeit verweigert, den Namen
eines Freien nicht verdient, und will ..diese große Geschichte" mit all der ehr¬
lichen Gesinnung und Unparteilichkeit schreiben, deren er fähig ist.

Das Edikt vom 13. April 1598 nennt er den schönsten Ruhmestitel
Heinrichs des Vierten, denn damit sei zum erstenmale von einem katholischen
Staat (überhaupt von einem christlichen Staat!) einem abweichenden Bekenntnis
die Kultusfreiheit eingeräumt worden. Freilich sei dieser große Fortschritt nicht
ein Ausfluß der Gesinnung oder der Philosophie, sondern das Ergebnis poli¬
tischer Erwägungen gewesen. Die Gesinnung der Parteien blieb dieselbe. Die
Katholiken rasten. Paris war so fanatisch, daß Heinrich den sich ber Hofe
aufhaltenden Herren ihren Gottesdienst nur im eignen Logis bei geschlossenen
Türen zu gestatten wagte; erst fünf Meilen von der Hauptstadt war der öffent-
liche Kult erlaubt. Die Parlamente verweigerten die Registrierung und ver¬
standen sich, eins nach dem andern, erst nach und nach dazu; Rouen zögerte
bis 1609. Die Hugenotten andrerseits waren mit den ihnen gemachten Zu¬
geständnissen, die sie beinahe zu einem Staat im Staate erhoben. keineswegs
zufrieden, erweiterten sie eigenmächtig und führen fort, die Gegner mit Streit¬
schriften zu reizen. Daß ihnen hundert feste Plätze eingeräumt wurden, deren
Garnisonen der König besoldete, war nach Desdevises geradezu eine Gefahr
für den Staat, da ihrer Partei 3500 Edelleute angehörten, die 25000 Sol¬
daten stellen konnten, während das stehende Heer des Königs in Friedens-
Zeit nur 10000 Mann zählte. Heinrich hat denn auch selbst in diesem Punkte
"icht völlig Wort gehalten; er ließ die Mauern mehrerer dieser Platze ver¬
fallen und zahlte statt der versprochn« 160000 Taler Sold nur 50000.
Solange Heinrich lebte, vermochte seine Energie und seine Klugheit gefährliche
Ausbrüche der von ihm gefesselten, nicht gebändigten Leidenschaften niederzuhalten.
Aber nach seinem Tode genügte die Nachricht von der Verlobung des jungen


Grenzboten I 1908
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/517>, abgerufen am 22.07.2024.