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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die Wahrheit über die deutsche Expansion

einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 800000 Menschen. Diese neuen
Massen müssen durch die Industrie ernährt werden; und das Deutsche Reich
würde, um die Rohmaterialien und die Absatzgebiete für dieses stetig notwendige
industrielle Wachstum zu erwerben, mit oder gegen seinen Willen zu kolonialer
Expansion gezwungen. Die Bedingung für die Möglichkeit einer solchen Ex¬
pansion wäre die Annexion von Holland und des flämischen Belgiens mit
Antwerpen. Deutschland brauche die Vergrößerung seiner maritimen Basis und
die Herrschaft über den Unterrhein und seine Häfen. Für den Fernerstehenden
mag diese Argumentation den Schein der Wahrscheinlichkeit haben. Wer jedoch
die Verhältnisse kennt, weiß ohne weiteres, daß diese Wahrscheinlichkeit nicht die
Wahrheit ist. Zum ersten ist es nicht richtig, daß Deutschland um seiner wachsenden
Industrie willen kolonialer Expansion bedürfe. An dem Aufschwung des deutschen
Handels und der deutschen Industrie war die steigende Kaufkraft eines beliebigen
der andern Länder, Englands, Frankreichs, Rußlands oder Amerikas weit mehr
beteiligt als alle deutschen Kolonien zusammen. Nicht Kolonien braucht das
Deutsche Reich, sondern den freien Wettbewerb auf allen Meeren und die offne
Tür, die freie gleichberechtigte Mitarbeit neben andern gewerbe- und handel¬
treibenden Nationen an der wirtschaftlichen Erschließung noch freier, unauf-
geschloßner Wirtschaftsgebiete. Deshalb ist das Prinzip der offnen Tür die
leitende Idee der deutschen Überseepolitik, der rote Faden, der sich durch die
gesamte ostasiatische, orientalische, marokkanische Politik des Deutschen Reichs
zieht. Die deutschen Waren sind gut genug, auf ausländischen Märkten keine
nur durch politische Herrschaft zu erringende Vorzugsbehandlung, sondern nur
der Gleichberechtigung mit der Einfuhr andrer Länder zu bedürfen. Die Erde
^ groß genug, reich genug an noch schlummernden Möglichkeiten, um allen
Nationen ein friedliches Nebeneinander der Arbeit zu gestatten.

Ebenso falsch ist es, wenn dann weiter behauptet wird, die Bedingung
einer solchen angeblichen kolonialen Expansion wäre die Annexion Hollands
und Antwerpens. Daß die Rheinmündungen von fremden Staaten beherrscht
würden, wäre für das Deutsche Reich unerträglich. Nun ist aber das ganze
deutsche Eisenbahn- und Kanalsystem auf die beiden Haupthandelshäfen Bremen
und Hamburg gestellt, die sich, wie die Entwicklung zeigt, auch den enorm und
rapide gestiegnen Anforderungen des Verkehrs vollkommen gewachsen gezeigt haben
und noch weiter vergrößerungsfähig sind. Freilich ist der Rhein eine wichtige,
besonders für die industriell hochentwickelte Rheinprovinz unentbehrliche Wasser¬
straße. Der Export aus den Gegenden am Rhein wird gewiß immer die billige
und nähere Wasserstraße auf dem Rhein dem teuern und weitern Schienenweg
über Bremen vorziehen. Es ist aber für Deutschland gänzlich gleichgiltig, ob
die Rheinschiffe, die die Produktion der deutschen Rheinlande ans Meer bringen,
auf ihrem Wege an deutschen, holländischen oder belgischen Küsten entlang fahren,
denn die Nheinschiffahrt ist von jeden Abgaben, Hindernissen und Erschwerungen
Vollkommen frei und könnte bei deutscher Beherrschung der zu durchfahrenden


Die Wahrheit über die deutsche Expansion

einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 800000 Menschen. Diese neuen
Massen müssen durch die Industrie ernährt werden; und das Deutsche Reich
würde, um die Rohmaterialien und die Absatzgebiete für dieses stetig notwendige
industrielle Wachstum zu erwerben, mit oder gegen seinen Willen zu kolonialer
Expansion gezwungen. Die Bedingung für die Möglichkeit einer solchen Ex¬
pansion wäre die Annexion von Holland und des flämischen Belgiens mit
Antwerpen. Deutschland brauche die Vergrößerung seiner maritimen Basis und
die Herrschaft über den Unterrhein und seine Häfen. Für den Fernerstehenden
mag diese Argumentation den Schein der Wahrscheinlichkeit haben. Wer jedoch
die Verhältnisse kennt, weiß ohne weiteres, daß diese Wahrscheinlichkeit nicht die
Wahrheit ist. Zum ersten ist es nicht richtig, daß Deutschland um seiner wachsenden
Industrie willen kolonialer Expansion bedürfe. An dem Aufschwung des deutschen
Handels und der deutschen Industrie war die steigende Kaufkraft eines beliebigen
der andern Länder, Englands, Frankreichs, Rußlands oder Amerikas weit mehr
beteiligt als alle deutschen Kolonien zusammen. Nicht Kolonien braucht das
Deutsche Reich, sondern den freien Wettbewerb auf allen Meeren und die offne
Tür, die freie gleichberechtigte Mitarbeit neben andern gewerbe- und handel¬
treibenden Nationen an der wirtschaftlichen Erschließung noch freier, unauf-
geschloßner Wirtschaftsgebiete. Deshalb ist das Prinzip der offnen Tür die
leitende Idee der deutschen Überseepolitik, der rote Faden, der sich durch die
gesamte ostasiatische, orientalische, marokkanische Politik des Deutschen Reichs
zieht. Die deutschen Waren sind gut genug, auf ausländischen Märkten keine
nur durch politische Herrschaft zu erringende Vorzugsbehandlung, sondern nur
der Gleichberechtigung mit der Einfuhr andrer Länder zu bedürfen. Die Erde
^ groß genug, reich genug an noch schlummernden Möglichkeiten, um allen
Nationen ein friedliches Nebeneinander der Arbeit zu gestatten.

Ebenso falsch ist es, wenn dann weiter behauptet wird, die Bedingung
einer solchen angeblichen kolonialen Expansion wäre die Annexion Hollands
und Antwerpens. Daß die Rheinmündungen von fremden Staaten beherrscht
würden, wäre für das Deutsche Reich unerträglich. Nun ist aber das ganze
deutsche Eisenbahn- und Kanalsystem auf die beiden Haupthandelshäfen Bremen
und Hamburg gestellt, die sich, wie die Entwicklung zeigt, auch den enorm und
rapide gestiegnen Anforderungen des Verkehrs vollkommen gewachsen gezeigt haben
und noch weiter vergrößerungsfähig sind. Freilich ist der Rhein eine wichtige,
besonders für die industriell hochentwickelte Rheinprovinz unentbehrliche Wasser¬
straße. Der Export aus den Gegenden am Rhein wird gewiß immer die billige
und nähere Wasserstraße auf dem Rhein dem teuern und weitern Schienenweg
über Bremen vorziehen. Es ist aber für Deutschland gänzlich gleichgiltig, ob
die Rheinschiffe, die die Produktion der deutschen Rheinlande ans Meer bringen,
auf ihrem Wege an deutschen, holländischen oder belgischen Küsten entlang fahren,
denn die Nheinschiffahrt ist von jeden Abgaben, Hindernissen und Erschwerungen
Vollkommen frei und könnte bei deutscher Beherrschung der zu durchfahrenden


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[0483] Die Wahrheit über die deutsche Expansion einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 800000 Menschen. Diese neuen Massen müssen durch die Industrie ernährt werden; und das Deutsche Reich würde, um die Rohmaterialien und die Absatzgebiete für dieses stetig notwendige industrielle Wachstum zu erwerben, mit oder gegen seinen Willen zu kolonialer Expansion gezwungen. Die Bedingung für die Möglichkeit einer solchen Ex¬ pansion wäre die Annexion von Holland und des flämischen Belgiens mit Antwerpen. Deutschland brauche die Vergrößerung seiner maritimen Basis und die Herrschaft über den Unterrhein und seine Häfen. Für den Fernerstehenden mag diese Argumentation den Schein der Wahrscheinlichkeit haben. Wer jedoch die Verhältnisse kennt, weiß ohne weiteres, daß diese Wahrscheinlichkeit nicht die Wahrheit ist. Zum ersten ist es nicht richtig, daß Deutschland um seiner wachsenden Industrie willen kolonialer Expansion bedürfe. An dem Aufschwung des deutschen Handels und der deutschen Industrie war die steigende Kaufkraft eines beliebigen der andern Länder, Englands, Frankreichs, Rußlands oder Amerikas weit mehr beteiligt als alle deutschen Kolonien zusammen. Nicht Kolonien braucht das Deutsche Reich, sondern den freien Wettbewerb auf allen Meeren und die offne Tür, die freie gleichberechtigte Mitarbeit neben andern gewerbe- und handel¬ treibenden Nationen an der wirtschaftlichen Erschließung noch freier, unauf- geschloßner Wirtschaftsgebiete. Deshalb ist das Prinzip der offnen Tür die leitende Idee der deutschen Überseepolitik, der rote Faden, der sich durch die gesamte ostasiatische, orientalische, marokkanische Politik des Deutschen Reichs zieht. Die deutschen Waren sind gut genug, auf ausländischen Märkten keine nur durch politische Herrschaft zu erringende Vorzugsbehandlung, sondern nur der Gleichberechtigung mit der Einfuhr andrer Länder zu bedürfen. Die Erde ^ groß genug, reich genug an noch schlummernden Möglichkeiten, um allen Nationen ein friedliches Nebeneinander der Arbeit zu gestatten. Ebenso falsch ist es, wenn dann weiter behauptet wird, die Bedingung einer solchen angeblichen kolonialen Expansion wäre die Annexion Hollands und Antwerpens. Daß die Rheinmündungen von fremden Staaten beherrscht würden, wäre für das Deutsche Reich unerträglich. Nun ist aber das ganze deutsche Eisenbahn- und Kanalsystem auf die beiden Haupthandelshäfen Bremen und Hamburg gestellt, die sich, wie die Entwicklung zeigt, auch den enorm und rapide gestiegnen Anforderungen des Verkehrs vollkommen gewachsen gezeigt haben und noch weiter vergrößerungsfähig sind. Freilich ist der Rhein eine wichtige, besonders für die industriell hochentwickelte Rheinprovinz unentbehrliche Wasser¬ straße. Der Export aus den Gegenden am Rhein wird gewiß immer die billige und nähere Wasserstraße auf dem Rhein dem teuern und weitern Schienenweg über Bremen vorziehen. Es ist aber für Deutschland gänzlich gleichgiltig, ob die Rheinschiffe, die die Produktion der deutschen Rheinlande ans Meer bringen, auf ihrem Wege an deutschen, holländischen oder belgischen Küsten entlang fahren, denn die Nheinschiffahrt ist von jeden Abgaben, Hindernissen und Erschwerungen Vollkommen frei und könnte bei deutscher Beherrschung der zu durchfahrenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/483>, abgerufen am 24.08.2024.