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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Nie großen Heeresreformen in Frankreich

wird. Im Gegensatz zur Infanterie und Kavallerie sind die in dem neuen
Kadergesetz bei der Artillerie vorgesehenen Veränderungen von außerordentlicher
Bedeutung und großem Umfang. Sie bilden eigentlich den Kern der ganzen
Neuorganisation und machen deshalb eine ganz eingehende Betrachtung not¬
wendig. Schon bevor die deutsche Feldartillerie die Umbewaffnung mit Rohr¬
rücklaufgeschützen in die Wege geleitet hatte, wurde in der französischen Fach- und
Tagespresse wie auch im Parlament darüber Klage geführt, daß die eigue
Artillerie der Zahl der Geschütze nach der deutscheu weit unterlegen sei. Dieser
bedeutende Unterschied werde sich bei dem etwaigen Ausbruch eines Krieges
besonders bei den Decknngstruppen empfindlich bemerkbar machen, und dann
sei es zu spät, Abhilfe zu schaffen. Die Klagen wurden lauter, je mehr, selbst
in hohen militärischen Kreisen, Zweifel aufkamen, ob die angebliche Überlegen¬
heit des Geschützmaterials im Ernstfall tatsächlich ausreichen werde, die Minderheit
gegenüber den östlichen Nachbarn auszugleichen, und die Beunruhigung wurde
immer größer und allgemeiner, als die deutsche Artillerie mit Nohrrücklauf-
geschützen bewaffnet wurde. Der französischen obersten Heeresleitung kauu man
den Vorwurf nicht macheu, daß sie die Lage uicht erkannt oder sich abweisend
gegen alle Vorstellungen verhalten habe. Es steht im Gegenteil fest, daß sie
schon seit langer Zeit in Beratungen gestanden hat, auf welchem Wege eine
Vermehrung der Artillerie zu beschaffen sei. Aber viele Schwierigkeiten lagen
vor, nicht nur nach der materiellen Seite, daß große Mittel für eine solche
Maßnahme bewilligt werden müßten, sondern daß es vor allen Dingen an der
notwendigen Mannschaft fehle. Von vornherein als ausgeschlossen für eine
Vermehrung wurde der von vielen Seiten gemachte Vorschlag eingesehn, die
Geschützzahl für die Batterie von 4 auf 6 zu erhöhen, weil eine solche Neu¬
gliederung gegen alle bisherigen Erfahrungen spreche und eine völlige Um¬
wälzung der wichtigsten artilleristischen Grundsätze und reglementarischen Be¬
stimmungen zur Folge haben müsse.

Es ist wohl selbstverständlich, daß bei uns dieser Stand der Dinge und
ihr weiterer Verlauf in Frankreich mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt
worden ist. Von einer Überraschung konnte also keine Rede sein, als im Spät¬
herbst vorigen Jahres bekannt wurde, daß die französische Armee allmählich dazu
übergehn werde, die Zahl ihrer fahrende" Batterien bei jedem Armeekorps zu
vermehren. Es handelte sich dabei zunächst um die Umwandlung aller reitenden
Batterien der Korpsartillerie in fahrende derart, daß aus je 2 reitenden Batterien
3 fahrende gebildet werden sollen. Da die Armee insgesamt 52 reitende Batterien
hat, davon je 2 für die 8 Kavalleriedivisionen ^ 16 bestimmt sind, können
36 reitende Batterien umgewandelt, mithin 18 neue fahrende Batterien ge¬
schaffen werden. Frankreich verfügt im Mutterlande über 19 Armeekorps, sieht
man zunächst von dem 14. Korps an der Grenze gegen Italien ab, so haben
die verbleibenden 18 Korps je eine neue fahrende Batterie zu erwarten. Fast
zugleich mit dieser Vermehrung, die sich nur ganz allmählich vollziehen soll, wurde


Nie großen Heeresreformen in Frankreich

wird. Im Gegensatz zur Infanterie und Kavallerie sind die in dem neuen
Kadergesetz bei der Artillerie vorgesehenen Veränderungen von außerordentlicher
Bedeutung und großem Umfang. Sie bilden eigentlich den Kern der ganzen
Neuorganisation und machen deshalb eine ganz eingehende Betrachtung not¬
wendig. Schon bevor die deutsche Feldartillerie die Umbewaffnung mit Rohr¬
rücklaufgeschützen in die Wege geleitet hatte, wurde in der französischen Fach- und
Tagespresse wie auch im Parlament darüber Klage geführt, daß die eigue
Artillerie der Zahl der Geschütze nach der deutscheu weit unterlegen sei. Dieser
bedeutende Unterschied werde sich bei dem etwaigen Ausbruch eines Krieges
besonders bei den Decknngstruppen empfindlich bemerkbar machen, und dann
sei es zu spät, Abhilfe zu schaffen. Die Klagen wurden lauter, je mehr, selbst
in hohen militärischen Kreisen, Zweifel aufkamen, ob die angebliche Überlegen¬
heit des Geschützmaterials im Ernstfall tatsächlich ausreichen werde, die Minderheit
gegenüber den östlichen Nachbarn auszugleichen, und die Beunruhigung wurde
immer größer und allgemeiner, als die deutsche Artillerie mit Nohrrücklauf-
geschützen bewaffnet wurde. Der französischen obersten Heeresleitung kauu man
den Vorwurf nicht macheu, daß sie die Lage uicht erkannt oder sich abweisend
gegen alle Vorstellungen verhalten habe. Es steht im Gegenteil fest, daß sie
schon seit langer Zeit in Beratungen gestanden hat, auf welchem Wege eine
Vermehrung der Artillerie zu beschaffen sei. Aber viele Schwierigkeiten lagen
vor, nicht nur nach der materiellen Seite, daß große Mittel für eine solche
Maßnahme bewilligt werden müßten, sondern daß es vor allen Dingen an der
notwendigen Mannschaft fehle. Von vornherein als ausgeschlossen für eine
Vermehrung wurde der von vielen Seiten gemachte Vorschlag eingesehn, die
Geschützzahl für die Batterie von 4 auf 6 zu erhöhen, weil eine solche Neu¬
gliederung gegen alle bisherigen Erfahrungen spreche und eine völlige Um¬
wälzung der wichtigsten artilleristischen Grundsätze und reglementarischen Be¬
stimmungen zur Folge haben müsse.

Es ist wohl selbstverständlich, daß bei uns dieser Stand der Dinge und
ihr weiterer Verlauf in Frankreich mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt
worden ist. Von einer Überraschung konnte also keine Rede sein, als im Spät¬
herbst vorigen Jahres bekannt wurde, daß die französische Armee allmählich dazu
übergehn werde, die Zahl ihrer fahrende» Batterien bei jedem Armeekorps zu
vermehren. Es handelte sich dabei zunächst um die Umwandlung aller reitenden
Batterien der Korpsartillerie in fahrende derart, daß aus je 2 reitenden Batterien
3 fahrende gebildet werden sollen. Da die Armee insgesamt 52 reitende Batterien
hat, davon je 2 für die 8 Kavalleriedivisionen ^ 16 bestimmt sind, können
36 reitende Batterien umgewandelt, mithin 18 neue fahrende Batterien ge¬
schaffen werden. Frankreich verfügt im Mutterlande über 19 Armeekorps, sieht
man zunächst von dem 14. Korps an der Grenze gegen Italien ab, so haben
die verbleibenden 18 Korps je eine neue fahrende Batterie zu erwarten. Fast
zugleich mit dieser Vermehrung, die sich nur ganz allmählich vollziehen soll, wurde


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[0456] Nie großen Heeresreformen in Frankreich wird. Im Gegensatz zur Infanterie und Kavallerie sind die in dem neuen Kadergesetz bei der Artillerie vorgesehenen Veränderungen von außerordentlicher Bedeutung und großem Umfang. Sie bilden eigentlich den Kern der ganzen Neuorganisation und machen deshalb eine ganz eingehende Betrachtung not¬ wendig. Schon bevor die deutsche Feldartillerie die Umbewaffnung mit Rohr¬ rücklaufgeschützen in die Wege geleitet hatte, wurde in der französischen Fach- und Tagespresse wie auch im Parlament darüber Klage geführt, daß die eigue Artillerie der Zahl der Geschütze nach der deutscheu weit unterlegen sei. Dieser bedeutende Unterschied werde sich bei dem etwaigen Ausbruch eines Krieges besonders bei den Decknngstruppen empfindlich bemerkbar machen, und dann sei es zu spät, Abhilfe zu schaffen. Die Klagen wurden lauter, je mehr, selbst in hohen militärischen Kreisen, Zweifel aufkamen, ob die angebliche Überlegen¬ heit des Geschützmaterials im Ernstfall tatsächlich ausreichen werde, die Minderheit gegenüber den östlichen Nachbarn auszugleichen, und die Beunruhigung wurde immer größer und allgemeiner, als die deutsche Artillerie mit Nohrrücklauf- geschützen bewaffnet wurde. Der französischen obersten Heeresleitung kauu man den Vorwurf nicht macheu, daß sie die Lage uicht erkannt oder sich abweisend gegen alle Vorstellungen verhalten habe. Es steht im Gegenteil fest, daß sie schon seit langer Zeit in Beratungen gestanden hat, auf welchem Wege eine Vermehrung der Artillerie zu beschaffen sei. Aber viele Schwierigkeiten lagen vor, nicht nur nach der materiellen Seite, daß große Mittel für eine solche Maßnahme bewilligt werden müßten, sondern daß es vor allen Dingen an der notwendigen Mannschaft fehle. Von vornherein als ausgeschlossen für eine Vermehrung wurde der von vielen Seiten gemachte Vorschlag eingesehn, die Geschützzahl für die Batterie von 4 auf 6 zu erhöhen, weil eine solche Neu¬ gliederung gegen alle bisherigen Erfahrungen spreche und eine völlige Um¬ wälzung der wichtigsten artilleristischen Grundsätze und reglementarischen Be¬ stimmungen zur Folge haben müsse. Es ist wohl selbstverständlich, daß bei uns dieser Stand der Dinge und ihr weiterer Verlauf in Frankreich mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt worden ist. Von einer Überraschung konnte also keine Rede sein, als im Spät¬ herbst vorigen Jahres bekannt wurde, daß die französische Armee allmählich dazu übergehn werde, die Zahl ihrer fahrende» Batterien bei jedem Armeekorps zu vermehren. Es handelte sich dabei zunächst um die Umwandlung aller reitenden Batterien der Korpsartillerie in fahrende derart, daß aus je 2 reitenden Batterien 3 fahrende gebildet werden sollen. Da die Armee insgesamt 52 reitende Batterien hat, davon je 2 für die 8 Kavalleriedivisionen ^ 16 bestimmt sind, können 36 reitende Batterien umgewandelt, mithin 18 neue fahrende Batterien ge¬ schaffen werden. Frankreich verfügt im Mutterlande über 19 Armeekorps, sieht man zunächst von dem 14. Korps an der Grenze gegen Italien ab, so haben die verbleibenden 18 Korps je eine neue fahrende Batterie zu erwarten. Fast zugleich mit dieser Vermehrung, die sich nur ganz allmählich vollziehen soll, wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/456>, abgerufen am 24.08.2024.