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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Ume Schönheiten und neue Aufgaben

der Seele einiger Bevorzugten, die das Glück gehabt haben, besondre Augen
von der Natur erhalten oder eine besondre Erziehung und Ausbildung genossen
zu haben. Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß die Bestrebungen, das
Erbe unsrer Vater kommenden Geschlechtern zu übermitteln, ihre Berechtigung
haben, wenn wir uns auch mit diesen Zielen in einem scharfen Gegensatz zu
jenen Vätern wissen, die unzweifelhaft weit rücksichtsloser und pietätloser
empfanden^ es soll aber hier betont werden, daß man in diesem Bestreben oft
in einer Anwandlung von historischer Sentimentalität über das Ziel hinaus¬
geschossen und viel zu viel Zeit, Mühe und Kraft darangesetzt hat -- ich
brauche nur an die zahlreichen "Restaurationen" mittelalterlicher Bauwerke zu
erinnern --, und daß die moderne Zeit auch ihre Schönheit hat, die, wenn sie
erkannt ist, viel größer, gewaltiger wirkt und erhebt als jene für uns romantische
Schönheit des Mittelalters.

Aber diese Schönheit will gesucht, ernstlich gesucht und tief empfunden
werden. Öffne dein inneres Ohr und lausche auf den Pulsschlag deiner eisernen
Zeit, wenn du im Bahnwagen dahinsaust; das hämmert in furchtbarem Rhyth¬
mus, willenlos, ohnmächtig bist du einem zermalmenden Ungeheuer preisgegeben,
das ist deine eiserne, männermordende Zeit! Dein starkes, festes Herz freut
sich aber dieser gewaltigen Melodie. Öffne dein Auge der Schönheit des Lichts,
das überreich in allen Farben dich überströmt, wenn du am Abend deine Stadt
dir zu Füßen liegen siehst. Millionen von Lichtern blitzen hervor, und eine
feurige Lohe schlägt gegen die Abendwolken, die größer ist als jene Fcuergarbc
aus dem brennenden Rom. In der Ferne hörst du das dumpfe Brausen der
Stadt und das Geheul der Nebelhörner aus dem Hafen, ein Bild drängt sich
deiner lauschenden Seele auf, so groß, so gewaltig, daß dein Ich sich erhebt
voll Stolz und Festigkeit -- ein dankbarer Blick zum Himmel und über die
Erde, daß du dieser gewaltigen Zeit angehörst.

Wo sahst du die Schönheit?

Künstler der Farbe, erkanntest du sie in der Farbenpracht südländischer
Landschaften? Siehe, in dem rauchgeschwärzten Industrieviertel deiner Stadt
erscheint dir eine andre erhabne Schönheit.

Und auch du, Künstler des Steines, suchtest du sie in dem Ebenmaß
griechischer Statuen? Siehe, auch die zyklopische Gestalt des Industriearbeiters
deiner Stadt hat ihre erhabne Schönheit.

Künstler des Raumes, fandest du sie bisher in der Ruhe des griechischen
Tempels? Siehe, die Bauwerke des Jndustrieteiles deiner Stadt, dieses
modernsten Teiles deiner Stadt, reden eine gewaltige Sprache, suche hier eine
neue Schönheit!

Eine Umwertung aller Werte hat begonnen, nur wenige haben Zeit ge¬
funden, in ihrem Hasten und Jagen die Stimme zu hören, nur ganz wenige
unsrer modernen Künstler haben diese Schönheit erkannt, dafür predigen diese
wenigen aber auch mit einer Tiefe und Hoheit, die sie weit heraushebt aus der
großen Menge. Und wie in der Malerei und Plastik nur ganz wenige diese


Ume Schönheiten und neue Aufgaben

der Seele einiger Bevorzugten, die das Glück gehabt haben, besondre Augen
von der Natur erhalten oder eine besondre Erziehung und Ausbildung genossen
zu haben. Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß die Bestrebungen, das
Erbe unsrer Vater kommenden Geschlechtern zu übermitteln, ihre Berechtigung
haben, wenn wir uns auch mit diesen Zielen in einem scharfen Gegensatz zu
jenen Vätern wissen, die unzweifelhaft weit rücksichtsloser und pietätloser
empfanden^ es soll aber hier betont werden, daß man in diesem Bestreben oft
in einer Anwandlung von historischer Sentimentalität über das Ziel hinaus¬
geschossen und viel zu viel Zeit, Mühe und Kraft darangesetzt hat — ich
brauche nur an die zahlreichen „Restaurationen" mittelalterlicher Bauwerke zu
erinnern —, und daß die moderne Zeit auch ihre Schönheit hat, die, wenn sie
erkannt ist, viel größer, gewaltiger wirkt und erhebt als jene für uns romantische
Schönheit des Mittelalters.

Aber diese Schönheit will gesucht, ernstlich gesucht und tief empfunden
werden. Öffne dein inneres Ohr und lausche auf den Pulsschlag deiner eisernen
Zeit, wenn du im Bahnwagen dahinsaust; das hämmert in furchtbarem Rhyth¬
mus, willenlos, ohnmächtig bist du einem zermalmenden Ungeheuer preisgegeben,
das ist deine eiserne, männermordende Zeit! Dein starkes, festes Herz freut
sich aber dieser gewaltigen Melodie. Öffne dein Auge der Schönheit des Lichts,
das überreich in allen Farben dich überströmt, wenn du am Abend deine Stadt
dir zu Füßen liegen siehst. Millionen von Lichtern blitzen hervor, und eine
feurige Lohe schlägt gegen die Abendwolken, die größer ist als jene Fcuergarbc
aus dem brennenden Rom. In der Ferne hörst du das dumpfe Brausen der
Stadt und das Geheul der Nebelhörner aus dem Hafen, ein Bild drängt sich
deiner lauschenden Seele auf, so groß, so gewaltig, daß dein Ich sich erhebt
voll Stolz und Festigkeit — ein dankbarer Blick zum Himmel und über die
Erde, daß du dieser gewaltigen Zeit angehörst.

Wo sahst du die Schönheit?

Künstler der Farbe, erkanntest du sie in der Farbenpracht südländischer
Landschaften? Siehe, in dem rauchgeschwärzten Industrieviertel deiner Stadt
erscheint dir eine andre erhabne Schönheit.

Und auch du, Künstler des Steines, suchtest du sie in dem Ebenmaß
griechischer Statuen? Siehe, auch die zyklopische Gestalt des Industriearbeiters
deiner Stadt hat ihre erhabne Schönheit.

Künstler des Raumes, fandest du sie bisher in der Ruhe des griechischen
Tempels? Siehe, die Bauwerke des Jndustrieteiles deiner Stadt, dieses
modernsten Teiles deiner Stadt, reden eine gewaltige Sprache, suche hier eine
neue Schönheit!

Eine Umwertung aller Werte hat begonnen, nur wenige haben Zeit ge¬
funden, in ihrem Hasten und Jagen die Stimme zu hören, nur ganz wenige
unsrer modernen Künstler haben diese Schönheit erkannt, dafür predigen diese
wenigen aber auch mit einer Tiefe und Hoheit, die sie weit heraushebt aus der
großen Menge. Und wie in der Malerei und Plastik nur ganz wenige diese


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[0434] Ume Schönheiten und neue Aufgaben der Seele einiger Bevorzugten, die das Glück gehabt haben, besondre Augen von der Natur erhalten oder eine besondre Erziehung und Ausbildung genossen zu haben. Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß die Bestrebungen, das Erbe unsrer Vater kommenden Geschlechtern zu übermitteln, ihre Berechtigung haben, wenn wir uns auch mit diesen Zielen in einem scharfen Gegensatz zu jenen Vätern wissen, die unzweifelhaft weit rücksichtsloser und pietätloser empfanden^ es soll aber hier betont werden, daß man in diesem Bestreben oft in einer Anwandlung von historischer Sentimentalität über das Ziel hinaus¬ geschossen und viel zu viel Zeit, Mühe und Kraft darangesetzt hat — ich brauche nur an die zahlreichen „Restaurationen" mittelalterlicher Bauwerke zu erinnern —, und daß die moderne Zeit auch ihre Schönheit hat, die, wenn sie erkannt ist, viel größer, gewaltiger wirkt und erhebt als jene für uns romantische Schönheit des Mittelalters. Aber diese Schönheit will gesucht, ernstlich gesucht und tief empfunden werden. Öffne dein inneres Ohr und lausche auf den Pulsschlag deiner eisernen Zeit, wenn du im Bahnwagen dahinsaust; das hämmert in furchtbarem Rhyth¬ mus, willenlos, ohnmächtig bist du einem zermalmenden Ungeheuer preisgegeben, das ist deine eiserne, männermordende Zeit! Dein starkes, festes Herz freut sich aber dieser gewaltigen Melodie. Öffne dein Auge der Schönheit des Lichts, das überreich in allen Farben dich überströmt, wenn du am Abend deine Stadt dir zu Füßen liegen siehst. Millionen von Lichtern blitzen hervor, und eine feurige Lohe schlägt gegen die Abendwolken, die größer ist als jene Fcuergarbc aus dem brennenden Rom. In der Ferne hörst du das dumpfe Brausen der Stadt und das Geheul der Nebelhörner aus dem Hafen, ein Bild drängt sich deiner lauschenden Seele auf, so groß, so gewaltig, daß dein Ich sich erhebt voll Stolz und Festigkeit — ein dankbarer Blick zum Himmel und über die Erde, daß du dieser gewaltigen Zeit angehörst. Wo sahst du die Schönheit? Künstler der Farbe, erkanntest du sie in der Farbenpracht südländischer Landschaften? Siehe, in dem rauchgeschwärzten Industrieviertel deiner Stadt erscheint dir eine andre erhabne Schönheit. Und auch du, Künstler des Steines, suchtest du sie in dem Ebenmaß griechischer Statuen? Siehe, auch die zyklopische Gestalt des Industriearbeiters deiner Stadt hat ihre erhabne Schönheit. Künstler des Raumes, fandest du sie bisher in der Ruhe des griechischen Tempels? Siehe, die Bauwerke des Jndustrieteiles deiner Stadt, dieses modernsten Teiles deiner Stadt, reden eine gewaltige Sprache, suche hier eine neue Schönheit! Eine Umwertung aller Werte hat begonnen, nur wenige haben Zeit ge¬ funden, in ihrem Hasten und Jagen die Stimme zu hören, nur ganz wenige unsrer modernen Künstler haben diese Schönheit erkannt, dafür predigen diese wenigen aber auch mit einer Tiefe und Hoheit, die sie weit heraushebt aus der großen Menge. Und wie in der Malerei und Plastik nur ganz wenige diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/434>, abgerufen am 22.07.2024.