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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Meiteres von Wilhelm konnte

der zweiten Klasse an. Doch auch auf der höchsten Stufe kommt noch keine
Begriffsbildung zustande; es bleibt bei der Assoziativ" von Vorstellungen, wie
er sich besonders durch das Studium seines sehr gescheiten Pudels überzeugt
hat. So hat er diesen zum Beispiel gelehrt, auf das Kommando "Tür zu!"
eine Tür seines Zimmer durch Anstemmen der Vorderbeine zu schließen; als
er aber an einer zweiten Tür desselben Zimmers das Kommando aussprach,
verstand ihn der Hund nicht, und es kostete einige Mühe, ihn zu demselben
Kunststück an dieser Tür abzurichten. Auf die Frage, warum die Tiere nicht
sprechen, obwohl doch die höchsten unter ihnen die dazu nötigen Organe
besitzen, antwortet er: "weil sie nichts zu sagen haben". Sie haben wohl
Empfindungen und Vorstellungen, aber keine Gedanken.

Alle diese Betrachtungen nun lassen mir die von Wunde verworfne Hypo¬
these des Seelenatoms unentbehrlich und dabei im schönsten Einklang mit der
Entwicklungstheorie erscheinen. Irgendwo in dieser materiellen Welt muß
doch das Bewußtsein, das Seelenleben untergebracht werden. Entweder nimmt
man, hylozoistisch, mit Haeckel an, alle Atome seien beseelt; dann sind die
Seelen- und die Körperatome identisch, und die Körperatome offenbaren sich
als Seelenatome, wenn sie an gewisse Stellen gewisser organischer Ver¬
bindungen, namentlich von Nervensystemen höherer Tiere, geraten. Oder man
nimmt mit Busse an, was wahrscheinlicher ist, daß es zweierlei Atome gebe:
Körper- und Seelenatome, und daß die zweiten durch ihre Eingliederung in
einen Organismus, der sie erregt, zum Bewußtsein erwachen und einen Inhalt
empfangen. In beiden Fällen wächst mit dem Emporsteigen ans den Organi¬
sationsstufen der Reichtum des seelischen Inhalts (wieso die Annahme des
Seelenatoms, wie Wundt meint, mit der Entwicklungslehre unvereinbar sein
soll, vermag ich nicht einzusehen), und im Menschen schließt sich dann an die
organische Entwicklung die rein psychische an. Im Frosch, der, enthauptet,
noch zweckmäßige Bewegungen macht, muß man mehrere aktive Seelenatome
annehmen, neben der im Hirn noch eine, vielleicht mehrere, im Rückenmark,
in den niedrigsten Tieren scheint jeder Teil des Organismus seine besondre Seele
zu haben, der Mensch aber hat, wie die Erfahrung beweist, nur eine Seele, die
Hirnseele, und die Einheit seines Bewußtseins, sein Jchbewußtsein, scheint zu
fordern, daß wir sie uns als mathematischen Punkt, als Atom denken.

Selbstverständlich sind das alles nur Hypothesen, die weder das Seelen¬
leben erklären noch bewiesen werden können, und die man eben nur kon¬
struiert, weil man das Bedürfnis fühlt, sich sein eignes und seiner Mitgeschöpfe
Dasein einigermaßen vorstellbar zu machen. Wir wissen heute ungeheuer viel
von der Welt -- mit dem "wir" meine ich nicht etwa mich und jeden be¬
liebigen Leser, sondern die Herren, die das heutige Menschengeschlecht auf diesem
Gebiete repräsentieren, also die Physiker, die Chemiker und die Physiologen --;
und unsre Kenntnis der Natur befähigt uns -- mit dem "uns" sind hier
natürlich die Techniker, die Landwirte und die Gärtner gemeint --, die Natur¬
kräfte in einem bewundrungswürdigen Grade zu beherrschen und dadurch das


Meiteres von Wilhelm konnte

der zweiten Klasse an. Doch auch auf der höchsten Stufe kommt noch keine
Begriffsbildung zustande; es bleibt bei der Assoziativ» von Vorstellungen, wie
er sich besonders durch das Studium seines sehr gescheiten Pudels überzeugt
hat. So hat er diesen zum Beispiel gelehrt, auf das Kommando „Tür zu!"
eine Tür seines Zimmer durch Anstemmen der Vorderbeine zu schließen; als
er aber an einer zweiten Tür desselben Zimmers das Kommando aussprach,
verstand ihn der Hund nicht, und es kostete einige Mühe, ihn zu demselben
Kunststück an dieser Tür abzurichten. Auf die Frage, warum die Tiere nicht
sprechen, obwohl doch die höchsten unter ihnen die dazu nötigen Organe
besitzen, antwortet er: „weil sie nichts zu sagen haben". Sie haben wohl
Empfindungen und Vorstellungen, aber keine Gedanken.

Alle diese Betrachtungen nun lassen mir die von Wunde verworfne Hypo¬
these des Seelenatoms unentbehrlich und dabei im schönsten Einklang mit der
Entwicklungstheorie erscheinen. Irgendwo in dieser materiellen Welt muß
doch das Bewußtsein, das Seelenleben untergebracht werden. Entweder nimmt
man, hylozoistisch, mit Haeckel an, alle Atome seien beseelt; dann sind die
Seelen- und die Körperatome identisch, und die Körperatome offenbaren sich
als Seelenatome, wenn sie an gewisse Stellen gewisser organischer Ver¬
bindungen, namentlich von Nervensystemen höherer Tiere, geraten. Oder man
nimmt mit Busse an, was wahrscheinlicher ist, daß es zweierlei Atome gebe:
Körper- und Seelenatome, und daß die zweiten durch ihre Eingliederung in
einen Organismus, der sie erregt, zum Bewußtsein erwachen und einen Inhalt
empfangen. In beiden Fällen wächst mit dem Emporsteigen ans den Organi¬
sationsstufen der Reichtum des seelischen Inhalts (wieso die Annahme des
Seelenatoms, wie Wundt meint, mit der Entwicklungslehre unvereinbar sein
soll, vermag ich nicht einzusehen), und im Menschen schließt sich dann an die
organische Entwicklung die rein psychische an. Im Frosch, der, enthauptet,
noch zweckmäßige Bewegungen macht, muß man mehrere aktive Seelenatome
annehmen, neben der im Hirn noch eine, vielleicht mehrere, im Rückenmark,
in den niedrigsten Tieren scheint jeder Teil des Organismus seine besondre Seele
zu haben, der Mensch aber hat, wie die Erfahrung beweist, nur eine Seele, die
Hirnseele, und die Einheit seines Bewußtseins, sein Jchbewußtsein, scheint zu
fordern, daß wir sie uns als mathematischen Punkt, als Atom denken.

Selbstverständlich sind das alles nur Hypothesen, die weder das Seelen¬
leben erklären noch bewiesen werden können, und die man eben nur kon¬
struiert, weil man das Bedürfnis fühlt, sich sein eignes und seiner Mitgeschöpfe
Dasein einigermaßen vorstellbar zu machen. Wir wissen heute ungeheuer viel
von der Welt — mit dem „wir" meine ich nicht etwa mich und jeden be¬
liebigen Leser, sondern die Herren, die das heutige Menschengeschlecht auf diesem
Gebiete repräsentieren, also die Physiker, die Chemiker und die Physiologen —;
und unsre Kenntnis der Natur befähigt uns — mit dem „uns" sind hier
natürlich die Techniker, die Landwirte und die Gärtner gemeint —, die Natur¬
kräfte in einem bewundrungswürdigen Grade zu beherrschen und dadurch das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/432>, abgerufen am 22.07.2024.