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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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vorgestellt werden können. Die Ideale sind religiöse, sobald sie über diese
Ziele hincinsgehn und teils als letzter absoluter Zweck, dem sich das uns
vorgesetzte sittliche Menschheitsideal unterordnet, teils als letzter absoluter
Grund zu jenem Zwecke von uns gedacht werden." Diese Unterscheidung wird
sich kaum aufrecht erhalten lassen. Die Herstellung der sittlichen Weltordnung
ist "ach einer mehrtnnsendjährigen Erfahrung ein im Diesseits nicht weniger
unerreichbares Ziel wie die Seligkeit, dagegen sind der Trost, die Hilfe und
das verhältnismäßig lebhafte Glückgeftthl, die zahlreichen Menschen aus der
Religion zufließen, durchaus diesseitige Wirklichkeiten. Der Unterschied besteht
also nicht darin, daß die Ideale der Sittlichkeit im Diesseits und die der
Religion im Jenseits verwirklicht würden (in das noch dazu, wie wir bald
vernehmen werden, das menschliche Individuum gar nicht hinein gelangt), sondern
in einem verschiednen Inhalt: die sittlichen Ideen regeln das Verhalten der
Menschen zueinander, und die Religion verbindet die Menschenseele durch Hoffnung
und Liebe mit Gott, der natürlich als existierend gedacht werden muß, was für
die sittliche Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander möglicher¬
weise nützlich, an sich jedoch nicht notwendig ist; verwirklicht aber können die
Ideale beider Kategorien nur in einem Jenseits gedacht werden, sodaß also die
Moralisten auf die vollkommne Verwirklichung ihrer Ideale verzichten müssen,
wenn sie mit der Religion das Jenseits preisgeben.

Die philosophische Unbestimmtheit der religiösen Ideen nun, fährt Wunde
fort, befriedigt nicht das religiöse Gemüt; dieses will einen bestimmten ver¬
stellbaren Inhalt. "Die allgemeinen Ideen eines Weltgrnndes und eines Welt¬
zwecks verkörpern sich ihm daher in konkreten Glaubensvorstellungen über Gott
und über den Zweck des eignen Daseins wie des Seins aller Dinge.... So
wenig es möglich ist, Begriffe anders denn mit Hilfe vorstellbarer Worte oder
sonstiger Einzelvorstellungen zi? denken, gerade so wenig ist es möglich, daß
die religiösen Ideen anders als in der Form einzelner vorstellbarer Gestaltungen
entstehen." Und nnr in dieser Form üben die religiösen Ideen sittliche Wirkungen
"as. "Nicht als unbestimmte Ideen, sondern nur als unmittelbar gegebne oder
geglaubte Wirklichkeit kann das Ideal als Gut geschätzt, und uur in der Form
einer eignen idealen sittlichen Persönlichkeit kann es als Vorbild des eignen
sittlichen Strebens vorgestellt werden." In den Naturreligionen bleibe diese
sittliche Bedeutung der Religion im Hintergrunde. In den ethischen Religionen,
vor allem im Christentum, vollziehe sich eine entscheidende Wendung: Gott
werde als unvorstellbar gedacht, und an die Stelle der übermenschlichen Gestalten
der Naturreligionen treten menschliche Persönlichkeiten als sittliche Ideale.
"Damit aber an diese Ideale auch noch von dem gereiften, der mythischen Stufe
des Denkens entwachsnen Bewußtsein geglaubt werden könne, müssen es ge¬
schichtliche Persönlichkeiten sein." Damit sei nicht gesagt, daß der Charakter
einer solchen Persönlichkeit dem Bilde, das wir von ihr in uns tragen, genau
entsprechen müsse, das sei ja bei historischen Persönlichkeiten überhaupt nicht


vorgestellt werden können. Die Ideale sind religiöse, sobald sie über diese
Ziele hincinsgehn und teils als letzter absoluter Zweck, dem sich das uns
vorgesetzte sittliche Menschheitsideal unterordnet, teils als letzter absoluter
Grund zu jenem Zwecke von uns gedacht werden." Diese Unterscheidung wird
sich kaum aufrecht erhalten lassen. Die Herstellung der sittlichen Weltordnung
ist »ach einer mehrtnnsendjährigen Erfahrung ein im Diesseits nicht weniger
unerreichbares Ziel wie die Seligkeit, dagegen sind der Trost, die Hilfe und
das verhältnismäßig lebhafte Glückgeftthl, die zahlreichen Menschen aus der
Religion zufließen, durchaus diesseitige Wirklichkeiten. Der Unterschied besteht
also nicht darin, daß die Ideale der Sittlichkeit im Diesseits und die der
Religion im Jenseits verwirklicht würden (in das noch dazu, wie wir bald
vernehmen werden, das menschliche Individuum gar nicht hinein gelangt), sondern
in einem verschiednen Inhalt: die sittlichen Ideen regeln das Verhalten der
Menschen zueinander, und die Religion verbindet die Menschenseele durch Hoffnung
und Liebe mit Gott, der natürlich als existierend gedacht werden muß, was für
die sittliche Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander möglicher¬
weise nützlich, an sich jedoch nicht notwendig ist; verwirklicht aber können die
Ideale beider Kategorien nur in einem Jenseits gedacht werden, sodaß also die
Moralisten auf die vollkommne Verwirklichung ihrer Ideale verzichten müssen,
wenn sie mit der Religion das Jenseits preisgeben.

Die philosophische Unbestimmtheit der religiösen Ideen nun, fährt Wunde
fort, befriedigt nicht das religiöse Gemüt; dieses will einen bestimmten ver¬
stellbaren Inhalt. „Die allgemeinen Ideen eines Weltgrnndes und eines Welt¬
zwecks verkörpern sich ihm daher in konkreten Glaubensvorstellungen über Gott
und über den Zweck des eignen Daseins wie des Seins aller Dinge.... So
wenig es möglich ist, Begriffe anders denn mit Hilfe vorstellbarer Worte oder
sonstiger Einzelvorstellungen zi? denken, gerade so wenig ist es möglich, daß
die religiösen Ideen anders als in der Form einzelner vorstellbarer Gestaltungen
entstehen." Und nnr in dieser Form üben die religiösen Ideen sittliche Wirkungen
"as. „Nicht als unbestimmte Ideen, sondern nur als unmittelbar gegebne oder
geglaubte Wirklichkeit kann das Ideal als Gut geschätzt, und uur in der Form
einer eignen idealen sittlichen Persönlichkeit kann es als Vorbild des eignen
sittlichen Strebens vorgestellt werden." In den Naturreligionen bleibe diese
sittliche Bedeutung der Religion im Hintergrunde. In den ethischen Religionen,
vor allem im Christentum, vollziehe sich eine entscheidende Wendung: Gott
werde als unvorstellbar gedacht, und an die Stelle der übermenschlichen Gestalten
der Naturreligionen treten menschliche Persönlichkeiten als sittliche Ideale.
"Damit aber an diese Ideale auch noch von dem gereiften, der mythischen Stufe
des Denkens entwachsnen Bewußtsein geglaubt werden könne, müssen es ge¬
schichtliche Persönlichkeiten sein." Damit sei nicht gesagt, daß der Charakter
einer solchen Persönlichkeit dem Bilde, das wir von ihr in uns tragen, genau
entsprechen müsse, das sei ja bei historischen Persönlichkeiten überhaupt nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/425>, abgerufen am 24.08.2024.