Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
weiteres vo" Wilhelm wunde

so bedeutend, daß sie in ihrer neusten Gestalt skizziert zu werden verdient. Die
gewöhnlichen Ableitungen der Religion aus dem Gefühl der Abhängigkeit, der
Furcht vor übersinnlichen Mächten, dem Bedürfnis (Verlangen) nach Glückseligkeit
werdeu als bloß psychologische und darum ungenügende Erklärungsweisen zurück¬
gewiesen, denn es sei nicht einzusehn, warum sich diese drei Regungen gerade in
religiöser Form betätigen müßten, und es bleibe unerklärt, warum sie in den
Menschen gelegt sind. Die ersten beiden Empfindungen sind doch aber so natür¬
lich, daß man nach dem "warum" gar nicht zu fragen braucht, und beim dritten
hat die Frage gar keinen Sinn: mit dem Bewußtsein, das heißt mit der Emp¬
findung -- und der Mensch ist doch ein bewußtes, empfindendes Wesen -- ist
die Notwendigkeit, nichts andres als Angenehmes empfinden zu wollen, ge¬
geben, und diese Notwendigkeit nimmt bei einem nicht bloß empfindenden
sondern auch denkenden und reflektierenden Wesen die Gestalt des Strebens
nach dauernder Glückseligkeit an, das in dem Augenblick, wo jede Aussicht auf
solche schwindet, in das Streben nach Vernichtung umschlügt. Daß diese drei
Regungen für sich allein auch zusammen noch nicht die Religion ausmache",
ist zuzugeben. Ebenso, daß der Berufung auf irgendeine Offenbarung ein
philosophischer Wert nicht zukommt. Für die Philosophie gibt es nur eine
Vernunftreligion. Unter Vernunft sei aber hier zu versteh" "das im Denken
sich betätigende Streben nach Ergänzung aller in der Erfahrung gegebnen
Erkenntnisse zu einer Einheit, deren letzte Gründe und Folgen nicht gegeben
sein können, sondern zu dem Gegebnen als letzte Voraussetzungen hinzugedacht
werden". Die Aufklärung vor Kant habe es nur zu einer bloßen Berstandes-
religion gebracht, zu dem Versuch, durch die Annahme einer Weltursache den
tatsächlichen Weltlauf zu erklären, nicht zur Gewinnung von Ideen, die über
den Weltlauf hinausführen, also noch nicht zu Kants Vernunftreligion. Die
Grundformen jener Vcrstandesreligion oder Metaphysik seien gewesein der
Weltmechanismus und die unendliche Substanz mit ihren zwei spinozistischcn
Attributen. Der Mechanismus führe zum Atheismus, die unendliche Substanz
zum Pnutheismus. Beider Irrtum bestehe darin, daß sie außer der Natur kein
Sein anerkennen. Der Materialismus kenne nur die äußere, der Pantheismus
die zugleich äußere und innere Natur, wobei die innere als Abbild der außer",
also ebenfalls als ein unendliches unveränderliches Sein gedacht wird. Die
Unendlichkeit einer derartigen Welt könne nur als eine unendliche Zahl end¬
licher Dinge gedacht werden. Die Erfahrung zeige uns aber kein ruhendes
Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Geschehen: Entwicklung; nicht ein
Werden, das ziellos nur das Vorhaudne zerstört, damit ein Andres an seine
Stelle trete, sondern einen stetigen Zusammenhang zweckvoller Gestaltungen.
Werde nun dieser Zusammenhang als Entwicklung des Geistes erkannt, so
gelange man zur Ergänzung der Welterkenntnis durch transzendente Ideen
von praktischem Wert. "Die praktischen Ideale sind sittliche, solange sie sich
ans Ziele beziehe", die menschlichem Streben erreichbar sind oder als erreichbar


weiteres vo» Wilhelm wunde

so bedeutend, daß sie in ihrer neusten Gestalt skizziert zu werden verdient. Die
gewöhnlichen Ableitungen der Religion aus dem Gefühl der Abhängigkeit, der
Furcht vor übersinnlichen Mächten, dem Bedürfnis (Verlangen) nach Glückseligkeit
werdeu als bloß psychologische und darum ungenügende Erklärungsweisen zurück¬
gewiesen, denn es sei nicht einzusehn, warum sich diese drei Regungen gerade in
religiöser Form betätigen müßten, und es bleibe unerklärt, warum sie in den
Menschen gelegt sind. Die ersten beiden Empfindungen sind doch aber so natür¬
lich, daß man nach dem „warum" gar nicht zu fragen braucht, und beim dritten
hat die Frage gar keinen Sinn: mit dem Bewußtsein, das heißt mit der Emp¬
findung — und der Mensch ist doch ein bewußtes, empfindendes Wesen — ist
die Notwendigkeit, nichts andres als Angenehmes empfinden zu wollen, ge¬
geben, und diese Notwendigkeit nimmt bei einem nicht bloß empfindenden
sondern auch denkenden und reflektierenden Wesen die Gestalt des Strebens
nach dauernder Glückseligkeit an, das in dem Augenblick, wo jede Aussicht auf
solche schwindet, in das Streben nach Vernichtung umschlügt. Daß diese drei
Regungen für sich allein auch zusammen noch nicht die Religion ausmache«,
ist zuzugeben. Ebenso, daß der Berufung auf irgendeine Offenbarung ein
philosophischer Wert nicht zukommt. Für die Philosophie gibt es nur eine
Vernunftreligion. Unter Vernunft sei aber hier zu versteh« „das im Denken
sich betätigende Streben nach Ergänzung aller in der Erfahrung gegebnen
Erkenntnisse zu einer Einheit, deren letzte Gründe und Folgen nicht gegeben
sein können, sondern zu dem Gegebnen als letzte Voraussetzungen hinzugedacht
werden". Die Aufklärung vor Kant habe es nur zu einer bloßen Berstandes-
religion gebracht, zu dem Versuch, durch die Annahme einer Weltursache den
tatsächlichen Weltlauf zu erklären, nicht zur Gewinnung von Ideen, die über
den Weltlauf hinausführen, also noch nicht zu Kants Vernunftreligion. Die
Grundformen jener Vcrstandesreligion oder Metaphysik seien gewesein der
Weltmechanismus und die unendliche Substanz mit ihren zwei spinozistischcn
Attributen. Der Mechanismus führe zum Atheismus, die unendliche Substanz
zum Pnutheismus. Beider Irrtum bestehe darin, daß sie außer der Natur kein
Sein anerkennen. Der Materialismus kenne nur die äußere, der Pantheismus
die zugleich äußere und innere Natur, wobei die innere als Abbild der außer»,
also ebenfalls als ein unendliches unveränderliches Sein gedacht wird. Die
Unendlichkeit einer derartigen Welt könne nur als eine unendliche Zahl end¬
licher Dinge gedacht werden. Die Erfahrung zeige uns aber kein ruhendes
Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Geschehen: Entwicklung; nicht ein
Werden, das ziellos nur das Vorhaudne zerstört, damit ein Andres an seine
Stelle trete, sondern einen stetigen Zusammenhang zweckvoller Gestaltungen.
Werde nun dieser Zusammenhang als Entwicklung des Geistes erkannt, so
gelange man zur Ergänzung der Welterkenntnis durch transzendente Ideen
von praktischem Wert. „Die praktischen Ideale sind sittliche, solange sie sich
ans Ziele beziehe», die menschlichem Streben erreichbar sind oder als erreichbar


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/311505"/>
          <fw type="header" place="top"> weiteres vo» Wilhelm wunde</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2063" prev="#ID_2062" next="#ID_2064"> so bedeutend, daß sie in ihrer neusten Gestalt skizziert zu werden verdient. Die<lb/>
gewöhnlichen Ableitungen der Religion aus dem Gefühl der Abhängigkeit, der<lb/>
Furcht vor übersinnlichen Mächten, dem Bedürfnis (Verlangen) nach Glückseligkeit<lb/>
werdeu als bloß psychologische und darum ungenügende Erklärungsweisen zurück¬<lb/>
gewiesen, denn es sei nicht einzusehn, warum sich diese drei Regungen gerade in<lb/>
religiöser Form betätigen müßten, und es bleibe unerklärt, warum sie in den<lb/>
Menschen gelegt sind. Die ersten beiden Empfindungen sind doch aber so natür¬<lb/>
lich, daß man nach dem &#x201E;warum" gar nicht zu fragen braucht, und beim dritten<lb/>
hat die Frage gar keinen Sinn: mit dem Bewußtsein, das heißt mit der Emp¬<lb/>
findung &#x2014; und der Mensch ist doch ein bewußtes, empfindendes Wesen &#x2014; ist<lb/>
die Notwendigkeit, nichts andres als Angenehmes empfinden zu wollen, ge¬<lb/>
geben, und diese Notwendigkeit nimmt bei einem nicht bloß empfindenden<lb/>
sondern auch denkenden und reflektierenden Wesen die Gestalt des Strebens<lb/>
nach dauernder Glückseligkeit an, das in dem Augenblick, wo jede Aussicht auf<lb/>
solche schwindet, in das Streben nach Vernichtung umschlügt. Daß diese drei<lb/>
Regungen für sich allein auch zusammen noch nicht die Religion ausmache«,<lb/>
ist zuzugeben. Ebenso, daß der Berufung auf irgendeine Offenbarung ein<lb/>
philosophischer Wert nicht zukommt. Für die Philosophie gibt es nur eine<lb/>
Vernunftreligion. Unter Vernunft sei aber hier zu versteh« &#x201E;das im Denken<lb/>
sich betätigende Streben nach Ergänzung aller in der Erfahrung gegebnen<lb/>
Erkenntnisse zu einer Einheit, deren letzte Gründe und Folgen nicht gegeben<lb/>
sein können, sondern zu dem Gegebnen als letzte Voraussetzungen hinzugedacht<lb/>
werden". Die Aufklärung vor Kant habe es nur zu einer bloßen Berstandes-<lb/>
religion gebracht, zu dem Versuch, durch die Annahme einer Weltursache den<lb/>
tatsächlichen Weltlauf zu erklären, nicht zur Gewinnung von Ideen, die über<lb/>
den Weltlauf hinausführen, also noch nicht zu Kants Vernunftreligion. Die<lb/>
Grundformen jener Vcrstandesreligion oder Metaphysik seien gewesein der<lb/>
Weltmechanismus und die unendliche Substanz mit ihren zwei spinozistischcn<lb/>
Attributen. Der Mechanismus führe zum Atheismus, die unendliche Substanz<lb/>
zum Pnutheismus. Beider Irrtum bestehe darin, daß sie außer der Natur kein<lb/>
Sein anerkennen. Der Materialismus kenne nur die äußere, der Pantheismus<lb/>
die zugleich äußere und innere Natur, wobei die innere als Abbild der außer»,<lb/>
also ebenfalls als ein unendliches unveränderliches Sein gedacht wird. Die<lb/>
Unendlichkeit einer derartigen Welt könne nur als eine unendliche Zahl end¬<lb/>
licher Dinge gedacht werden. Die Erfahrung zeige uns aber kein ruhendes<lb/>
Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Geschehen: Entwicklung; nicht ein<lb/>
Werden, das ziellos nur das Vorhaudne zerstört, damit ein Andres an seine<lb/>
Stelle trete, sondern einen stetigen Zusammenhang zweckvoller Gestaltungen.<lb/>
Werde nun dieser Zusammenhang als Entwicklung des Geistes erkannt, so<lb/>
gelange man zur Ergänzung der Welterkenntnis durch transzendente Ideen<lb/>
von praktischem Wert. &#x201E;Die praktischen Ideale sind sittliche, solange sie sich<lb/>
ans Ziele beziehe», die menschlichem Streben erreichbar sind oder als erreichbar</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0424] weiteres vo» Wilhelm wunde so bedeutend, daß sie in ihrer neusten Gestalt skizziert zu werden verdient. Die gewöhnlichen Ableitungen der Religion aus dem Gefühl der Abhängigkeit, der Furcht vor übersinnlichen Mächten, dem Bedürfnis (Verlangen) nach Glückseligkeit werdeu als bloß psychologische und darum ungenügende Erklärungsweisen zurück¬ gewiesen, denn es sei nicht einzusehn, warum sich diese drei Regungen gerade in religiöser Form betätigen müßten, und es bleibe unerklärt, warum sie in den Menschen gelegt sind. Die ersten beiden Empfindungen sind doch aber so natür¬ lich, daß man nach dem „warum" gar nicht zu fragen braucht, und beim dritten hat die Frage gar keinen Sinn: mit dem Bewußtsein, das heißt mit der Emp¬ findung — und der Mensch ist doch ein bewußtes, empfindendes Wesen — ist die Notwendigkeit, nichts andres als Angenehmes empfinden zu wollen, ge¬ geben, und diese Notwendigkeit nimmt bei einem nicht bloß empfindenden sondern auch denkenden und reflektierenden Wesen die Gestalt des Strebens nach dauernder Glückseligkeit an, das in dem Augenblick, wo jede Aussicht auf solche schwindet, in das Streben nach Vernichtung umschlügt. Daß diese drei Regungen für sich allein auch zusammen noch nicht die Religion ausmache«, ist zuzugeben. Ebenso, daß der Berufung auf irgendeine Offenbarung ein philosophischer Wert nicht zukommt. Für die Philosophie gibt es nur eine Vernunftreligion. Unter Vernunft sei aber hier zu versteh« „das im Denken sich betätigende Streben nach Ergänzung aller in der Erfahrung gegebnen Erkenntnisse zu einer Einheit, deren letzte Gründe und Folgen nicht gegeben sein können, sondern zu dem Gegebnen als letzte Voraussetzungen hinzugedacht werden". Die Aufklärung vor Kant habe es nur zu einer bloßen Berstandes- religion gebracht, zu dem Versuch, durch die Annahme einer Weltursache den tatsächlichen Weltlauf zu erklären, nicht zur Gewinnung von Ideen, die über den Weltlauf hinausführen, also noch nicht zu Kants Vernunftreligion. Die Grundformen jener Vcrstandesreligion oder Metaphysik seien gewesein der Weltmechanismus und die unendliche Substanz mit ihren zwei spinozistischcn Attributen. Der Mechanismus führe zum Atheismus, die unendliche Substanz zum Pnutheismus. Beider Irrtum bestehe darin, daß sie außer der Natur kein Sein anerkennen. Der Materialismus kenne nur die äußere, der Pantheismus die zugleich äußere und innere Natur, wobei die innere als Abbild der außer», also ebenfalls als ein unendliches unveränderliches Sein gedacht wird. Die Unendlichkeit einer derartigen Welt könne nur als eine unendliche Zahl end¬ licher Dinge gedacht werden. Die Erfahrung zeige uns aber kein ruhendes Sein, sondern nur ein ewiges Werden und Geschehen: Entwicklung; nicht ein Werden, das ziellos nur das Vorhaudne zerstört, damit ein Andres an seine Stelle trete, sondern einen stetigen Zusammenhang zweckvoller Gestaltungen. Werde nun dieser Zusammenhang als Entwicklung des Geistes erkannt, so gelange man zur Ergänzung der Welterkenntnis durch transzendente Ideen von praktischem Wert. „Die praktischen Ideale sind sittliche, solange sie sich ans Ziele beziehe», die menschlichem Streben erreichbar sind oder als erreichbar

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/424
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/424>, abgerufen am 22.07.2024.