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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

doch nicht, sondern begnügte sich damit, dem ihm sozial verwandten Adel weit¬
gehende Privilegien und eine patrimoniale Herrscherstellung in der agrarischen
Verfassung des flachen Landes einzuräumen. Indem es gleichsam zwei feind¬
liche Prinzipien gegeneinander ausspielte, stärkte es als tertius Zauäsus seine
eigne Macht. Und während die Landstädte ihre Bedeutung als politische Ge¬
meinwesen immer mehr verlieren, nehmen die Reichsstädte, denen der Westfälische
Frieden die souveräne Landeshoheit zugestanden hatte, den Charakter von Zwerg¬
staaten an, deren Rat, gestützt auf eine neue juristische Auffassung, sich schnell
in die Rolle eines kollegialen xrinoeps IsZidus solutus findet und, wie der
absolute Fürst von seinen Untertanen, von "seinen" Bürgern spricht. Mehr und
mehr wird die privatrechtliche Seite der Patrimonialitüt betont, die städtischen
Ämter dienen nur noch dem persönlichen Vorteil des Inhabers und, mit einer
ausgesprochnen Tendenz zur Erblichkeit, der Bereicherung der herrschenden
Sippen.

Als ein klassisches Beispiel für die Usurpation des absoluten Staatsprinzips
durch eine städtische Obrigkeit führt Preuß eine Kundgebung des Rates von
Hamburg an die erbgesessene Bürgerschaft aus dem Jahre 1602 an, die fol¬
genden Inhalt hat: "Wenn schon eine Obrigkeit gottlos, tyrannisch und geizig
sei, so gebühre dennoch den Untertanen nicht, daß sie sich dagegen auflehnen
und widersetzen, sondern sie sollten dasselbe vielmehr als eine Strafe des All¬
mächtigen, welche die Untertanen mit ihrer Sünde verwirkt haben, erkennen;
wie es denn auch den Untertanen nicht gezieme, der Obrigkeit neue Statuts,
vorzuschreiben, sondern sei solches der Obrigkeit Amt und die Untertanen schuldig,
der Obrigkeit billigen Gehorsam zu beweisen." Und so sprach der Rat von
Hamburg, einer Stadt, in der die patrimoniale Verknöcherung noch nicht einmal
so weit um sich griff wie in den Städten des Binnenlandes, und deren Bürger¬
schaft schließlich die Anerkennung des Grundsatzes durchsetzte, daß die oberste
Gewalt bei ihr und dem Rate in unzertrennlicher Gemeinschaft stehn sollte!

Aber gerade bei Hamburg zeigt sich auch wieder die charakteristische Er¬
scheinung, daß die bürgerschaftlichen Kollegien, die man ehedem aus demokratischen
Gründen dem regierenden Senat an die Seite gesetzt hatte, die Oberalten, die
Sechziger, die Hundertachtziger und die Kirchspielvcrsammlungen in den Zeiten
der patrimonialen Reaktion zu leeren Formen herabsanken und durch ihre
Eifersüchteleien und Kompetenzstreitigkeiten den Einfluß des regierenden Rates
stärkten.

Während der Verfall der Reichsgewalt die oligarchisch patrimoniale Ent¬
artung der Verfassung in den Reichsstädten begünstigte, vollzog sich jene Rück¬
bildung in den Landstädten mit Hilfe des zur Allmacht aufsteigenden Landes¬
fürstentums. Hier hatte der Absolutismus sogar noch ein leichteres Spiel: der
Landesfürst dachte nicht daran, die Rechtlosigkeit der städtischen Untertanen dem
Rate gegenüber zu beseitigen, beschnitt jedoch die Selbständigkeit des Rates in
der Ausübung seiner obrigkeitlichen Funktionen und verwandelte ihn allmählich


Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

doch nicht, sondern begnügte sich damit, dem ihm sozial verwandten Adel weit¬
gehende Privilegien und eine patrimoniale Herrscherstellung in der agrarischen
Verfassung des flachen Landes einzuräumen. Indem es gleichsam zwei feind¬
liche Prinzipien gegeneinander ausspielte, stärkte es als tertius Zauäsus seine
eigne Macht. Und während die Landstädte ihre Bedeutung als politische Ge¬
meinwesen immer mehr verlieren, nehmen die Reichsstädte, denen der Westfälische
Frieden die souveräne Landeshoheit zugestanden hatte, den Charakter von Zwerg¬
staaten an, deren Rat, gestützt auf eine neue juristische Auffassung, sich schnell
in die Rolle eines kollegialen xrinoeps IsZidus solutus findet und, wie der
absolute Fürst von seinen Untertanen, von „seinen" Bürgern spricht. Mehr und
mehr wird die privatrechtliche Seite der Patrimonialitüt betont, die städtischen
Ämter dienen nur noch dem persönlichen Vorteil des Inhabers und, mit einer
ausgesprochnen Tendenz zur Erblichkeit, der Bereicherung der herrschenden
Sippen.

Als ein klassisches Beispiel für die Usurpation des absoluten Staatsprinzips
durch eine städtische Obrigkeit führt Preuß eine Kundgebung des Rates von
Hamburg an die erbgesessene Bürgerschaft aus dem Jahre 1602 an, die fol¬
genden Inhalt hat: „Wenn schon eine Obrigkeit gottlos, tyrannisch und geizig
sei, so gebühre dennoch den Untertanen nicht, daß sie sich dagegen auflehnen
und widersetzen, sondern sie sollten dasselbe vielmehr als eine Strafe des All¬
mächtigen, welche die Untertanen mit ihrer Sünde verwirkt haben, erkennen;
wie es denn auch den Untertanen nicht gezieme, der Obrigkeit neue Statuts,
vorzuschreiben, sondern sei solches der Obrigkeit Amt und die Untertanen schuldig,
der Obrigkeit billigen Gehorsam zu beweisen." Und so sprach der Rat von
Hamburg, einer Stadt, in der die patrimoniale Verknöcherung noch nicht einmal
so weit um sich griff wie in den Städten des Binnenlandes, und deren Bürger¬
schaft schließlich die Anerkennung des Grundsatzes durchsetzte, daß die oberste
Gewalt bei ihr und dem Rate in unzertrennlicher Gemeinschaft stehn sollte!

Aber gerade bei Hamburg zeigt sich auch wieder die charakteristische Er¬
scheinung, daß die bürgerschaftlichen Kollegien, die man ehedem aus demokratischen
Gründen dem regierenden Senat an die Seite gesetzt hatte, die Oberalten, die
Sechziger, die Hundertachtziger und die Kirchspielvcrsammlungen in den Zeiten
der patrimonialen Reaktion zu leeren Formen herabsanken und durch ihre
Eifersüchteleien und Kompetenzstreitigkeiten den Einfluß des regierenden Rates
stärkten.

Während der Verfall der Reichsgewalt die oligarchisch patrimoniale Ent¬
artung der Verfassung in den Reichsstädten begünstigte, vollzog sich jene Rück¬
bildung in den Landstädten mit Hilfe des zur Allmacht aufsteigenden Landes¬
fürstentums. Hier hatte der Absolutismus sogar noch ein leichteres Spiel: der
Landesfürst dachte nicht daran, die Rechtlosigkeit der städtischen Untertanen dem
Rate gegenüber zu beseitigen, beschnitt jedoch die Selbständigkeit des Rates in
der Ausübung seiner obrigkeitlichen Funktionen und verwandelte ihn allmählich


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[0378] Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland doch nicht, sondern begnügte sich damit, dem ihm sozial verwandten Adel weit¬ gehende Privilegien und eine patrimoniale Herrscherstellung in der agrarischen Verfassung des flachen Landes einzuräumen. Indem es gleichsam zwei feind¬ liche Prinzipien gegeneinander ausspielte, stärkte es als tertius Zauäsus seine eigne Macht. Und während die Landstädte ihre Bedeutung als politische Ge¬ meinwesen immer mehr verlieren, nehmen die Reichsstädte, denen der Westfälische Frieden die souveräne Landeshoheit zugestanden hatte, den Charakter von Zwerg¬ staaten an, deren Rat, gestützt auf eine neue juristische Auffassung, sich schnell in die Rolle eines kollegialen xrinoeps IsZidus solutus findet und, wie der absolute Fürst von seinen Untertanen, von „seinen" Bürgern spricht. Mehr und mehr wird die privatrechtliche Seite der Patrimonialitüt betont, die städtischen Ämter dienen nur noch dem persönlichen Vorteil des Inhabers und, mit einer ausgesprochnen Tendenz zur Erblichkeit, der Bereicherung der herrschenden Sippen. Als ein klassisches Beispiel für die Usurpation des absoluten Staatsprinzips durch eine städtische Obrigkeit führt Preuß eine Kundgebung des Rates von Hamburg an die erbgesessene Bürgerschaft aus dem Jahre 1602 an, die fol¬ genden Inhalt hat: „Wenn schon eine Obrigkeit gottlos, tyrannisch und geizig sei, so gebühre dennoch den Untertanen nicht, daß sie sich dagegen auflehnen und widersetzen, sondern sie sollten dasselbe vielmehr als eine Strafe des All¬ mächtigen, welche die Untertanen mit ihrer Sünde verwirkt haben, erkennen; wie es denn auch den Untertanen nicht gezieme, der Obrigkeit neue Statuts, vorzuschreiben, sondern sei solches der Obrigkeit Amt und die Untertanen schuldig, der Obrigkeit billigen Gehorsam zu beweisen." Und so sprach der Rat von Hamburg, einer Stadt, in der die patrimoniale Verknöcherung noch nicht einmal so weit um sich griff wie in den Städten des Binnenlandes, und deren Bürger¬ schaft schließlich die Anerkennung des Grundsatzes durchsetzte, daß die oberste Gewalt bei ihr und dem Rate in unzertrennlicher Gemeinschaft stehn sollte! Aber gerade bei Hamburg zeigt sich auch wieder die charakteristische Er¬ scheinung, daß die bürgerschaftlichen Kollegien, die man ehedem aus demokratischen Gründen dem regierenden Senat an die Seite gesetzt hatte, die Oberalten, die Sechziger, die Hundertachtziger und die Kirchspielvcrsammlungen in den Zeiten der patrimonialen Reaktion zu leeren Formen herabsanken und durch ihre Eifersüchteleien und Kompetenzstreitigkeiten den Einfluß des regierenden Rates stärkten. Während der Verfall der Reichsgewalt die oligarchisch patrimoniale Ent¬ artung der Verfassung in den Reichsstädten begünstigte, vollzog sich jene Rück¬ bildung in den Landstädten mit Hilfe des zur Allmacht aufsteigenden Landes¬ fürstentums. Hier hatte der Absolutismus sogar noch ein leichteres Spiel: der Landesfürst dachte nicht daran, die Rechtlosigkeit der städtischen Untertanen dem Rate gegenüber zu beseitigen, beschnitt jedoch die Selbständigkeit des Rates in der Ausübung seiner obrigkeitlichen Funktionen und verwandelte ihn allmählich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/378>, abgerufen am 22.07.2024.