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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

ausgebildeter Spionage und eines sorgfältig gepflegten Denunziantentums
erstickte.

Ein Asyl der persönlichen Freiheit waren also auch die italienischen Städte
nicht, und gerade eine objektive Betrachtung ihrer Geschichte muß zu der Ver¬
mutung führen, daß das Ideal der städtischen Verfassung, wie es Preuß vor¬
schwebt, einen stark utopistischen Zuschnitt trägt.

Wenn wir also in diesem Punkte dem Verfasser nicht zustimmen können,
so müssen wir ihm um so rückhaltloser beipflichten, wo er den Verfall der
städtischen Selbständigkeit in Deutschland darlegt. Entgegen der landläufigen
Anschauung betrachtet er den Dreißigjährigen Krieg nicht als den Anfang,
sondern als den Abschluß des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs und
damit zugleich auch des Verfalls der sozialen und politischen Freiheit der Städte,
der mit der Verkümmerung der reformatorischen Bewegung und dem Triumph
des Landesfürstcntums Hand in Hand ging. "Die furchtbare Katastrophe des
großen Krieges begann nicht, sondern vollendete nur den Prozeß der wirtschaft¬
lichen und kulturellen Verelendung; wie denn jene Katastrophe selbst ohne die
soeben erwähnten Voraussetzungen gar nicht möglich gewesen wäre."

Im fünfzehnten Jahrhundert begann die Autorität der herrschenden Kirche
dank ihrer zunehmenden Verweltlichung ins Wanken zu geraten. Der Gegensatz
zwischen der in Reichtum und Üppigkeit versunkner Geistlichkeit und den demütig¬
armen ersten Verbreitern des Christentums mußte gerade bei religiösen Ge¬
mütern die Sehnsucht nach der Wiederkehr jener frühen Zustünde wachrufen.
Sekten entstanden, die eine Verinnerlichung der Religion anstrebten, und die
sich desto schneller verbreiteten, je mehr sie von der Kirche bekämpft wurden.
Da sie, wie alle Bewegungen, die an die Frühzeit des Christentums anknüpfen,
einen stark kommunistischen Zug hatten, trugen sie dazu bei, den Boden für die
sozialen Gärungen vorzubereiten, die sich um diese Zeit sowohl auf dem platten
Lande wie in den Städten bemerkbar machten. Dazu kam die Erfindung der
Buchdruckerkunst und die dadurch hervorgerufne Popularisierung der Wissen¬
schaft. Die Gedanken, die die Zeit bewegten, fanden eine ungeahnte Verbreitung
und drangen in alle Schichten des Volkes. Der Bauer begann die Last seiner
persönlichen Unfreiheit, der Städter seine Entrechtung durch die herrschende Kaste
doppelt schwer zu empfinden, und so hatten die von Stadt und Land aus¬
gehenden politisch-sozialen Bewegungen im Grunde dasselbe Ziel: "die genossen¬
schaftliche Freiheit des gemeinen Wesens in den Städten wiederherzustellen und
sie zugleich als neue Errungenschaft auf das Land zu übertragen". Zum ersten¬
mal taucht der Gedanke an die Errichtung eines einheitlichen Volksstaats, eines
demokratischen Kaisertums auf, deren Grundbedingung die Vernichtung der Kirche,
des Adels und des Fürstentums sein mußte.

So lagen die Dinge, als Luther erschien, den Kampfruf gegen Rom erhob
und zu Worms als Sprecher des deutschen Volkes vor Kaiser und Reichsstände
trat. "Das tausendfache Echo, das diese Ereignisse überall in Deutschland er-


Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland

ausgebildeter Spionage und eines sorgfältig gepflegten Denunziantentums
erstickte.

Ein Asyl der persönlichen Freiheit waren also auch die italienischen Städte
nicht, und gerade eine objektive Betrachtung ihrer Geschichte muß zu der Ver¬
mutung führen, daß das Ideal der städtischen Verfassung, wie es Preuß vor¬
schwebt, einen stark utopistischen Zuschnitt trägt.

Wenn wir also in diesem Punkte dem Verfasser nicht zustimmen können,
so müssen wir ihm um so rückhaltloser beipflichten, wo er den Verfall der
städtischen Selbständigkeit in Deutschland darlegt. Entgegen der landläufigen
Anschauung betrachtet er den Dreißigjährigen Krieg nicht als den Anfang,
sondern als den Abschluß des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs und
damit zugleich auch des Verfalls der sozialen und politischen Freiheit der Städte,
der mit der Verkümmerung der reformatorischen Bewegung und dem Triumph
des Landesfürstcntums Hand in Hand ging. „Die furchtbare Katastrophe des
großen Krieges begann nicht, sondern vollendete nur den Prozeß der wirtschaft¬
lichen und kulturellen Verelendung; wie denn jene Katastrophe selbst ohne die
soeben erwähnten Voraussetzungen gar nicht möglich gewesen wäre."

Im fünfzehnten Jahrhundert begann die Autorität der herrschenden Kirche
dank ihrer zunehmenden Verweltlichung ins Wanken zu geraten. Der Gegensatz
zwischen der in Reichtum und Üppigkeit versunkner Geistlichkeit und den demütig¬
armen ersten Verbreitern des Christentums mußte gerade bei religiösen Ge¬
mütern die Sehnsucht nach der Wiederkehr jener frühen Zustünde wachrufen.
Sekten entstanden, die eine Verinnerlichung der Religion anstrebten, und die
sich desto schneller verbreiteten, je mehr sie von der Kirche bekämpft wurden.
Da sie, wie alle Bewegungen, die an die Frühzeit des Christentums anknüpfen,
einen stark kommunistischen Zug hatten, trugen sie dazu bei, den Boden für die
sozialen Gärungen vorzubereiten, die sich um diese Zeit sowohl auf dem platten
Lande wie in den Städten bemerkbar machten. Dazu kam die Erfindung der
Buchdruckerkunst und die dadurch hervorgerufne Popularisierung der Wissen¬
schaft. Die Gedanken, die die Zeit bewegten, fanden eine ungeahnte Verbreitung
und drangen in alle Schichten des Volkes. Der Bauer begann die Last seiner
persönlichen Unfreiheit, der Städter seine Entrechtung durch die herrschende Kaste
doppelt schwer zu empfinden, und so hatten die von Stadt und Land aus¬
gehenden politisch-sozialen Bewegungen im Grunde dasselbe Ziel: „die genossen¬
schaftliche Freiheit des gemeinen Wesens in den Städten wiederherzustellen und
sie zugleich als neue Errungenschaft auf das Land zu übertragen". Zum ersten¬
mal taucht der Gedanke an die Errichtung eines einheitlichen Volksstaats, eines
demokratischen Kaisertums auf, deren Grundbedingung die Vernichtung der Kirche,
des Adels und des Fürstentums sein mußte.

So lagen die Dinge, als Luther erschien, den Kampfruf gegen Rom erhob
und zu Worms als Sprecher des deutschen Volkes vor Kaiser und Reichsstände
trat. „Das tausendfache Echo, das diese Ereignisse überall in Deutschland er-


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[0376] Der verfall des städtischen Regiments in Deutschland ausgebildeter Spionage und eines sorgfältig gepflegten Denunziantentums erstickte. Ein Asyl der persönlichen Freiheit waren also auch die italienischen Städte nicht, und gerade eine objektive Betrachtung ihrer Geschichte muß zu der Ver¬ mutung führen, daß das Ideal der städtischen Verfassung, wie es Preuß vor¬ schwebt, einen stark utopistischen Zuschnitt trägt. Wenn wir also in diesem Punkte dem Verfasser nicht zustimmen können, so müssen wir ihm um so rückhaltloser beipflichten, wo er den Verfall der städtischen Selbständigkeit in Deutschland darlegt. Entgegen der landläufigen Anschauung betrachtet er den Dreißigjährigen Krieg nicht als den Anfang, sondern als den Abschluß des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs und damit zugleich auch des Verfalls der sozialen und politischen Freiheit der Städte, der mit der Verkümmerung der reformatorischen Bewegung und dem Triumph des Landesfürstcntums Hand in Hand ging. „Die furchtbare Katastrophe des großen Krieges begann nicht, sondern vollendete nur den Prozeß der wirtschaft¬ lichen und kulturellen Verelendung; wie denn jene Katastrophe selbst ohne die soeben erwähnten Voraussetzungen gar nicht möglich gewesen wäre." Im fünfzehnten Jahrhundert begann die Autorität der herrschenden Kirche dank ihrer zunehmenden Verweltlichung ins Wanken zu geraten. Der Gegensatz zwischen der in Reichtum und Üppigkeit versunkner Geistlichkeit und den demütig¬ armen ersten Verbreitern des Christentums mußte gerade bei religiösen Ge¬ mütern die Sehnsucht nach der Wiederkehr jener frühen Zustünde wachrufen. Sekten entstanden, die eine Verinnerlichung der Religion anstrebten, und die sich desto schneller verbreiteten, je mehr sie von der Kirche bekämpft wurden. Da sie, wie alle Bewegungen, die an die Frühzeit des Christentums anknüpfen, einen stark kommunistischen Zug hatten, trugen sie dazu bei, den Boden für die sozialen Gärungen vorzubereiten, die sich um diese Zeit sowohl auf dem platten Lande wie in den Städten bemerkbar machten. Dazu kam die Erfindung der Buchdruckerkunst und die dadurch hervorgerufne Popularisierung der Wissen¬ schaft. Die Gedanken, die die Zeit bewegten, fanden eine ungeahnte Verbreitung und drangen in alle Schichten des Volkes. Der Bauer begann die Last seiner persönlichen Unfreiheit, der Städter seine Entrechtung durch die herrschende Kaste doppelt schwer zu empfinden, und so hatten die von Stadt und Land aus¬ gehenden politisch-sozialen Bewegungen im Grunde dasselbe Ziel: „die genossen¬ schaftliche Freiheit des gemeinen Wesens in den Städten wiederherzustellen und sie zugleich als neue Errungenschaft auf das Land zu übertragen". Zum ersten¬ mal taucht der Gedanke an die Errichtung eines einheitlichen Volksstaats, eines demokratischen Kaisertums auf, deren Grundbedingung die Vernichtung der Kirche, des Adels und des Fürstentums sein mußte. So lagen die Dinge, als Luther erschien, den Kampfruf gegen Rom erhob und zu Worms als Sprecher des deutschen Volkes vor Kaiser und Reichsstände trat. „Das tausendfache Echo, das diese Ereignisse überall in Deutschland er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/376>, abgerufen am 22.07.2024.