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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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in einer Reihe von Generationen einander folgen, dem dichterisch gestalteten
Stoff das Gepräge ihrer Persönlichkeit geben". Wundt verwirft mit Recht die
Bezeichnung Volksdichtung, weil sich damit der Urgedanke verbunden hat, daß
ein ganzes Volk Verfasser eines Liedes oder eines Epos sein könne, und nennt
mit Jmmisch die sogenannten Volksdichtungen, die, wie die homerischen Epen,
nach heutiger Annahme aus einer Anzahl von Einzeldichtungen zusammen¬
gearbeitet sind, Gemeinschaftsdichtungen. Dagegen sei der Mythus wirklich eine
Schöpfung der Volksphantasie. "Nicht als ob nicht auch hier das Erzeugnis
der Gesamtheit schließlich von den einzelnen herrührte, die an ihr teilnehmen.
Aber wie die Bedeutung aller andern gemeinsamen Schöpfungen, so beruht auch
die des Mythus darauf, daß alles, was der einzelne hinzubringen mag, un¬
mittelbar von den andern als adäquater Ausdruck eigner Vorstellungen und
Affekte erfaßt wird, und daß daher unbegrenzt viele unabhängig voneinander
die Schöpfer einer und derselben mythologischen Vorstellung sein können. So
hat sicherlich nicht einer allein in dem Traumbild eines Verstorbnen dessen
Geist gesehn, sondern wie das Traumbild ein allgemein menschliches Phänomen
ist, so mußte sich diese Vorstellung jedem aufdrängen. Ebenso ist die Assoziativ"
des Ausatmens im Moment des Todes mit dem Entweichen des Lebens oder
der Seele für eine ursprüngliche Stufe des Bewußtseins eine so zwingende,
daß nicht erst ein einzelner Denker oder Dichter dazu gehörte, sie auszusprechen."
Die solchergestalt entstandnen gemeinsamen Vorstellungen oder Mythen werden
dann freilich Gegenstand sowohl der Dichtkunst wie der Theologie und empfangen
von Dichtern und Denkern ihre mannigfachen individuellen Gestalten. 1906
ist nun (Leipzig, bei Wilhelm Engelmann) der zweite Teil dieses Bandes der
Völkerpsychologie erschienen, der jedoch auch noch nicht der letzte sein kann.
Kein Vorwort gibt darüber Auskunft, aber das letzte Kapitel handelt von
"Schutzdämouen als rückstüudigeu mythologische" Bildungen", und bei denen
kann uns doch der Verfasser nicht fitzen lassen, besonders da er im ersten
Teile des "Bandes" (in der Anmerkung auf S. 543) versprochen hat: "Die
Frage nach dem Verhältnis zwischen Mythus und Religion sowie die der
Psychologischen Entstehung der letztern wird uns erst im Schlußkapitel des
zweiten Teiles beschäftige" können." Dieser zweite Teil wird eben zu stark
geworden sein für einen Band, und so wird denn der "Band" aus mindestens
drei Bänden bestehn. Wir versuchen, deu Gedankengang des ersten der vier
Abschnitte zu skizziere", in die sich der zweite Teil gliedert; er ist überschrieben:
Allgemeine Formen der Seelenvorstellungeu.

Vor fünfzig Jahren hat mich die Theorie des Naturmythus entzückt, die
ich zuerst aus der anziehenden Darstellung Max Dunckers in seiner Geschichte
des Altertums kennen lernte. Aber diese Theorie ist von der doch sehr hoch
entwickelten into-iranischen und hellenischen Mythologie abstrahiert, und Wundt
wird wohl recht haben, wenn er meint, mit dem Naturmythus könne die Ent¬
wicklung nicht begonnen haben; der noch ganz kindische primitive Mensch sehe


Neues von Mundt

in einer Reihe von Generationen einander folgen, dem dichterisch gestalteten
Stoff das Gepräge ihrer Persönlichkeit geben". Wundt verwirft mit Recht die
Bezeichnung Volksdichtung, weil sich damit der Urgedanke verbunden hat, daß
ein ganzes Volk Verfasser eines Liedes oder eines Epos sein könne, und nennt
mit Jmmisch die sogenannten Volksdichtungen, die, wie die homerischen Epen,
nach heutiger Annahme aus einer Anzahl von Einzeldichtungen zusammen¬
gearbeitet sind, Gemeinschaftsdichtungen. Dagegen sei der Mythus wirklich eine
Schöpfung der Volksphantasie. „Nicht als ob nicht auch hier das Erzeugnis
der Gesamtheit schließlich von den einzelnen herrührte, die an ihr teilnehmen.
Aber wie die Bedeutung aller andern gemeinsamen Schöpfungen, so beruht auch
die des Mythus darauf, daß alles, was der einzelne hinzubringen mag, un¬
mittelbar von den andern als adäquater Ausdruck eigner Vorstellungen und
Affekte erfaßt wird, und daß daher unbegrenzt viele unabhängig voneinander
die Schöpfer einer und derselben mythologischen Vorstellung sein können. So
hat sicherlich nicht einer allein in dem Traumbild eines Verstorbnen dessen
Geist gesehn, sondern wie das Traumbild ein allgemein menschliches Phänomen
ist, so mußte sich diese Vorstellung jedem aufdrängen. Ebenso ist die Assoziativ»
des Ausatmens im Moment des Todes mit dem Entweichen des Lebens oder
der Seele für eine ursprüngliche Stufe des Bewußtseins eine so zwingende,
daß nicht erst ein einzelner Denker oder Dichter dazu gehörte, sie auszusprechen."
Die solchergestalt entstandnen gemeinsamen Vorstellungen oder Mythen werden
dann freilich Gegenstand sowohl der Dichtkunst wie der Theologie und empfangen
von Dichtern und Denkern ihre mannigfachen individuellen Gestalten. 1906
ist nun (Leipzig, bei Wilhelm Engelmann) der zweite Teil dieses Bandes der
Völkerpsychologie erschienen, der jedoch auch noch nicht der letzte sein kann.
Kein Vorwort gibt darüber Auskunft, aber das letzte Kapitel handelt von
„Schutzdämouen als rückstüudigeu mythologische» Bildungen", und bei denen
kann uns doch der Verfasser nicht fitzen lassen, besonders da er im ersten
Teile des „Bandes" (in der Anmerkung auf S. 543) versprochen hat: „Die
Frage nach dem Verhältnis zwischen Mythus und Religion sowie die der
Psychologischen Entstehung der letztern wird uns erst im Schlußkapitel des
zweiten Teiles beschäftige» können." Dieser zweite Teil wird eben zu stark
geworden sein für einen Band, und so wird denn der „Band" aus mindestens
drei Bänden bestehn. Wir versuchen, deu Gedankengang des ersten der vier
Abschnitte zu skizziere«, in die sich der zweite Teil gliedert; er ist überschrieben:
Allgemeine Formen der Seelenvorstellungeu.

Vor fünfzig Jahren hat mich die Theorie des Naturmythus entzückt, die
ich zuerst aus der anziehenden Darstellung Max Dunckers in seiner Geschichte
des Altertums kennen lernte. Aber diese Theorie ist von der doch sehr hoch
entwickelten into-iranischen und hellenischen Mythologie abstrahiert, und Wundt
wird wohl recht haben, wenn er meint, mit dem Naturmythus könne die Ent¬
wicklung nicht begonnen haben; der noch ganz kindische primitive Mensch sehe


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[0327] Neues von Mundt in einer Reihe von Generationen einander folgen, dem dichterisch gestalteten Stoff das Gepräge ihrer Persönlichkeit geben". Wundt verwirft mit Recht die Bezeichnung Volksdichtung, weil sich damit der Urgedanke verbunden hat, daß ein ganzes Volk Verfasser eines Liedes oder eines Epos sein könne, und nennt mit Jmmisch die sogenannten Volksdichtungen, die, wie die homerischen Epen, nach heutiger Annahme aus einer Anzahl von Einzeldichtungen zusammen¬ gearbeitet sind, Gemeinschaftsdichtungen. Dagegen sei der Mythus wirklich eine Schöpfung der Volksphantasie. „Nicht als ob nicht auch hier das Erzeugnis der Gesamtheit schließlich von den einzelnen herrührte, die an ihr teilnehmen. Aber wie die Bedeutung aller andern gemeinsamen Schöpfungen, so beruht auch die des Mythus darauf, daß alles, was der einzelne hinzubringen mag, un¬ mittelbar von den andern als adäquater Ausdruck eigner Vorstellungen und Affekte erfaßt wird, und daß daher unbegrenzt viele unabhängig voneinander die Schöpfer einer und derselben mythologischen Vorstellung sein können. So hat sicherlich nicht einer allein in dem Traumbild eines Verstorbnen dessen Geist gesehn, sondern wie das Traumbild ein allgemein menschliches Phänomen ist, so mußte sich diese Vorstellung jedem aufdrängen. Ebenso ist die Assoziativ» des Ausatmens im Moment des Todes mit dem Entweichen des Lebens oder der Seele für eine ursprüngliche Stufe des Bewußtseins eine so zwingende, daß nicht erst ein einzelner Denker oder Dichter dazu gehörte, sie auszusprechen." Die solchergestalt entstandnen gemeinsamen Vorstellungen oder Mythen werden dann freilich Gegenstand sowohl der Dichtkunst wie der Theologie und empfangen von Dichtern und Denkern ihre mannigfachen individuellen Gestalten. 1906 ist nun (Leipzig, bei Wilhelm Engelmann) der zweite Teil dieses Bandes der Völkerpsychologie erschienen, der jedoch auch noch nicht der letzte sein kann. Kein Vorwort gibt darüber Auskunft, aber das letzte Kapitel handelt von „Schutzdämouen als rückstüudigeu mythologische» Bildungen", und bei denen kann uns doch der Verfasser nicht fitzen lassen, besonders da er im ersten Teile des „Bandes" (in der Anmerkung auf S. 543) versprochen hat: „Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mythus und Religion sowie die der Psychologischen Entstehung der letztern wird uns erst im Schlußkapitel des zweiten Teiles beschäftige» können." Dieser zweite Teil wird eben zu stark geworden sein für einen Band, und so wird denn der „Band" aus mindestens drei Bänden bestehn. Wir versuchen, deu Gedankengang des ersten der vier Abschnitte zu skizziere«, in die sich der zweite Teil gliedert; er ist überschrieben: Allgemeine Formen der Seelenvorstellungeu. Vor fünfzig Jahren hat mich die Theorie des Naturmythus entzückt, die ich zuerst aus der anziehenden Darstellung Max Dunckers in seiner Geschichte des Altertums kennen lernte. Aber diese Theorie ist von der doch sehr hoch entwickelten into-iranischen und hellenischen Mythologie abstrahiert, und Wundt wird wohl recht haben, wenn er meint, mit dem Naturmythus könne die Ent¬ wicklung nicht begonnen haben; der noch ganz kindische primitive Mensch sehe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/327>, abgerufen am 22.07.2024.