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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasage

ungebrochen, und von einer neuen Religion wollte man vollends nichts wissen.
So begnügte sich der weitsichtige und verschlagne Polenherzog einstweilen
damit, durch friedliche Beziehungen an der Ostsee Einfluß zu gewinnen und
den Dänen, die durch gemeinsame Feindschaft gegen die deutsche Macht mit
ihm die gleichen Interessen hatten, die Hand zu reichen. Die Dünen ihrer¬
seits erkannten die Notwendigkeit, möglichst bald auf der Südseite der Ostsee
festen Fuß zu fassen.

Diesen Umständen nun verdankt der Handelsplatz Julin seine erste Blüte.
Mscislaw mußte nämlich zur Erreichung seiner Zwecke bemüht sein, dem pol¬
nischen Binnenlande zwischen Oder und Weichsel eine günstige Gelegenheit
zum Absatz der Landesprodukte an der Ostseeküste zu verschaffen, ferner aber
einen vielbenutzten Handelsweg durch das von ihm beherrschte Land zu leiten.
Für die aufstrebende russische Macht in Kiew kam dieser Wunsch sehr gelegen.
Die Russen konnten auf dem Wege über Polen nun auch mit Dünemark in
Handelsverbindung treten. Polen selbst aber konnte seine eignen Erzeugnisse,
Pelzwerk, Honig, gesalzne Fische auf diesem Weg an die Küste bringen. Wo
mußte nun der Endpunkt dieses Handelswegs liegen, der besonders auf den
Verkehr mit Dänemark berechnet war? Natürlich nicht an der von Dänemark
zu entlegnen, durch die Nachbarschaft der Preußen gefährdeten Weichsel¬
mündung, sondern an der Odermündung. Von den drei Armen, in denen die
Oder dem Haff entströmt, kam der westliche, die Peene, deren Hinterland schon
unter sächsischem Einfluß stand, für Polen nicht in Betracht. Der mittlere,
die Swine, war nicht so unmittelbar und bequem von Osten her zu ereichen,
auch in jener Blütezeit der Seeräuberei zu wenig gegen das offne Meer hin
gesichert. Der östliche, die Dievenow. war auf dem Wege von Polen her der
nächste Oberarm; er war in seinem obern Teile schmal und besaß eine ver¬
sandete Mündung. Wenn man an einer schmalen Stelle die Dievenow über¬
schritt und sich drüben festsetzte, konnte man nach Bedarf auch die Mündung
der Swine leicht erreichen, war zugleich gegen das Meer hin leidlich gesichert
und hatte doch den bequemen Wasserweg stromaufwärts frei. Hier also mußte
der Handelsplatz liegen, den man brauchte. Es ist genau die Stelle, auf der
heute das Städtchen Wollin liegt, das alte Julin, wie es damals ge¬
nannt wurde.

Julin hob sich durch die neuen Handelsbeziehungen zu beträchtlicher Blüte.
Daß der Verkehr mit Rußland und dem fernen Südosten Europas nicht nur
auf einer Sage beruht, beweisen die zahlreichen Funde arabischer Münzen in
der Umgebung von Wollin. Diese Münzen stammen sämtlich aus dem zehnten
und elften Jahrhundert; sie waren in jener Zeit nicht nur im mohammeda¬
nischen Orient, sondern auch in Kiew ein beliebtes Zahlungsmittel. Man darf
wohl der Überlieferung glauben, daß Julin damals an Umfang die meisten
Städte des slawischen Landes zwischen Elbe und Bug übertraf, und daß dort
ein reges Leben und Treiben herrschte. Den Julinern wird nachgerühmt, daß


Die vinetasage

ungebrochen, und von einer neuen Religion wollte man vollends nichts wissen.
So begnügte sich der weitsichtige und verschlagne Polenherzog einstweilen
damit, durch friedliche Beziehungen an der Ostsee Einfluß zu gewinnen und
den Dänen, die durch gemeinsame Feindschaft gegen die deutsche Macht mit
ihm die gleichen Interessen hatten, die Hand zu reichen. Die Dünen ihrer¬
seits erkannten die Notwendigkeit, möglichst bald auf der Südseite der Ostsee
festen Fuß zu fassen.

Diesen Umständen nun verdankt der Handelsplatz Julin seine erste Blüte.
Mscislaw mußte nämlich zur Erreichung seiner Zwecke bemüht sein, dem pol¬
nischen Binnenlande zwischen Oder und Weichsel eine günstige Gelegenheit
zum Absatz der Landesprodukte an der Ostseeküste zu verschaffen, ferner aber
einen vielbenutzten Handelsweg durch das von ihm beherrschte Land zu leiten.
Für die aufstrebende russische Macht in Kiew kam dieser Wunsch sehr gelegen.
Die Russen konnten auf dem Wege über Polen nun auch mit Dünemark in
Handelsverbindung treten. Polen selbst aber konnte seine eignen Erzeugnisse,
Pelzwerk, Honig, gesalzne Fische auf diesem Weg an die Küste bringen. Wo
mußte nun der Endpunkt dieses Handelswegs liegen, der besonders auf den
Verkehr mit Dänemark berechnet war? Natürlich nicht an der von Dänemark
zu entlegnen, durch die Nachbarschaft der Preußen gefährdeten Weichsel¬
mündung, sondern an der Odermündung. Von den drei Armen, in denen die
Oder dem Haff entströmt, kam der westliche, die Peene, deren Hinterland schon
unter sächsischem Einfluß stand, für Polen nicht in Betracht. Der mittlere,
die Swine, war nicht so unmittelbar und bequem von Osten her zu ereichen,
auch in jener Blütezeit der Seeräuberei zu wenig gegen das offne Meer hin
gesichert. Der östliche, die Dievenow. war auf dem Wege von Polen her der
nächste Oberarm; er war in seinem obern Teile schmal und besaß eine ver¬
sandete Mündung. Wenn man an einer schmalen Stelle die Dievenow über¬
schritt und sich drüben festsetzte, konnte man nach Bedarf auch die Mündung
der Swine leicht erreichen, war zugleich gegen das Meer hin leidlich gesichert
und hatte doch den bequemen Wasserweg stromaufwärts frei. Hier also mußte
der Handelsplatz liegen, den man brauchte. Es ist genau die Stelle, auf der
heute das Städtchen Wollin liegt, das alte Julin, wie es damals ge¬
nannt wurde.

Julin hob sich durch die neuen Handelsbeziehungen zu beträchtlicher Blüte.
Daß der Verkehr mit Rußland und dem fernen Südosten Europas nicht nur
auf einer Sage beruht, beweisen die zahlreichen Funde arabischer Münzen in
der Umgebung von Wollin. Diese Münzen stammen sämtlich aus dem zehnten
und elften Jahrhundert; sie waren in jener Zeit nicht nur im mohammeda¬
nischen Orient, sondern auch in Kiew ein beliebtes Zahlungsmittel. Man darf
wohl der Überlieferung glauben, daß Julin damals an Umfang die meisten
Städte des slawischen Landes zwischen Elbe und Bug übertraf, und daß dort
ein reges Leben und Treiben herrschte. Den Julinern wird nachgerühmt, daß


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[0028] Die vinetasage ungebrochen, und von einer neuen Religion wollte man vollends nichts wissen. So begnügte sich der weitsichtige und verschlagne Polenherzog einstweilen damit, durch friedliche Beziehungen an der Ostsee Einfluß zu gewinnen und den Dänen, die durch gemeinsame Feindschaft gegen die deutsche Macht mit ihm die gleichen Interessen hatten, die Hand zu reichen. Die Dünen ihrer¬ seits erkannten die Notwendigkeit, möglichst bald auf der Südseite der Ostsee festen Fuß zu fassen. Diesen Umständen nun verdankt der Handelsplatz Julin seine erste Blüte. Mscislaw mußte nämlich zur Erreichung seiner Zwecke bemüht sein, dem pol¬ nischen Binnenlande zwischen Oder und Weichsel eine günstige Gelegenheit zum Absatz der Landesprodukte an der Ostseeküste zu verschaffen, ferner aber einen vielbenutzten Handelsweg durch das von ihm beherrschte Land zu leiten. Für die aufstrebende russische Macht in Kiew kam dieser Wunsch sehr gelegen. Die Russen konnten auf dem Wege über Polen nun auch mit Dünemark in Handelsverbindung treten. Polen selbst aber konnte seine eignen Erzeugnisse, Pelzwerk, Honig, gesalzne Fische auf diesem Weg an die Küste bringen. Wo mußte nun der Endpunkt dieses Handelswegs liegen, der besonders auf den Verkehr mit Dänemark berechnet war? Natürlich nicht an der von Dänemark zu entlegnen, durch die Nachbarschaft der Preußen gefährdeten Weichsel¬ mündung, sondern an der Odermündung. Von den drei Armen, in denen die Oder dem Haff entströmt, kam der westliche, die Peene, deren Hinterland schon unter sächsischem Einfluß stand, für Polen nicht in Betracht. Der mittlere, die Swine, war nicht so unmittelbar und bequem von Osten her zu ereichen, auch in jener Blütezeit der Seeräuberei zu wenig gegen das offne Meer hin gesichert. Der östliche, die Dievenow. war auf dem Wege von Polen her der nächste Oberarm; er war in seinem obern Teile schmal und besaß eine ver¬ sandete Mündung. Wenn man an einer schmalen Stelle die Dievenow über¬ schritt und sich drüben festsetzte, konnte man nach Bedarf auch die Mündung der Swine leicht erreichen, war zugleich gegen das Meer hin leidlich gesichert und hatte doch den bequemen Wasserweg stromaufwärts frei. Hier also mußte der Handelsplatz liegen, den man brauchte. Es ist genau die Stelle, auf der heute das Städtchen Wollin liegt, das alte Julin, wie es damals ge¬ nannt wurde. Julin hob sich durch die neuen Handelsbeziehungen zu beträchtlicher Blüte. Daß der Verkehr mit Rußland und dem fernen Südosten Europas nicht nur auf einer Sage beruht, beweisen die zahlreichen Funde arabischer Münzen in der Umgebung von Wollin. Diese Münzen stammen sämtlich aus dem zehnten und elften Jahrhundert; sie waren in jener Zeit nicht nur im mohammeda¬ nischen Orient, sondern auch in Kiew ein beliebtes Zahlungsmittel. Man darf wohl der Überlieferung glauben, daß Julin damals an Umfang die meisten Städte des slawischen Landes zwischen Elbe und Bug übertraf, und daß dort ein reges Leben und Treiben herrschte. Den Julinern wird nachgerühmt, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/28>, abgerufen am 22.07.2024.