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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinewsage

angelegt hatte, durch die Verknüpfung des Imperiums mit der deutschen Krone
unter Otto dem Großen einen neuen Impuls erhalten. Die Tätigkeit des
gewaltigen Herzogs Gero bedrohte das Slawentum auf das schwerste. Unter
dem Eindrucke dieser Gefahr ballten sich die Massen der slawischen Bevölkerung
östlich von der Oder bis zur Weichsel hin zu einer politischen Einheit zu¬
sammen, indem sie den Fürsten Mscislaw als ihren Führer und Herrn an¬
erkannten. Das ist der Anfang des polnischen Reichs.

Es ist ein alter, auch heute noch immer wiederholter Irrtum, daß die
Polen von Hause aus eine besondre Völkerschaft innerhalb der Masse der West¬
slawen gewesen seien. Die Westslawen hatten ursprünglich eine sehr lose ge¬
fügte Gauverfassung, die allerdings durch die Zusammenfassung verschiedner
Gauverbände in größern Landesbezirken zu gemeinsamer Besiedlung und Ver¬
teidigung -- meist, was für die fischereitreibenden Slawen bezeichnend ist, nach
Flußgebieten benannt -- die Abgrenzung nach kleinen Volksgemeinschaften
kannte. Namen und Einteilung dieser "Stämme" und der von ihnen zeitweise
geschlossenen größern Verbände wechseln jedoch öfter, und die allmählich ent¬
stehenden mundartlichen Unterschiede in der Sprache der verschiednen Gegenden
sind so unbedeutend, daß man an Unterschiede wirklicher Volksstämme von
irgendwelcher Eigenart und innerm Zusammenhang innerhalb der westslawischen
Bevölkerungsmasfe nicht denken darf -- vielleicht mit Ausnahme von Böhmen
und Mührer, wo sich frühzeitig in einem geographisch abgeschlossenen Gebiete
nationale Fürstentümer gebildet hatten. Man bezeichnete nur gewisse Gruppen
dieser Bevölkerung nach der geographischen Eigentümlichkeit des von ihnen be¬
wohnten Gebiets, unterschied daher ganz allgemein die "Küstenbewohner" als
xoiuorano (Pommern) von den Binnenländern, und unter diesen wieder die
"Polen" (xolg,of oder xolao^ -- Ebnenbewohner, Unterländer, von xols -- Feld,
Ebne) von den ursprünglich in Oberungarn wohnenden "Horwaten" (dorovat --
Bergbewohner, Oberländer von liora --Berg), deren Hauptmasse durch den
Einbruch der Avaren abgesprengt und nach Süden gedrängt wurde, wo sie
als Chrowaten (Kroaten) noch heute wohnen.

Diese Feststellung war notwendig zum Verständnis der Tatsache, daß in
dem Streben des Fürsten Mscislaw, möglichst alle Westslawen unter seiner
Herrschaft zu sammeln, keineswegs die Eroberungslust eines Stammfürsten zu
sehen ist, der über sein angestammtes Herrschaftsgebiet hinausgreift, sondern
eine aus der gegebnen Lage unmittelbar folgende Aufgabe. Beim Vordringen
nach Westen mußte der Polenfürst sehr bald erkennen, daß sein Bemühen ver¬
geblich war. Er unterlag im Kampfe mit Gero. Das Opfer, zu dem sich
die trotzigen Dänen nicht so leicht entschlossen, brachte der geschmeidige Slawen¬
fürst in raschem Erfassen der Lage sofort; er wurde deutscher Reichsfürst und
Christ und brachte dadurch die Bewegung der Deutschen nach Osten zum Still¬
stand. Um so mehr lag ihm nun daran, die Ostseeküste zu gewinnen, aber
gerade hier lebte der Unabhängigkeitssinn der slawischen Stämme noch ganz


Die vinewsage

angelegt hatte, durch die Verknüpfung des Imperiums mit der deutschen Krone
unter Otto dem Großen einen neuen Impuls erhalten. Die Tätigkeit des
gewaltigen Herzogs Gero bedrohte das Slawentum auf das schwerste. Unter
dem Eindrucke dieser Gefahr ballten sich die Massen der slawischen Bevölkerung
östlich von der Oder bis zur Weichsel hin zu einer politischen Einheit zu¬
sammen, indem sie den Fürsten Mscislaw als ihren Führer und Herrn an¬
erkannten. Das ist der Anfang des polnischen Reichs.

Es ist ein alter, auch heute noch immer wiederholter Irrtum, daß die
Polen von Hause aus eine besondre Völkerschaft innerhalb der Masse der West¬
slawen gewesen seien. Die Westslawen hatten ursprünglich eine sehr lose ge¬
fügte Gauverfassung, die allerdings durch die Zusammenfassung verschiedner
Gauverbände in größern Landesbezirken zu gemeinsamer Besiedlung und Ver¬
teidigung — meist, was für die fischereitreibenden Slawen bezeichnend ist, nach
Flußgebieten benannt — die Abgrenzung nach kleinen Volksgemeinschaften
kannte. Namen und Einteilung dieser „Stämme" und der von ihnen zeitweise
geschlossenen größern Verbände wechseln jedoch öfter, und die allmählich ent¬
stehenden mundartlichen Unterschiede in der Sprache der verschiednen Gegenden
sind so unbedeutend, daß man an Unterschiede wirklicher Volksstämme von
irgendwelcher Eigenart und innerm Zusammenhang innerhalb der westslawischen
Bevölkerungsmasfe nicht denken darf — vielleicht mit Ausnahme von Böhmen
und Mührer, wo sich frühzeitig in einem geographisch abgeschlossenen Gebiete
nationale Fürstentümer gebildet hatten. Man bezeichnete nur gewisse Gruppen
dieser Bevölkerung nach der geographischen Eigentümlichkeit des von ihnen be¬
wohnten Gebiets, unterschied daher ganz allgemein die „Küstenbewohner" als
xoiuorano (Pommern) von den Binnenländern, und unter diesen wieder die
„Polen" (xolg,of oder xolao^ — Ebnenbewohner, Unterländer, von xols — Feld,
Ebne) von den ursprünglich in Oberungarn wohnenden „Horwaten" (dorovat —
Bergbewohner, Oberländer von liora —Berg), deren Hauptmasse durch den
Einbruch der Avaren abgesprengt und nach Süden gedrängt wurde, wo sie
als Chrowaten (Kroaten) noch heute wohnen.

Diese Feststellung war notwendig zum Verständnis der Tatsache, daß in
dem Streben des Fürsten Mscislaw, möglichst alle Westslawen unter seiner
Herrschaft zu sammeln, keineswegs die Eroberungslust eines Stammfürsten zu
sehen ist, der über sein angestammtes Herrschaftsgebiet hinausgreift, sondern
eine aus der gegebnen Lage unmittelbar folgende Aufgabe. Beim Vordringen
nach Westen mußte der Polenfürst sehr bald erkennen, daß sein Bemühen ver¬
geblich war. Er unterlag im Kampfe mit Gero. Das Opfer, zu dem sich
die trotzigen Dänen nicht so leicht entschlossen, brachte der geschmeidige Slawen¬
fürst in raschem Erfassen der Lage sofort; er wurde deutscher Reichsfürst und
Christ und brachte dadurch die Bewegung der Deutschen nach Osten zum Still¬
stand. Um so mehr lag ihm nun daran, die Ostseeküste zu gewinnen, aber
gerade hier lebte der Unabhängigkeitssinn der slawischen Stämme noch ganz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/27>, abgerufen am 22.07.2024.