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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Die vinetasage

verwischte, und um diese selbstverschuldete Unklarheit zu beseitigen, aus der
Fülle seiner Gelehrsamkeit allerlei gar nicht dazu gehörende Tatsachen heranzog.
Durch ihn wurde die Geschichte Vinetas chronologisch verschoben. Ihre Zer¬
störung durch Erik Ejegod wurde mit einem sagenhaften Zug des Dänen¬
königs Henning aus alter Zeit über die Ostsee in Verbindung gebracht.
Damit wurde die Zeit ihrer Blüte in das Zeitalter Karls des Großen zurück¬
geschoben, und um dieses Wunder einer so frühzeitigen Kultur an dieser
Stelle begreiflicher zu machen, erfand man mit dem kühnen Kombinationssiun
der damaligen Gelehrsamkeit auch für den Namen der Stadt Julin eine neue
Erklärung, nämlich das Märchen von ihrer Gründung durch Julius Cäsar!
Der Gipfel der Abenteuerlichkeit sollte freilich dadurch noch nicht erreicht sein.

Auch Bugenhagen, der gelehrte Freund und treffliche Genosse Luthers,
hat zur weitern Entwicklung der Vinetasage beigetragen. Vugenhagen durch¬
forschte bei Abfassung seiner berühmten "Pommerania" nicht nur die alten
handschriftlichen Quellen, sondern er trat auch als geborner Wolliner den
Dingen mit praktischen Nachforschungen in seiner Heimat näher. Es konnte
ihm nicht einfallen, an der von allen Autoritäten seiner Zeit vertretnen Tat¬
sache zu zweifeln, daß an seiner heimischen Küste eine Stadt Bineta gelegen
habe. Und nun erfuhr er, daß die Fischer der Küste von Usedom das
Damerower Steinriff für die Überreste einer versunkner Stadt hielten. Ob
sich wirklich noch ein Rest der Erinnerung an die alte Jomsburg im Volke
erhalten hatte? Das kann natürlich niemals entschieden werden; die Stelle
der Burg und ihr Name waren zweifellos gänzlich verschollen, aber es ist
möglich, daß in der Deutung des Damerower Riffs doch noch eine Erinnerung
daran zu erkennen ist. Für Bugenhagen genügte das, was er erfahren hatte,
um in dem Damerower Riff das ehemalige Vineta zu vermuten. Die Brücke
zwischen einer dunkeln Volksüberlieferung und einer irregeführten Geschichts¬
forschung war geschlagen. Nun konnte sich die Sage ungestört weiter ent¬
wickeln. Übrigens hat Bugenhagen seine Vermutung niemals als Gewißheit
ausgegeben.

Trotzdem arbeitete die Phantasie der damaligen Gelehrtenwelt weiter.
Der Rostocker Jurist Nikolaus Marschalk schilderte mit großer Bestimmtheit
den Handelsverkehr Vinetas mit den fernsten Völkern Europas und Asiens;
Vineta sei dann untergegangen und Julin emporgekommen. Unter dem Ein¬
fluß dieser Auffassung beschloß der junge Thomas Kantzow, der spätere ver¬
dienstvolle pommersche Geschichtschreiber, der 1525 in Rostock studiert hatte,
an Ort und Stelle Nachforschungen zu unternehmen. Von Wolgast aus
führte er seinen Plan aus und ließ sich nach dem Damerower Riff rudern.
Hier spielte ihm die Phantasie einen seltsamen Streich. Er glaubte zu er¬
kennen, daß die großen Steine ans dem Meeresgrund in geordneten Reihen
lagen; er schloß daraus, daß es die Fundamente von Häusern seien, die einst
in bestimmten Straszenzügen geordnet waren. Kantzow war es, der seitdem


Die vinetasage

verwischte, und um diese selbstverschuldete Unklarheit zu beseitigen, aus der
Fülle seiner Gelehrsamkeit allerlei gar nicht dazu gehörende Tatsachen heranzog.
Durch ihn wurde die Geschichte Vinetas chronologisch verschoben. Ihre Zer¬
störung durch Erik Ejegod wurde mit einem sagenhaften Zug des Dänen¬
königs Henning aus alter Zeit über die Ostsee in Verbindung gebracht.
Damit wurde die Zeit ihrer Blüte in das Zeitalter Karls des Großen zurück¬
geschoben, und um dieses Wunder einer so frühzeitigen Kultur an dieser
Stelle begreiflicher zu machen, erfand man mit dem kühnen Kombinationssiun
der damaligen Gelehrsamkeit auch für den Namen der Stadt Julin eine neue
Erklärung, nämlich das Märchen von ihrer Gründung durch Julius Cäsar!
Der Gipfel der Abenteuerlichkeit sollte freilich dadurch noch nicht erreicht sein.

Auch Bugenhagen, der gelehrte Freund und treffliche Genosse Luthers,
hat zur weitern Entwicklung der Vinetasage beigetragen. Vugenhagen durch¬
forschte bei Abfassung seiner berühmten „Pommerania" nicht nur die alten
handschriftlichen Quellen, sondern er trat auch als geborner Wolliner den
Dingen mit praktischen Nachforschungen in seiner Heimat näher. Es konnte
ihm nicht einfallen, an der von allen Autoritäten seiner Zeit vertretnen Tat¬
sache zu zweifeln, daß an seiner heimischen Küste eine Stadt Bineta gelegen
habe. Und nun erfuhr er, daß die Fischer der Küste von Usedom das
Damerower Steinriff für die Überreste einer versunkner Stadt hielten. Ob
sich wirklich noch ein Rest der Erinnerung an die alte Jomsburg im Volke
erhalten hatte? Das kann natürlich niemals entschieden werden; die Stelle
der Burg und ihr Name waren zweifellos gänzlich verschollen, aber es ist
möglich, daß in der Deutung des Damerower Riffs doch noch eine Erinnerung
daran zu erkennen ist. Für Bugenhagen genügte das, was er erfahren hatte,
um in dem Damerower Riff das ehemalige Vineta zu vermuten. Die Brücke
zwischen einer dunkeln Volksüberlieferung und einer irregeführten Geschichts¬
forschung war geschlagen. Nun konnte sich die Sage ungestört weiter ent¬
wickeln. Übrigens hat Bugenhagen seine Vermutung niemals als Gewißheit
ausgegeben.

Trotzdem arbeitete die Phantasie der damaligen Gelehrtenwelt weiter.
Der Rostocker Jurist Nikolaus Marschalk schilderte mit großer Bestimmtheit
den Handelsverkehr Vinetas mit den fernsten Völkern Europas und Asiens;
Vineta sei dann untergegangen und Julin emporgekommen. Unter dem Ein¬
fluß dieser Auffassung beschloß der junge Thomas Kantzow, der spätere ver¬
dienstvolle pommersche Geschichtschreiber, der 1525 in Rostock studiert hatte,
an Ort und Stelle Nachforschungen zu unternehmen. Von Wolgast aus
führte er seinen Plan aus und ließ sich nach dem Damerower Riff rudern.
Hier spielte ihm die Phantasie einen seltsamen Streich. Er glaubte zu er¬
kennen, daß die großen Steine ans dem Meeresgrund in geordneten Reihen
lagen; er schloß daraus, daß es die Fundamente von Häusern seien, die einst
in bestimmten Straszenzügen geordnet waren. Kantzow war es, der seitdem


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[0182] Die vinetasage verwischte, und um diese selbstverschuldete Unklarheit zu beseitigen, aus der Fülle seiner Gelehrsamkeit allerlei gar nicht dazu gehörende Tatsachen heranzog. Durch ihn wurde die Geschichte Vinetas chronologisch verschoben. Ihre Zer¬ störung durch Erik Ejegod wurde mit einem sagenhaften Zug des Dänen¬ königs Henning aus alter Zeit über die Ostsee in Verbindung gebracht. Damit wurde die Zeit ihrer Blüte in das Zeitalter Karls des Großen zurück¬ geschoben, und um dieses Wunder einer so frühzeitigen Kultur an dieser Stelle begreiflicher zu machen, erfand man mit dem kühnen Kombinationssiun der damaligen Gelehrsamkeit auch für den Namen der Stadt Julin eine neue Erklärung, nämlich das Märchen von ihrer Gründung durch Julius Cäsar! Der Gipfel der Abenteuerlichkeit sollte freilich dadurch noch nicht erreicht sein. Auch Bugenhagen, der gelehrte Freund und treffliche Genosse Luthers, hat zur weitern Entwicklung der Vinetasage beigetragen. Vugenhagen durch¬ forschte bei Abfassung seiner berühmten „Pommerania" nicht nur die alten handschriftlichen Quellen, sondern er trat auch als geborner Wolliner den Dingen mit praktischen Nachforschungen in seiner Heimat näher. Es konnte ihm nicht einfallen, an der von allen Autoritäten seiner Zeit vertretnen Tat¬ sache zu zweifeln, daß an seiner heimischen Küste eine Stadt Bineta gelegen habe. Und nun erfuhr er, daß die Fischer der Küste von Usedom das Damerower Steinriff für die Überreste einer versunkner Stadt hielten. Ob sich wirklich noch ein Rest der Erinnerung an die alte Jomsburg im Volke erhalten hatte? Das kann natürlich niemals entschieden werden; die Stelle der Burg und ihr Name waren zweifellos gänzlich verschollen, aber es ist möglich, daß in der Deutung des Damerower Riffs doch noch eine Erinnerung daran zu erkennen ist. Für Bugenhagen genügte das, was er erfahren hatte, um in dem Damerower Riff das ehemalige Vineta zu vermuten. Die Brücke zwischen einer dunkeln Volksüberlieferung und einer irregeführten Geschichts¬ forschung war geschlagen. Nun konnte sich die Sage ungestört weiter ent¬ wickeln. Übrigens hat Bugenhagen seine Vermutung niemals als Gewißheit ausgegeben. Trotzdem arbeitete die Phantasie der damaligen Gelehrtenwelt weiter. Der Rostocker Jurist Nikolaus Marschalk schilderte mit großer Bestimmtheit den Handelsverkehr Vinetas mit den fernsten Völkern Europas und Asiens; Vineta sei dann untergegangen und Julin emporgekommen. Unter dem Ein¬ fluß dieser Auffassung beschloß der junge Thomas Kantzow, der spätere ver¬ dienstvolle pommersche Geschichtschreiber, der 1525 in Rostock studiert hatte, an Ort und Stelle Nachforschungen zu unternehmen. Von Wolgast aus führte er seinen Plan aus und ließ sich nach dem Damerower Riff rudern. Hier spielte ihm die Phantasie einen seltsamen Streich. Er glaubte zu er¬ kennen, daß die großen Steine ans dem Meeresgrund in geordneten Reihen lagen; er schloß daraus, daß es die Fundamente von Häusern seien, die einst in bestimmten Straszenzügen geordnet waren. Kantzow war es, der seitdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/182>, abgerufen am 01.07.2024.