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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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socialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

Mittel der Polizei vorhanden, ferner eine straff zentralisierte Verwaltung und
eine größere Anzahl der Gebildeten als moralische Stützen der Autorität. Auf
dem Dorfe fehlt alles dies. Wie gering die polizeiliche Gewalt auf dem Lande
ist -- zwar nicht theoretisch, wohl aber praktisch --, davon macht sich der
Städter keinen Begriff. Wird nun auch die Macht der Sitte gebrochen, wie
dies ja für die sozialdemokratische Agitation erste Voraussetzung ist, so bewirkt
das zunächst -- ob dauernd, ist eine andre Frage -- eine Auflösung aller
dörflichen Autoritäten.

Wie äußert sich diese sozialdemokratische Schreckensherrschaft? Zunächst im
Arbeitsverhältnis. Der Bauer gerät direkt in Abhängigkeit vom Gesinde da¬
durch, daß die sozialdemokratische Organisation die Gesindenot ausnutzt, ja be¬
wußt ausspielt. In der Ernte und in der Saatzeit muß der Bauer oft mit
jeder einzelnen Stunde seiner Arbeitskräfte rechnen. Diese Chance wird den
Knechten von den Agitatoren immer und immer wieder vorgerechnet. Man hat
ja Praxis darin: in der Industrie kehren Hochkonjunkturen nicht mit solcher
Regelmäßigkeit wieder wie in der Landwirtschaft die absolute Unentbehrlichkeit
jedes einzelnen Arbeiters in den beiden Perioden. Infolgedessen haben die
Bauern geradezu Angst vor dem "Schichtmachen" des Gesindes, der Bauer er¬
duldet alles, er ist ganz und gar auf den guten Willen des Gesindes angewiesen.

Dazu hat das Gesinde immer ein Mittel in der Hand, den Bauern auch
formell ins Unrecht zu setzen: Mißhandlung des Viehes. Derselbe Bauer, der
sich persönlich vom Knecht alles gefallen läßt, vergißt diese Klugheitserwäguugen,
wenn dieser seine Pferde schlecht behandelt. Dies empfindet der Bauer alten
Schlags als persönliche Beleidigung, und er jagt dann den Knecht weg. So
ist der heißnmstrittne Paragraph 95 der revidierten Gesindeordnung von 1898
über den Vertragsbruch so gut wie wirkungslos. Wenn schon die Gutsbesitzer,
um die so kostbaren Arbeitskräfte zu erhalten, auf jede Tadelrede im Arbeits¬
verhältnis selbst verzichten, so sehen sie überhaupt nichts, wenn es sich um das
Verhalten des Gesindes außerhalb der Arbeit handelt.

In sozialdemokratischen Blättern werden die höchsten rhetorischen Register
gezogen ob der unmenschlich langen, der menschenunwürdigen Arbeitszeit von
früh drei und vier Uhr bis abends acht Uhr, man spricht von dem "abstumpfenden"
Einfluß, von erbärmlicher Lohnsklaverei usw. Ich würde den Schreiern em¬
pfehlen, sich einmal an einem Sommertag abends gegen elf Uhr in das Dorf
zu bemühen. Wenn das Gesinde so furchtbar müde wäre, würde es doch schlafen
gehn. Jedoch bis in die zwölfte Stunde kann man ihr Lärmen hören. Ich
bin durchaus ein Freund des abendlichen Singens der Burschen und Mädchen,
wie dies noch bis vor wenig Jahren auch Sitte war. Die alten weichen, etwas
stark sentimentalen Lieder sind freilich so gut wie verschwunden, die Herren vom
sozialdemokratischen Nadfahrerverein -- dem noch zu erwähnenden Kern der
sozialdemokratischen Agitation -- gröhlen die neuen Lieder aus dem Arbeiter¬
liederbuch. Da also nicht mehr die Mägde mit ihren weichern Stimmen die


socialdemokratische Agitation und Landbevölkerung

Mittel der Polizei vorhanden, ferner eine straff zentralisierte Verwaltung und
eine größere Anzahl der Gebildeten als moralische Stützen der Autorität. Auf
dem Dorfe fehlt alles dies. Wie gering die polizeiliche Gewalt auf dem Lande
ist — zwar nicht theoretisch, wohl aber praktisch —, davon macht sich der
Städter keinen Begriff. Wird nun auch die Macht der Sitte gebrochen, wie
dies ja für die sozialdemokratische Agitation erste Voraussetzung ist, so bewirkt
das zunächst — ob dauernd, ist eine andre Frage — eine Auflösung aller
dörflichen Autoritäten.

Wie äußert sich diese sozialdemokratische Schreckensherrschaft? Zunächst im
Arbeitsverhältnis. Der Bauer gerät direkt in Abhängigkeit vom Gesinde da¬
durch, daß die sozialdemokratische Organisation die Gesindenot ausnutzt, ja be¬
wußt ausspielt. In der Ernte und in der Saatzeit muß der Bauer oft mit
jeder einzelnen Stunde seiner Arbeitskräfte rechnen. Diese Chance wird den
Knechten von den Agitatoren immer und immer wieder vorgerechnet. Man hat
ja Praxis darin: in der Industrie kehren Hochkonjunkturen nicht mit solcher
Regelmäßigkeit wieder wie in der Landwirtschaft die absolute Unentbehrlichkeit
jedes einzelnen Arbeiters in den beiden Perioden. Infolgedessen haben die
Bauern geradezu Angst vor dem „Schichtmachen" des Gesindes, der Bauer er¬
duldet alles, er ist ganz und gar auf den guten Willen des Gesindes angewiesen.

Dazu hat das Gesinde immer ein Mittel in der Hand, den Bauern auch
formell ins Unrecht zu setzen: Mißhandlung des Viehes. Derselbe Bauer, der
sich persönlich vom Knecht alles gefallen läßt, vergißt diese Klugheitserwäguugen,
wenn dieser seine Pferde schlecht behandelt. Dies empfindet der Bauer alten
Schlags als persönliche Beleidigung, und er jagt dann den Knecht weg. So
ist der heißnmstrittne Paragraph 95 der revidierten Gesindeordnung von 1898
über den Vertragsbruch so gut wie wirkungslos. Wenn schon die Gutsbesitzer,
um die so kostbaren Arbeitskräfte zu erhalten, auf jede Tadelrede im Arbeits¬
verhältnis selbst verzichten, so sehen sie überhaupt nichts, wenn es sich um das
Verhalten des Gesindes außerhalb der Arbeit handelt.

In sozialdemokratischen Blättern werden die höchsten rhetorischen Register
gezogen ob der unmenschlich langen, der menschenunwürdigen Arbeitszeit von
früh drei und vier Uhr bis abends acht Uhr, man spricht von dem „abstumpfenden"
Einfluß, von erbärmlicher Lohnsklaverei usw. Ich würde den Schreiern em¬
pfehlen, sich einmal an einem Sommertag abends gegen elf Uhr in das Dorf
zu bemühen. Wenn das Gesinde so furchtbar müde wäre, würde es doch schlafen
gehn. Jedoch bis in die zwölfte Stunde kann man ihr Lärmen hören. Ich
bin durchaus ein Freund des abendlichen Singens der Burschen und Mädchen,
wie dies noch bis vor wenig Jahren auch Sitte war. Die alten weichen, etwas
stark sentimentalen Lieder sind freilich so gut wie verschwunden, die Herren vom
sozialdemokratischen Nadfahrerverein — dem noch zu erwähnenden Kern der
sozialdemokratischen Agitation — gröhlen die neuen Lieder aus dem Arbeiter¬
liederbuch. Da also nicht mehr die Mägde mit ihren weichern Stimmen die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/18>, abgerufen am 24.08.2024.