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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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La Ereignis in meinem Berufsleben

eins jener glücklichen Kinder, tels nur aus Mitleid und Liebe aufgenommen wurde.
Meine Erinnerungen reichen zurück bis ungefähr zu meinem dritten oder vierten
Lebensjahre. Ich sehe mich wieder mit zaghaften Kinderschritten durch weite
Korridore und hohe hallende Säle trippeln. Mein Pflegevater war Kastellan
eines alten unbewohnten Schlosses, das auch nur selten von Fremden besichtigt
wurde. Immer war es für mich ein Fest, wenn mein Pflegevater mich mit
hinauf nahm in die alten Räume, in denen verschliffene Pracht meine Kinder¬
phantasie weckte; dazu kam, daß mein Vater ein Träumer war. Es war ihm
nicht möglich, anhaltend hintereinander körperliche Arbeit zu verrichten. Wie oft
entsinne ich mich, daß er versuchte, meiner Mutter eine Arbeit im Garten abzu¬
nehmen; wenn ich ihm dann sein Frühstücksbrot hinaustrug, fand ich ihn fast
immer am Gartenzaun lehnend, tief in Gedanken versunken über die öde Heide
starren, bis ganz weit hinten, wo blaue Berge nur noch wie ein Wolkenzug
sichtbar die Welt vor seinen Blicken verschlossen. Wenn ich ihn dann anrief, er¬
wachte er wie aus einem tiefen Traum, und nur langsam fand er sich wieder in
die Wirklichkeit zurück. Die Arbeit, die er hatte tun wollen, lag natürlich un¬
vollendet da. Aber ohne ein Wort des Vorwurfs oder der Ungeduld nahm ihm
dann wohl meine Mutter den Spaten aus der Hand, und mühelos und in kurzer Zeit
zwang diese kräftige und gesunde Frau die Arbeit. Überhaupt meine Pflegemutter,
wäre sie nicht gewesen, ich wäre wohl in Gefahr gekommen, in meines Pflege¬
vaters Fußstapfen zu treten.

So vergingen zwölf Jahre meines Lebens, ich war ein kräftiges, lebensfrohes
Kind geworden, und dann kam der Tag, an dem sich meine rechte Mutter meiner
erinnerte. Ein zwölfjähriges Kind ist keine Last mehr, und da sie annahm, daß
Pflegekinder früh arbeiten lernen, sie außerdem mit mir ein bestimmtes Ziel vor
Augen hatte, forderte sie mich nun von meinen Pflegeeltern zurück. Eines Tages
kam sie selbst, um mich zu holen, und alles Bitten meiner Pflegeeltern, all mein
Schreien und Jammern nützte nichts, ich war ja nur eine Sache, die ihr gehörte,
und über die sie nach ihrer Willkür verfügen konnte.

Ich kam in eine große Stadt, in eine dumpfe, dunkle Kellerwohnung. Meine
Mutter betrieb einen kleinen Handel mit Gemüse und Obst, wie ich allerdings
sehr bald bemerkte, aber nur zum Schein. Sie war auch jetzt noch nicht ver¬
heiratet, bei ihr aber wohnte ein Mann, den ich Onkel nennen mußte, und von
dem meine Mutter sagte, daß er Schlosser sei und sich bei ihr eingemietet habe.
Schon damals fiel es mir auf, daß er niemals zur Arbeit ging, denn tagsüber
lag er auf dem Sofa und tyrannisierte meine Mutter und mich. Meine Mutter hatte
mir übrigens bald ein Arbeitsfeld geschaffen, das alle meine Kräfte brauchte, und
nur des Abends, wenn ich todmüde in mein Bett kroch, hatte ich Zeit, an die
glückliche Zeit bei meinen Pflegeeltern zurückzudenken. Unter Tränen schlief ich
ein, und schon vor Tagesgrauen wurde ich wieder geweckt, um Zeitungen aufzu-
tragen. Für das, was ich auf diesen meinen frühen Gängen durch die schmutzigen
und winkligen Straßen der alten Hafenstadt, die jetzt meine Heimat war, sah,
fehlte mir damals noch das Verständnis. Ich war aber noch nicht ganz ein Jahr
bei meiner Mutter, als ich wußte, daß es Dirnen waren, die hier ihr lichtscheues
Gewerbe betrieben. Es dauerte auch nicht lange, so erfuhr ich durch andre
Kinder im Hause, deren Mütter nicht besser waren, daß meine Mutter selbst eine
Dirne und Kupplerin und der Mann, den ich Onkel nannte, ihr Zuhälter sei.

Ich war damals noch ein stilles und scheues Kind, das die schlechte Be¬
handlung und all das Gemeine und sündige, das es im Hause der eignen Mutter
und auf der Straße des Stadtviertels sah, uicht verschlechterte, nur verschüchterte.
Jedesmal, wenn die rostige alte Glocke an unsrer Ladentür anschlug, klopfte mir


La Ereignis in meinem Berufsleben

eins jener glücklichen Kinder, tels nur aus Mitleid und Liebe aufgenommen wurde.
Meine Erinnerungen reichen zurück bis ungefähr zu meinem dritten oder vierten
Lebensjahre. Ich sehe mich wieder mit zaghaften Kinderschritten durch weite
Korridore und hohe hallende Säle trippeln. Mein Pflegevater war Kastellan
eines alten unbewohnten Schlosses, das auch nur selten von Fremden besichtigt
wurde. Immer war es für mich ein Fest, wenn mein Pflegevater mich mit
hinauf nahm in die alten Räume, in denen verschliffene Pracht meine Kinder¬
phantasie weckte; dazu kam, daß mein Vater ein Träumer war. Es war ihm
nicht möglich, anhaltend hintereinander körperliche Arbeit zu verrichten. Wie oft
entsinne ich mich, daß er versuchte, meiner Mutter eine Arbeit im Garten abzu¬
nehmen; wenn ich ihm dann sein Frühstücksbrot hinaustrug, fand ich ihn fast
immer am Gartenzaun lehnend, tief in Gedanken versunken über die öde Heide
starren, bis ganz weit hinten, wo blaue Berge nur noch wie ein Wolkenzug
sichtbar die Welt vor seinen Blicken verschlossen. Wenn ich ihn dann anrief, er¬
wachte er wie aus einem tiefen Traum, und nur langsam fand er sich wieder in
die Wirklichkeit zurück. Die Arbeit, die er hatte tun wollen, lag natürlich un¬
vollendet da. Aber ohne ein Wort des Vorwurfs oder der Ungeduld nahm ihm
dann wohl meine Mutter den Spaten aus der Hand, und mühelos und in kurzer Zeit
zwang diese kräftige und gesunde Frau die Arbeit. Überhaupt meine Pflegemutter,
wäre sie nicht gewesen, ich wäre wohl in Gefahr gekommen, in meines Pflege¬
vaters Fußstapfen zu treten.

So vergingen zwölf Jahre meines Lebens, ich war ein kräftiges, lebensfrohes
Kind geworden, und dann kam der Tag, an dem sich meine rechte Mutter meiner
erinnerte. Ein zwölfjähriges Kind ist keine Last mehr, und da sie annahm, daß
Pflegekinder früh arbeiten lernen, sie außerdem mit mir ein bestimmtes Ziel vor
Augen hatte, forderte sie mich nun von meinen Pflegeeltern zurück. Eines Tages
kam sie selbst, um mich zu holen, und alles Bitten meiner Pflegeeltern, all mein
Schreien und Jammern nützte nichts, ich war ja nur eine Sache, die ihr gehörte,
und über die sie nach ihrer Willkür verfügen konnte.

Ich kam in eine große Stadt, in eine dumpfe, dunkle Kellerwohnung. Meine
Mutter betrieb einen kleinen Handel mit Gemüse und Obst, wie ich allerdings
sehr bald bemerkte, aber nur zum Schein. Sie war auch jetzt noch nicht ver¬
heiratet, bei ihr aber wohnte ein Mann, den ich Onkel nennen mußte, und von
dem meine Mutter sagte, daß er Schlosser sei und sich bei ihr eingemietet habe.
Schon damals fiel es mir auf, daß er niemals zur Arbeit ging, denn tagsüber
lag er auf dem Sofa und tyrannisierte meine Mutter und mich. Meine Mutter hatte
mir übrigens bald ein Arbeitsfeld geschaffen, das alle meine Kräfte brauchte, und
nur des Abends, wenn ich todmüde in mein Bett kroch, hatte ich Zeit, an die
glückliche Zeit bei meinen Pflegeeltern zurückzudenken. Unter Tränen schlief ich
ein, und schon vor Tagesgrauen wurde ich wieder geweckt, um Zeitungen aufzu-
tragen. Für das, was ich auf diesen meinen frühen Gängen durch die schmutzigen
und winkligen Straßen der alten Hafenstadt, die jetzt meine Heimat war, sah,
fehlte mir damals noch das Verständnis. Ich war aber noch nicht ganz ein Jahr
bei meiner Mutter, als ich wußte, daß es Dirnen waren, die hier ihr lichtscheues
Gewerbe betrieben. Es dauerte auch nicht lange, so erfuhr ich durch andre
Kinder im Hause, deren Mütter nicht besser waren, daß meine Mutter selbst eine
Dirne und Kupplerin und der Mann, den ich Onkel nannte, ihr Zuhälter sei.

Ich war damals noch ein stilles und scheues Kind, das die schlechte Be¬
handlung und all das Gemeine und sündige, das es im Hause der eignen Mutter
und auf der Straße des Stadtviertels sah, uicht verschlechterte, nur verschüchterte.
Jedesmal, wenn die rostige alte Glocke an unsrer Ladentür anschlug, klopfte mir


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[0652] La Ereignis in meinem Berufsleben eins jener glücklichen Kinder, tels nur aus Mitleid und Liebe aufgenommen wurde. Meine Erinnerungen reichen zurück bis ungefähr zu meinem dritten oder vierten Lebensjahre. Ich sehe mich wieder mit zaghaften Kinderschritten durch weite Korridore und hohe hallende Säle trippeln. Mein Pflegevater war Kastellan eines alten unbewohnten Schlosses, das auch nur selten von Fremden besichtigt wurde. Immer war es für mich ein Fest, wenn mein Pflegevater mich mit hinauf nahm in die alten Räume, in denen verschliffene Pracht meine Kinder¬ phantasie weckte; dazu kam, daß mein Vater ein Träumer war. Es war ihm nicht möglich, anhaltend hintereinander körperliche Arbeit zu verrichten. Wie oft entsinne ich mich, daß er versuchte, meiner Mutter eine Arbeit im Garten abzu¬ nehmen; wenn ich ihm dann sein Frühstücksbrot hinaustrug, fand ich ihn fast immer am Gartenzaun lehnend, tief in Gedanken versunken über die öde Heide starren, bis ganz weit hinten, wo blaue Berge nur noch wie ein Wolkenzug sichtbar die Welt vor seinen Blicken verschlossen. Wenn ich ihn dann anrief, er¬ wachte er wie aus einem tiefen Traum, und nur langsam fand er sich wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Arbeit, die er hatte tun wollen, lag natürlich un¬ vollendet da. Aber ohne ein Wort des Vorwurfs oder der Ungeduld nahm ihm dann wohl meine Mutter den Spaten aus der Hand, und mühelos und in kurzer Zeit zwang diese kräftige und gesunde Frau die Arbeit. Überhaupt meine Pflegemutter, wäre sie nicht gewesen, ich wäre wohl in Gefahr gekommen, in meines Pflege¬ vaters Fußstapfen zu treten. So vergingen zwölf Jahre meines Lebens, ich war ein kräftiges, lebensfrohes Kind geworden, und dann kam der Tag, an dem sich meine rechte Mutter meiner erinnerte. Ein zwölfjähriges Kind ist keine Last mehr, und da sie annahm, daß Pflegekinder früh arbeiten lernen, sie außerdem mit mir ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, forderte sie mich nun von meinen Pflegeeltern zurück. Eines Tages kam sie selbst, um mich zu holen, und alles Bitten meiner Pflegeeltern, all mein Schreien und Jammern nützte nichts, ich war ja nur eine Sache, die ihr gehörte, und über die sie nach ihrer Willkür verfügen konnte. Ich kam in eine große Stadt, in eine dumpfe, dunkle Kellerwohnung. Meine Mutter betrieb einen kleinen Handel mit Gemüse und Obst, wie ich allerdings sehr bald bemerkte, aber nur zum Schein. Sie war auch jetzt noch nicht ver¬ heiratet, bei ihr aber wohnte ein Mann, den ich Onkel nennen mußte, und von dem meine Mutter sagte, daß er Schlosser sei und sich bei ihr eingemietet habe. Schon damals fiel es mir auf, daß er niemals zur Arbeit ging, denn tagsüber lag er auf dem Sofa und tyrannisierte meine Mutter und mich. Meine Mutter hatte mir übrigens bald ein Arbeitsfeld geschaffen, das alle meine Kräfte brauchte, und nur des Abends, wenn ich todmüde in mein Bett kroch, hatte ich Zeit, an die glückliche Zeit bei meinen Pflegeeltern zurückzudenken. Unter Tränen schlief ich ein, und schon vor Tagesgrauen wurde ich wieder geweckt, um Zeitungen aufzu- tragen. Für das, was ich auf diesen meinen frühen Gängen durch die schmutzigen und winkligen Straßen der alten Hafenstadt, die jetzt meine Heimat war, sah, fehlte mir damals noch das Verständnis. Ich war aber noch nicht ganz ein Jahr bei meiner Mutter, als ich wußte, daß es Dirnen waren, die hier ihr lichtscheues Gewerbe betrieben. Es dauerte auch nicht lange, so erfuhr ich durch andre Kinder im Hause, deren Mütter nicht besser waren, daß meine Mutter selbst eine Dirne und Kupplerin und der Mann, den ich Onkel nannte, ihr Zuhälter sei. Ich war damals noch ein stilles und scheues Kind, das die schlechte Be¬ handlung und all das Gemeine und sündige, das es im Hause der eignen Mutter und auf der Straße des Stadtviertels sah, uicht verschlechterte, nur verschüchterte. Jedesmal, wenn die rostige alte Glocke an unsrer Ladentür anschlug, klopfte mir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/652>, abgerufen am 22.07.2024.