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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Ein Ereignis in meinem Berufsleben

Ofens. An diesem Tage war es, daß mir die Aufseherin meldete, daß sich Hedwig R.
weigere, mit zur Kirche zu gehn, und daß sie durch kein noch so freundliches
Zureden zu bewegen sei, ihren Entschluß aufzugeben. Hedwig R. behielt an diesem
Tage ihren Willen und blieb während des Gottesdienstes in ihrer Zelle.

Eine lange Reihe von Tagen verging, ohne daß ich wieder zu ihr ging,
mit meinen Gedanken aber war ich viel bei ihr, und mit großer Freude erfüllte
es mich, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht eine Klage über sie horte.

Die übrigen Beamten, die natürlich mein lebhaftes Interesse für Hedwig R.
bemerkt hatten, sie aber fast alle schon von früher her kannten, wollten nicht
glauben, daß hinter dem trotzigen und heftigen Geschöpf auch etwas Gutes zu
suchen sei; selbst der Direktor, der nicht nur ein Verwalter der Anstalt, sondern
auch für die Insassen ein Berater war, schüttelte den Kopf. Auch der Geistliche
versuchte ihr näher zu kommen, aber vollständig ohne Erfolg.

So kam das Pfingstfest heran. Ein stiller, friedlicher Pfingstsonntag in der
Anstalt. Die Luft voll Blütenduft und Vogelsang. Selbst durch die geöffneten
Luftscheiben der Zellenfenster mußte der süße Duft des Flieders dringen. Ich
hatte mir einen großen Strauß dieser köstlichen Blumen in mein kühles, sonnen¬
loses Zimmer gestellt und blickte hinaus auf den Hof, wo eben eine Abteilung
Gefangner zum Spaziergang hinausgetreten war. So oft ich zurückdenke an
diesen Tag, ist mit ihm unzertrennlich dieser stille Zug von Menschen, der in der
eintönigen braunen Sträflingskleidung einer Kette zu vergleichen ist, einer Kette,
in der doch ein Glied dem andern nicht gleicht.

Da klopfte es Plötzlich an meine Tür, und eine Aufseherin trat herein, um mir
zu sagen, daß drüben im Zellenflügel die Gefangne R. sie gebeten habe, mich zu ihr
zu rufen. Ich stand sofort auf und ging hinüber. Als ich die Zelle betrat, fand
ich Hedwig R. auf dem Schemel sitzend vor. Sie hatte den Kopf an die Wand
gelehnt, und ihre Augen starrten hinaus in die Sonne und auf das kleine Fleckchen
Himmelsblau, das durch das Fenster sichtbar war. Sie achtete gar nicht auf mich,
und als ich nnn an sie herantrat, ihr die Hand auf die Schulter legte und sie
fragte: Sie haben mich rufen lassen, R., wie kann ich Ihnen helfen? -- da fuhr
sie von ihrem Schemel in die Höhe, und wie ein letztes nur noch schwaches Auf¬
lehnen klangen ihre Worte: Helfen I Wie kommen Sie darauf, daß Sie mir
helfen sollen? -- Ich habe Sie diese ganze Zeit nicht aus den Augen sse¬
lassen, erwiderte ich, und ich sehe es auch heute Ihren Augen an. daß Sie Hilfe
nötig beiden und welche suchen. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille in der
kleinen, sonnendurchfluteten Zelle, eine Drossel saß ganz in der Nähe auf einem
Baume, und ihr Helles, jubelndes Frühlingslied erfüllte den engen Raum, in dem
ein Mensch mit seinem Trotz und seinem Herzen rang. Dann klang es plötzlich
von ihren Lippen leise und eintönig: Ich will Ihnen erzählen, wer ich bin, und
wenn Sie mir dann noch helfen wollen und können, dann bitte ich um Ihre
Hilfe. Ich bin im Zuchthause geboren. Meinen Vater habe ich nie kennen
lernen, und auch meine Mutter hat mir später nicht seinen Namen genannt. Bis
zu meinem zwölften Jahre habe ich mich meine Mutter nicht gekannt. Als ich
zur Welt kam, soll ich ein kleines, schwaches Kind gewesen sein, das sich bei der
sorgsamen Pflege im Gefängnis bald erholte. Jedenfalls aber war niein Gedeihen
nicht der Liebe meiner Mutter, sondern der Sorgsamkeit der Beamten zuzuschreiben.
Als ich etwa ein halbes Jahr alt war, war ich kräftig genug, von meiner Mutter
fort in fremde Pflege gebracht zu werden. Es gibt wohl selten jemand, der das
Kind einer Zuchthäuslerin aus reinem Mitleid aufnimmt. Meist sind es ja auch
nur arme Familien, die sich hierzu bereit finden, und die aus dem jämmerlich ge¬
ringen Pflegegeld doch noch eine" Verdienst für sich zu ziehen versteh". Ich war


Ein Ereignis in meinem Berufsleben

Ofens. An diesem Tage war es, daß mir die Aufseherin meldete, daß sich Hedwig R.
weigere, mit zur Kirche zu gehn, und daß sie durch kein noch so freundliches
Zureden zu bewegen sei, ihren Entschluß aufzugeben. Hedwig R. behielt an diesem
Tage ihren Willen und blieb während des Gottesdienstes in ihrer Zelle.

Eine lange Reihe von Tagen verging, ohne daß ich wieder zu ihr ging,
mit meinen Gedanken aber war ich viel bei ihr, und mit großer Freude erfüllte
es mich, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht eine Klage über sie horte.

Die übrigen Beamten, die natürlich mein lebhaftes Interesse für Hedwig R.
bemerkt hatten, sie aber fast alle schon von früher her kannten, wollten nicht
glauben, daß hinter dem trotzigen und heftigen Geschöpf auch etwas Gutes zu
suchen sei; selbst der Direktor, der nicht nur ein Verwalter der Anstalt, sondern
auch für die Insassen ein Berater war, schüttelte den Kopf. Auch der Geistliche
versuchte ihr näher zu kommen, aber vollständig ohne Erfolg.

So kam das Pfingstfest heran. Ein stiller, friedlicher Pfingstsonntag in der
Anstalt. Die Luft voll Blütenduft und Vogelsang. Selbst durch die geöffneten
Luftscheiben der Zellenfenster mußte der süße Duft des Flieders dringen. Ich
hatte mir einen großen Strauß dieser köstlichen Blumen in mein kühles, sonnen¬
loses Zimmer gestellt und blickte hinaus auf den Hof, wo eben eine Abteilung
Gefangner zum Spaziergang hinausgetreten war. So oft ich zurückdenke an
diesen Tag, ist mit ihm unzertrennlich dieser stille Zug von Menschen, der in der
eintönigen braunen Sträflingskleidung einer Kette zu vergleichen ist, einer Kette,
in der doch ein Glied dem andern nicht gleicht.

Da klopfte es Plötzlich an meine Tür, und eine Aufseherin trat herein, um mir
zu sagen, daß drüben im Zellenflügel die Gefangne R. sie gebeten habe, mich zu ihr
zu rufen. Ich stand sofort auf und ging hinüber. Als ich die Zelle betrat, fand
ich Hedwig R. auf dem Schemel sitzend vor. Sie hatte den Kopf an die Wand
gelehnt, und ihre Augen starrten hinaus in die Sonne und auf das kleine Fleckchen
Himmelsblau, das durch das Fenster sichtbar war. Sie achtete gar nicht auf mich,
und als ich nnn an sie herantrat, ihr die Hand auf die Schulter legte und sie
fragte: Sie haben mich rufen lassen, R., wie kann ich Ihnen helfen? — da fuhr
sie von ihrem Schemel in die Höhe, und wie ein letztes nur noch schwaches Auf¬
lehnen klangen ihre Worte: Helfen I Wie kommen Sie darauf, daß Sie mir
helfen sollen? — Ich habe Sie diese ganze Zeit nicht aus den Augen sse¬
lassen, erwiderte ich, und ich sehe es auch heute Ihren Augen an. daß Sie Hilfe
nötig beiden und welche suchen. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille in der
kleinen, sonnendurchfluteten Zelle, eine Drossel saß ganz in der Nähe auf einem
Baume, und ihr Helles, jubelndes Frühlingslied erfüllte den engen Raum, in dem
ein Mensch mit seinem Trotz und seinem Herzen rang. Dann klang es plötzlich
von ihren Lippen leise und eintönig: Ich will Ihnen erzählen, wer ich bin, und
wenn Sie mir dann noch helfen wollen und können, dann bitte ich um Ihre
Hilfe. Ich bin im Zuchthause geboren. Meinen Vater habe ich nie kennen
lernen, und auch meine Mutter hat mir später nicht seinen Namen genannt. Bis
zu meinem zwölften Jahre habe ich mich meine Mutter nicht gekannt. Als ich
zur Welt kam, soll ich ein kleines, schwaches Kind gewesen sein, das sich bei der
sorgsamen Pflege im Gefängnis bald erholte. Jedenfalls aber war niein Gedeihen
nicht der Liebe meiner Mutter, sondern der Sorgsamkeit der Beamten zuzuschreiben.
Als ich etwa ein halbes Jahr alt war, war ich kräftig genug, von meiner Mutter
fort in fremde Pflege gebracht zu werden. Es gibt wohl selten jemand, der das
Kind einer Zuchthäuslerin aus reinem Mitleid aufnimmt. Meist sind es ja auch
nur arme Familien, die sich hierzu bereit finden, und die aus dem jämmerlich ge¬
ringen Pflegegeld doch noch eine» Verdienst für sich zu ziehen versteh«. Ich war


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[0651] Ein Ereignis in meinem Berufsleben Ofens. An diesem Tage war es, daß mir die Aufseherin meldete, daß sich Hedwig R. weigere, mit zur Kirche zu gehn, und daß sie durch kein noch so freundliches Zureden zu bewegen sei, ihren Entschluß aufzugeben. Hedwig R. behielt an diesem Tage ihren Willen und blieb während des Gottesdienstes in ihrer Zelle. Eine lange Reihe von Tagen verging, ohne daß ich wieder zu ihr ging, mit meinen Gedanken aber war ich viel bei ihr, und mit großer Freude erfüllte es mich, daß ich in dieser ganzen Zeit nicht eine Klage über sie horte. Die übrigen Beamten, die natürlich mein lebhaftes Interesse für Hedwig R. bemerkt hatten, sie aber fast alle schon von früher her kannten, wollten nicht glauben, daß hinter dem trotzigen und heftigen Geschöpf auch etwas Gutes zu suchen sei; selbst der Direktor, der nicht nur ein Verwalter der Anstalt, sondern auch für die Insassen ein Berater war, schüttelte den Kopf. Auch der Geistliche versuchte ihr näher zu kommen, aber vollständig ohne Erfolg. So kam das Pfingstfest heran. Ein stiller, friedlicher Pfingstsonntag in der Anstalt. Die Luft voll Blütenduft und Vogelsang. Selbst durch die geöffneten Luftscheiben der Zellenfenster mußte der süße Duft des Flieders dringen. Ich hatte mir einen großen Strauß dieser köstlichen Blumen in mein kühles, sonnen¬ loses Zimmer gestellt und blickte hinaus auf den Hof, wo eben eine Abteilung Gefangner zum Spaziergang hinausgetreten war. So oft ich zurückdenke an diesen Tag, ist mit ihm unzertrennlich dieser stille Zug von Menschen, der in der eintönigen braunen Sträflingskleidung einer Kette zu vergleichen ist, einer Kette, in der doch ein Glied dem andern nicht gleicht. Da klopfte es Plötzlich an meine Tür, und eine Aufseherin trat herein, um mir zu sagen, daß drüben im Zellenflügel die Gefangne R. sie gebeten habe, mich zu ihr zu rufen. Ich stand sofort auf und ging hinüber. Als ich die Zelle betrat, fand ich Hedwig R. auf dem Schemel sitzend vor. Sie hatte den Kopf an die Wand gelehnt, und ihre Augen starrten hinaus in die Sonne und auf das kleine Fleckchen Himmelsblau, das durch das Fenster sichtbar war. Sie achtete gar nicht auf mich, und als ich nnn an sie herantrat, ihr die Hand auf die Schulter legte und sie fragte: Sie haben mich rufen lassen, R., wie kann ich Ihnen helfen? — da fuhr sie von ihrem Schemel in die Höhe, und wie ein letztes nur noch schwaches Auf¬ lehnen klangen ihre Worte: Helfen I Wie kommen Sie darauf, daß Sie mir helfen sollen? — Ich habe Sie diese ganze Zeit nicht aus den Augen sse¬ lassen, erwiderte ich, und ich sehe es auch heute Ihren Augen an. daß Sie Hilfe nötig beiden und welche suchen. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille in der kleinen, sonnendurchfluteten Zelle, eine Drossel saß ganz in der Nähe auf einem Baume, und ihr Helles, jubelndes Frühlingslied erfüllte den engen Raum, in dem ein Mensch mit seinem Trotz und seinem Herzen rang. Dann klang es plötzlich von ihren Lippen leise und eintönig: Ich will Ihnen erzählen, wer ich bin, und wenn Sie mir dann noch helfen wollen und können, dann bitte ich um Ihre Hilfe. Ich bin im Zuchthause geboren. Meinen Vater habe ich nie kennen lernen, und auch meine Mutter hat mir später nicht seinen Namen genannt. Bis zu meinem zwölften Jahre habe ich mich meine Mutter nicht gekannt. Als ich zur Welt kam, soll ich ein kleines, schwaches Kind gewesen sein, das sich bei der sorgsamen Pflege im Gefängnis bald erholte. Jedenfalls aber war niein Gedeihen nicht der Liebe meiner Mutter, sondern der Sorgsamkeit der Beamten zuzuschreiben. Als ich etwa ein halbes Jahr alt war, war ich kräftig genug, von meiner Mutter fort in fremde Pflege gebracht zu werden. Es gibt wohl selten jemand, der das Kind einer Zuchthäuslerin aus reinem Mitleid aufnimmt. Meist sind es ja auch nur arme Familien, die sich hierzu bereit finden, und die aus dem jämmerlich ge¬ ringen Pflegegeld doch noch eine» Verdienst für sich zu ziehen versteh«. Ich war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/651>, abgerufen am 22.07.2024.