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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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sah Theater als Airche

in der Sommerfrische eine Dame lieb, und er erfährt erst, nachdem er ihr die
Ehe angetragen, daß sie Schauspielerin ist. Sie ist dieses mit ganzer Seele
und wünscht ihren Verlobten für ihre Kunst, der sie treu bleiben möchte,
zu interessieren. Dazu bietet sich die Gelegenheit dar. da sie zufällig ein
Engagement am Theater seines Wohnorts angenommen hat. Nur zögernd
geht er auf ihren Wunsch ein; ungern besucht er die Vorstellungen, in denen
sie auftritt, und je hinreißender sie spielt, desto unvermeidlicher tritt die
Wirkung ein. die er ahnend gefürchtet hat. Er sagt sich: gestern war sie
Ophelia, heut ist sie Klärchen, morgen wird sie Nora oder die Kameliendame
sein, und ein jedes ist sie vollkommen, was ist sie nun selbst eigentlich? Hat
sie überhaupt eine eigne Seele, eine eigne Persönlichkeit, einen eignen Charakter?
Schauspielert sie am Ende im Leben, vor und mit mir, ebenso wie auf der
Bühne? Tiefe gegenseitige Verstimmung führt zum Bruch; die ganz Zer¬
schmetterte wird gemütskrank, und als sie nun im Sanatorium zur ruhigen
Überlegung kommt, sagt sie sich: der Verlobte hat recht gehabt, entsagt ihrer
gefährlichen Kunst und versucht, fortan nur sie selbst zu sein. Auch gehört
hierher, was die Frankfurter Zeitung am 6. September 1907 über das von
einem Sohne Björnstjerne Björnsons gegründete Norwegische Nationaltheater
zu Christiania berichtet hat. Es gedeihe nicht, weil das Publikum kein Ver¬
ständnis fürs Drama und nur für Musik und Tanz, Kostümflitter und
dekorative Knalleffekte Sinn habe, und weil die norwegischen Schauspieler --
gar keine Schauspieler seien. "Ibsens Dichtungen auf dem skandinavischen
Theater sind nichts andres als der Vorwand eines entweder nüchternen oder
bombastischer Geredes ^der Berichterstatter merkt natürlich nicht, daß er damit
Ibsens Stücke charakterisiert^, das weder mit der gesamten Körperlichkeit des
Schauspielers noch mit dem dekorativen Szenenbilde in dauernder Wechsel¬
wirkung steht." Daran wird die verständige Bemerkung geknüpft: "In einem
Lande wie Norwegen, wo sich Germanentum so rein erhalten hat. sträubt sich
eigentlich das Naturell gegen alle Schauspielerei. Im Gegensatz zu Völkern
unter mildern Himmelsstrichen hat sich bei dem stets auf die Anspannung seiner
ganzen Persönlichkeit hingewiesnen Nordländer ein Hang zu individueller
Selbstbehauptung ausgebildet. Alles Theaterspiel aber verlangt vom Spieler
Selbstaufgabe und geschmeidige Verwandlungsfähigkeit. Außerdem: der nordische
Germane hat eine Seele, die große Gewaltsamkeiten bindet und die bei rück¬
haltloser Entladung leicht in Berserkertum, in rohe, barbarische Formen aus¬
artet oder sich auch in eine mystische Sehnsucht und Nebelferne verliert. Alles
Theaterspiel aber verlangt vorbehaltlose Seelenentschleierung, die der Nord¬
länder als Prostitution oder als Zwang empfindet, und die ihn daher unfrei
macht."*) So ists! Der Franzose, noch mehr der Italiener, ist der geborne



*) Wie niedrig der Engländer das Theater bewertet, erfahren wir aus Ernst Groths
schönem Werk: Die Englische Literatur der Gegenwart, S. 375.
Grenzboten IV 1908 72
sah Theater als Airche

in der Sommerfrische eine Dame lieb, und er erfährt erst, nachdem er ihr die
Ehe angetragen, daß sie Schauspielerin ist. Sie ist dieses mit ganzer Seele
und wünscht ihren Verlobten für ihre Kunst, der sie treu bleiben möchte,
zu interessieren. Dazu bietet sich die Gelegenheit dar. da sie zufällig ein
Engagement am Theater seines Wohnorts angenommen hat. Nur zögernd
geht er auf ihren Wunsch ein; ungern besucht er die Vorstellungen, in denen
sie auftritt, und je hinreißender sie spielt, desto unvermeidlicher tritt die
Wirkung ein. die er ahnend gefürchtet hat. Er sagt sich: gestern war sie
Ophelia, heut ist sie Klärchen, morgen wird sie Nora oder die Kameliendame
sein, und ein jedes ist sie vollkommen, was ist sie nun selbst eigentlich? Hat
sie überhaupt eine eigne Seele, eine eigne Persönlichkeit, einen eignen Charakter?
Schauspielert sie am Ende im Leben, vor und mit mir, ebenso wie auf der
Bühne? Tiefe gegenseitige Verstimmung führt zum Bruch; die ganz Zer¬
schmetterte wird gemütskrank, und als sie nun im Sanatorium zur ruhigen
Überlegung kommt, sagt sie sich: der Verlobte hat recht gehabt, entsagt ihrer
gefährlichen Kunst und versucht, fortan nur sie selbst zu sein. Auch gehört
hierher, was die Frankfurter Zeitung am 6. September 1907 über das von
einem Sohne Björnstjerne Björnsons gegründete Norwegische Nationaltheater
zu Christiania berichtet hat. Es gedeihe nicht, weil das Publikum kein Ver¬
ständnis fürs Drama und nur für Musik und Tanz, Kostümflitter und
dekorative Knalleffekte Sinn habe, und weil die norwegischen Schauspieler —
gar keine Schauspieler seien. „Ibsens Dichtungen auf dem skandinavischen
Theater sind nichts andres als der Vorwand eines entweder nüchternen oder
bombastischer Geredes ^der Berichterstatter merkt natürlich nicht, daß er damit
Ibsens Stücke charakterisiert^, das weder mit der gesamten Körperlichkeit des
Schauspielers noch mit dem dekorativen Szenenbilde in dauernder Wechsel¬
wirkung steht." Daran wird die verständige Bemerkung geknüpft: „In einem
Lande wie Norwegen, wo sich Germanentum so rein erhalten hat. sträubt sich
eigentlich das Naturell gegen alle Schauspielerei. Im Gegensatz zu Völkern
unter mildern Himmelsstrichen hat sich bei dem stets auf die Anspannung seiner
ganzen Persönlichkeit hingewiesnen Nordländer ein Hang zu individueller
Selbstbehauptung ausgebildet. Alles Theaterspiel aber verlangt vom Spieler
Selbstaufgabe und geschmeidige Verwandlungsfähigkeit. Außerdem: der nordische
Germane hat eine Seele, die große Gewaltsamkeiten bindet und die bei rück¬
haltloser Entladung leicht in Berserkertum, in rohe, barbarische Formen aus¬
artet oder sich auch in eine mystische Sehnsucht und Nebelferne verliert. Alles
Theaterspiel aber verlangt vorbehaltlose Seelenentschleierung, die der Nord¬
länder als Prostitution oder als Zwang empfindet, und die ihn daher unfrei
macht."*) So ists! Der Franzose, noch mehr der Italiener, ist der geborne



*) Wie niedrig der Engländer das Theater bewertet, erfahren wir aus Ernst Groths
schönem Werk: Die Englische Literatur der Gegenwart, S. 375.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/541>, abgerufen am 24.08.2024.