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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Politische Bildung und Nationalbewußtsein

Der Verfasser bekennt sich auch zu dem Satze: "Wer die Schule hat, der
hat die Zukunft; das vielzitierte Wort gilt besonders auf politischem Gebiete."
Jetzt hat die deutsche Schule der Partikularismus, und es ist nicht zu wünschen,
daß ihm die Zukunft gehöre. Es ist ja nicht mehr so schlimm damit wie vor
1866, wo Treitschke schrieb: "Schlagt sie auf, jene Vaterlandskunden, die für
einen großen Teil unsers Volks die Grundlage der historischen Bildung bleiben,
und ihr werdet erschrecken vor der langen Reihe falscher Götzen, die sie ver¬
herrlichen, vor dem Partikularistischen Dünkel, den sie predigen." Die Wogen
der Geschichte haben davon manches beseitigt, aber noch ist viel nötig, um die
Fürstengeschichte jedes Einzelstaats gebührend einzuschränken zum Besten der
allgemeinen deutschen Geschichte. In der Gegenwart und wohl noch auf Jahr¬
zehnte hinaus liegt die Gefahr nahe, daß der politische Unterricht nur dem
Partikularismus förderlich sein würde. Der Satz von der Beherrschung der
Zukunft durch die Schule gilt überhaupt nicht ohne Einschränkung. Der Ver¬
fasser betont selbst, daß der Lehrerstand "durch orthodox-theologische Ablichtung
in ultraliberale Bahnen gedrängt ist". Ähnliche unbeabsichtigte Gegenwirkungen
einer bestimmten Richtungsgebung des Unterrichts ließen sich wohl in größerer
Zahl anführen. Hier sei nur ein recht drastisches Beispiel erwähnt. Im be¬
nachbarten Österreich hat die sogenannte Konkordatsschule den Liberalismus
erzeugt, die von diesem eingeführte liberale Schule hat, wie die Gegenwart zeigt,
die christlichsoziale und die sozialdemokratische Richtung hervorgebracht. Es gibt
eben Zeitströmungen, die auf die Volkserziehung einen viel tiefern Einfluß
ausüben als die Schule. Eine der deutschen politischen Bildung am meiste"
schädliche Strömung ist der Partikularismus, und es wird meist nicht genügend
beachtet, welche Stärkung daraus der Ultramontnnismus und die Sozialdemokratie
ziehn. Glücklicherweise sind aber auch andre Strömungen vorhanden, von denen
Ar die Zukunft viel zu erwarten ist. Aus den Schwankungen der öffentlichen
Meinung in den letzten Jahren tritt eine erfreuliche Erscheinung unzweifelhaft
hervor: ein sehr reizbares Gefühl für die Ehre des deutschen Namens ist in
der Seele unsers Volks rege. Das hat sich bei der Chinaexpedition und während
des Aufstands in Südwestafrika in ganz anderm Maße gezeigt, als in der
gedruckte" öffentlichen Meinung zum Vorschein gekommen ist. Die letzten
Reichstagswahlen haben die Quittung darüber gegeben. Auch die Zeppelin¬
begeisterung ist auf demselben Boden gewachsen. Auf ihm muß auch die politische
Bildung durch die Schule emporblühn, sonst würden Sozialdemokratie und
Zentrum nur eine weitere Gelegenheit finden, an die neue politische Kenntnis
ihre Lehren anzuhängen.

Zum Schluß möge noch ein praktischer Vorschlag gemacht werden, um die
geradezu unerträgliche Unkenntnis der Reichsverfassung zu beseitigen. Die
Reichsregierung hat nie etwas dafür getan, und der vaterländisch gesinnte
Bürger kann sie sich gar nicht verschaffen. Sonderabdrücke haben keinen Zweck,
da die wenigen Blätter leicht verloren gehn würden. Man sollte die Reichs-


Grenzboten IV 1908 63
Politische Bildung und Nationalbewußtsein

Der Verfasser bekennt sich auch zu dem Satze: „Wer die Schule hat, der
hat die Zukunft; das vielzitierte Wort gilt besonders auf politischem Gebiete."
Jetzt hat die deutsche Schule der Partikularismus, und es ist nicht zu wünschen,
daß ihm die Zukunft gehöre. Es ist ja nicht mehr so schlimm damit wie vor
1866, wo Treitschke schrieb: „Schlagt sie auf, jene Vaterlandskunden, die für
einen großen Teil unsers Volks die Grundlage der historischen Bildung bleiben,
und ihr werdet erschrecken vor der langen Reihe falscher Götzen, die sie ver¬
herrlichen, vor dem Partikularistischen Dünkel, den sie predigen." Die Wogen
der Geschichte haben davon manches beseitigt, aber noch ist viel nötig, um die
Fürstengeschichte jedes Einzelstaats gebührend einzuschränken zum Besten der
allgemeinen deutschen Geschichte. In der Gegenwart und wohl noch auf Jahr¬
zehnte hinaus liegt die Gefahr nahe, daß der politische Unterricht nur dem
Partikularismus förderlich sein würde. Der Satz von der Beherrschung der
Zukunft durch die Schule gilt überhaupt nicht ohne Einschränkung. Der Ver¬
fasser betont selbst, daß der Lehrerstand „durch orthodox-theologische Ablichtung
in ultraliberale Bahnen gedrängt ist". Ähnliche unbeabsichtigte Gegenwirkungen
einer bestimmten Richtungsgebung des Unterrichts ließen sich wohl in größerer
Zahl anführen. Hier sei nur ein recht drastisches Beispiel erwähnt. Im be¬
nachbarten Österreich hat die sogenannte Konkordatsschule den Liberalismus
erzeugt, die von diesem eingeführte liberale Schule hat, wie die Gegenwart zeigt,
die christlichsoziale und die sozialdemokratische Richtung hervorgebracht. Es gibt
eben Zeitströmungen, die auf die Volkserziehung einen viel tiefern Einfluß
ausüben als die Schule. Eine der deutschen politischen Bildung am meiste»
schädliche Strömung ist der Partikularismus, und es wird meist nicht genügend
beachtet, welche Stärkung daraus der Ultramontnnismus und die Sozialdemokratie
ziehn. Glücklicherweise sind aber auch andre Strömungen vorhanden, von denen
Ar die Zukunft viel zu erwarten ist. Aus den Schwankungen der öffentlichen
Meinung in den letzten Jahren tritt eine erfreuliche Erscheinung unzweifelhaft
hervor: ein sehr reizbares Gefühl für die Ehre des deutschen Namens ist in
der Seele unsers Volks rege. Das hat sich bei der Chinaexpedition und während
des Aufstands in Südwestafrika in ganz anderm Maße gezeigt, als in der
gedruckte« öffentlichen Meinung zum Vorschein gekommen ist. Die letzten
Reichstagswahlen haben die Quittung darüber gegeben. Auch die Zeppelin¬
begeisterung ist auf demselben Boden gewachsen. Auf ihm muß auch die politische
Bildung durch die Schule emporblühn, sonst würden Sozialdemokratie und
Zentrum nur eine weitere Gelegenheit finden, an die neue politische Kenntnis
ihre Lehren anzuhängen.

Zum Schluß möge noch ein praktischer Vorschlag gemacht werden, um die
geradezu unerträgliche Unkenntnis der Reichsverfassung zu beseitigen. Die
Reichsregierung hat nie etwas dafür getan, und der vaterländisch gesinnte
Bürger kann sie sich gar nicht verschaffen. Sonderabdrücke haben keinen Zweck,
da die wenigen Blätter leicht verloren gehn würden. Man sollte die Reichs-


Grenzboten IV 1908 63
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[0481] Politische Bildung und Nationalbewußtsein Der Verfasser bekennt sich auch zu dem Satze: „Wer die Schule hat, der hat die Zukunft; das vielzitierte Wort gilt besonders auf politischem Gebiete." Jetzt hat die deutsche Schule der Partikularismus, und es ist nicht zu wünschen, daß ihm die Zukunft gehöre. Es ist ja nicht mehr so schlimm damit wie vor 1866, wo Treitschke schrieb: „Schlagt sie auf, jene Vaterlandskunden, die für einen großen Teil unsers Volks die Grundlage der historischen Bildung bleiben, und ihr werdet erschrecken vor der langen Reihe falscher Götzen, die sie ver¬ herrlichen, vor dem Partikularistischen Dünkel, den sie predigen." Die Wogen der Geschichte haben davon manches beseitigt, aber noch ist viel nötig, um die Fürstengeschichte jedes Einzelstaats gebührend einzuschränken zum Besten der allgemeinen deutschen Geschichte. In der Gegenwart und wohl noch auf Jahr¬ zehnte hinaus liegt die Gefahr nahe, daß der politische Unterricht nur dem Partikularismus förderlich sein würde. Der Satz von der Beherrschung der Zukunft durch die Schule gilt überhaupt nicht ohne Einschränkung. Der Ver¬ fasser betont selbst, daß der Lehrerstand „durch orthodox-theologische Ablichtung in ultraliberale Bahnen gedrängt ist". Ähnliche unbeabsichtigte Gegenwirkungen einer bestimmten Richtungsgebung des Unterrichts ließen sich wohl in größerer Zahl anführen. Hier sei nur ein recht drastisches Beispiel erwähnt. Im be¬ nachbarten Österreich hat die sogenannte Konkordatsschule den Liberalismus erzeugt, die von diesem eingeführte liberale Schule hat, wie die Gegenwart zeigt, die christlichsoziale und die sozialdemokratische Richtung hervorgebracht. Es gibt eben Zeitströmungen, die auf die Volkserziehung einen viel tiefern Einfluß ausüben als die Schule. Eine der deutschen politischen Bildung am meiste» schädliche Strömung ist der Partikularismus, und es wird meist nicht genügend beachtet, welche Stärkung daraus der Ultramontnnismus und die Sozialdemokratie ziehn. Glücklicherweise sind aber auch andre Strömungen vorhanden, von denen Ar die Zukunft viel zu erwarten ist. Aus den Schwankungen der öffentlichen Meinung in den letzten Jahren tritt eine erfreuliche Erscheinung unzweifelhaft hervor: ein sehr reizbares Gefühl für die Ehre des deutschen Namens ist in der Seele unsers Volks rege. Das hat sich bei der Chinaexpedition und während des Aufstands in Südwestafrika in ganz anderm Maße gezeigt, als in der gedruckte« öffentlichen Meinung zum Vorschein gekommen ist. Die letzten Reichstagswahlen haben die Quittung darüber gegeben. Auch die Zeppelin¬ begeisterung ist auf demselben Boden gewachsen. Auf ihm muß auch die politische Bildung durch die Schule emporblühn, sonst würden Sozialdemokratie und Zentrum nur eine weitere Gelegenheit finden, an die neue politische Kenntnis ihre Lehren anzuhängen. Zum Schluß möge noch ein praktischer Vorschlag gemacht werden, um die geradezu unerträgliche Unkenntnis der Reichsverfassung zu beseitigen. Die Reichsregierung hat nie etwas dafür getan, und der vaterländisch gesinnte Bürger kann sie sich gar nicht verschaffen. Sonderabdrücke haben keinen Zweck, da die wenigen Blätter leicht verloren gehn würden. Man sollte die Reichs- Grenzboten IV 1908 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/481>, abgerufen am 22.07.2024.