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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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politische Bildung und Nationalbewußtsein

Fortbildungsschule, und der Verfasser weist dabei nachdrücklich auf die vom
Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner, dem auch das Buch gewidmet ist,
mit Erfolg betriebnen Arbeiten hin. Besondern Wert legt er ferner auf ein
geeignetes Lehrmittel, ein volkstümliches politisches Lehrbuch, wie es schon
Jhering gewünscht hat. In der weitverbreiteten Deutschen Bürgerkunde von
Hoffmann und Groth besitzen wir übrigens schon ein wertvolles Hilfsmittel.

Der Verfasser gibt bescheiden zu, das; er hier nur allgemeine Richtlinien
geben will und von der öffentlichen Besprechung und von praktischen Versuchen
noch manchen fruchtbaren Gedanken erwartet. Diesem Zweck dient auch das
Schlußkapitel mit seinem Überblick über die Schweiz und Frankreich, wo der
Unterricht in der Staatskunde bereits besteht. Diese gedrängte Angabe der
leitenden Gedanken erschöpft den reichen Inhalt des Buchs bei weitem nicht,
das eine eingehende Beachtung durch jeden, der sich für die auf der Tages¬
ordnung stehende Frage interessiert, verdient, schon darum, weil es den vielfach
nur gelegentlich oder von Sonderstandpunkten aus berührten Gegenstand
gründlich und von allen Seiten durchspricht. Die Hingebung, mit der sich der
Verfasser seiner Aufgabe widmet, ist unzweifelhaft eines guten Erfolgs sicher.
Erfrischend wirkt die Ungeschminktheit, mit der gewisse Wahrheiten ausgesprochen
werden und einzelnen landläufigen Irrtümern entgegengetreten wird. So der
Hinweis, daß weder das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken noch die
einseitigphilologische Ausbildung, ebensowenig die theologisierende Richtung,
von welchen Gesichtspunkten aus das deutsche Schulwesen beeinflußt zu werden
pflegt, der politischen Bildung günstig sind. Nur zu wahr ist ferner der Aus-
spruch: "Mau lebt eben des Glaubens, Deutschland sei und bleibe für alle
Zeiten das klassische Land der Schulen, niemals werde der Tag kommen, der
Deutschlands Überflügelung in Schuldingen sieht." Hier möge nachdrücklich die
Hoffnung ausgesprochen werden, daß niemals der Tag kommen möge, an dem
unsre Nachkommen bedauern müßten, daß bei allen Bestrebungen und Kämpfen
für Schulreform als leitende Ideen wohl Humanismus, Realismus und Religion
in Betracht gekommen sind, das Ziel einer vaterländischen Erziehung aber nicht
an die Spitze gestellt worden ist. Man gibt sich eben in Deutschland noch
vielfachen Täuschungen hin. Die Schlacht bei Königgrätz soll ja auch noch
immer durch den Schulmeister gewonnen worden sein, während davon doch nur
so viel richtig ist, daß die allgemeine Wehrpflicht in Preußen dem Heere ge¬
bildetere Elemente zugeführt hatte als den Gegnern. Jetzt ist überall die allgemeine
Wehrpflicht nachgeahmt und dadurch der deutschen Armee ein großer Teil der
Überlegenheit, die sie 1870 hatte, abgenommen worden. So macht man auch
überall unser Schulwesen nach, dessen erprobte Seiten man übernimmt, während
man nicht durch die bei uns übliche Verehrung des ehemals Tüchtigen, Her¬
gebrachten abgehalten wird, den Forderungen der neuen Zeit entsprechende
Abänderungen einzuführen. Hier liegt ein Gebiet, auf dem wir leicht überflügelt
werden können.


politische Bildung und Nationalbewußtsein

Fortbildungsschule, und der Verfasser weist dabei nachdrücklich auf die vom
Münchner Stadtschulrat Dr. Kerschensteiner, dem auch das Buch gewidmet ist,
mit Erfolg betriebnen Arbeiten hin. Besondern Wert legt er ferner auf ein
geeignetes Lehrmittel, ein volkstümliches politisches Lehrbuch, wie es schon
Jhering gewünscht hat. In der weitverbreiteten Deutschen Bürgerkunde von
Hoffmann und Groth besitzen wir übrigens schon ein wertvolles Hilfsmittel.

Der Verfasser gibt bescheiden zu, das; er hier nur allgemeine Richtlinien
geben will und von der öffentlichen Besprechung und von praktischen Versuchen
noch manchen fruchtbaren Gedanken erwartet. Diesem Zweck dient auch das
Schlußkapitel mit seinem Überblick über die Schweiz und Frankreich, wo der
Unterricht in der Staatskunde bereits besteht. Diese gedrängte Angabe der
leitenden Gedanken erschöpft den reichen Inhalt des Buchs bei weitem nicht,
das eine eingehende Beachtung durch jeden, der sich für die auf der Tages¬
ordnung stehende Frage interessiert, verdient, schon darum, weil es den vielfach
nur gelegentlich oder von Sonderstandpunkten aus berührten Gegenstand
gründlich und von allen Seiten durchspricht. Die Hingebung, mit der sich der
Verfasser seiner Aufgabe widmet, ist unzweifelhaft eines guten Erfolgs sicher.
Erfrischend wirkt die Ungeschminktheit, mit der gewisse Wahrheiten ausgesprochen
werden und einzelnen landläufigen Irrtümern entgegengetreten wird. So der
Hinweis, daß weder das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken noch die
einseitigphilologische Ausbildung, ebensowenig die theologisierende Richtung,
von welchen Gesichtspunkten aus das deutsche Schulwesen beeinflußt zu werden
pflegt, der politischen Bildung günstig sind. Nur zu wahr ist ferner der Aus-
spruch: „Mau lebt eben des Glaubens, Deutschland sei und bleibe für alle
Zeiten das klassische Land der Schulen, niemals werde der Tag kommen, der
Deutschlands Überflügelung in Schuldingen sieht." Hier möge nachdrücklich die
Hoffnung ausgesprochen werden, daß niemals der Tag kommen möge, an dem
unsre Nachkommen bedauern müßten, daß bei allen Bestrebungen und Kämpfen
für Schulreform als leitende Ideen wohl Humanismus, Realismus und Religion
in Betracht gekommen sind, das Ziel einer vaterländischen Erziehung aber nicht
an die Spitze gestellt worden ist. Man gibt sich eben in Deutschland noch
vielfachen Täuschungen hin. Die Schlacht bei Königgrätz soll ja auch noch
immer durch den Schulmeister gewonnen worden sein, während davon doch nur
so viel richtig ist, daß die allgemeine Wehrpflicht in Preußen dem Heere ge¬
bildetere Elemente zugeführt hatte als den Gegnern. Jetzt ist überall die allgemeine
Wehrpflicht nachgeahmt und dadurch der deutschen Armee ein großer Teil der
Überlegenheit, die sie 1870 hatte, abgenommen worden. So macht man auch
überall unser Schulwesen nach, dessen erprobte Seiten man übernimmt, während
man nicht durch die bei uns übliche Verehrung des ehemals Tüchtigen, Her¬
gebrachten abgehalten wird, den Forderungen der neuen Zeit entsprechende
Abänderungen einzuführen. Hier liegt ein Gebiet, auf dem wir leicht überflügelt
werden können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/480>, abgerufen am 22.07.2024.