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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

den Abscheu, der den Verbrecher trifft, so wirke das Lustspiel noch kräftiger
als das Trauerspiel. Ferner sei die Schaubühne eine Schule praktischer
Weisheit, indem sie die Motive des Handelns aufdeckt, Menschenkenntnis
lehrt, zeigt, wie man in dieser zu einem großen Teile aus Lasterhaften und
Toren bestehenden Gesellschaft ungeschädigt durchkommen könne, bei welcher
Gelegenheit er, wohl sich seines Aufsatzes von 1782 erinnernd, zugibt, "daß
vielleicht Molieres Harpagon noch keinen Wuchrer gebessert hat, und daß
Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sichrer
machen wird". Ferner wird als eine heilsame Wirkung der Bühne angeführt,
daß sie uns mit der Rolle vertraut macht, die Zufall und Plan im Leben
spielen, auf jenen gefaßt zu sein, diesen zu lenken lehrt. Daß hier allein
die Großen der Erde hören, was sie sonst nie hören: die Wahrheit, sehen,
was sie sonst nirgends zu sehen bekommen: den Menschen. Endlich, daß sie
richtige Einsicht verbreitet; sie hat Duldung gelehrt, "pflanzte Menschlichkeit
und Sanftmut in unser Herz, die abscheulichen Gemälde heidnischer Pfaffen¬
wut lehrten uns den Religionshaß meiden: in diesem schrecklichen Spiegel
wusch das Christentum seine Flecken ab." Alles richtig, wenn man für
Schaubühne: Philosophie, Wissenschaft, schöne Literatur und Presse setzt-
Denn diese vier Mächte sind es, die die Kirche von ihren Irrwegen zurück¬
gebracht und das Christentum von seiner Verunstaltung befreit haben. Die
dramatische Literatur ist doch nur ein Zweig der schönen Literatur, und die
Bühne wirkt doch nur dadurch, daß sie diesem Teile eine intensivere Wirkung
verschafft. Intensivere, nicht umfangreichere. Schiller mag recht haben, wenn
er schreibt: "So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als tote Buch¬
staben und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und
dauernder als Moral und Gesetze", oder vielmehr, möchte recht haben, wenn
er statt Moral und Gesetze geschrieben hätte "gelesene Stücke". Denn das
Gesetz wirkt mit Hilfe des Zuchthauses entschieden kräftiger als das Theater,
und was die Moral im Bunde mit religiösen Motiven vermag, das können
wir an der großartigen sozialen und charitativen Tätigkeit religiös-kirchlicher
Vereine und Korporationen ermessen, und gerade auch an den Ausschreitungen
einer von falscher Religiosität irregeleiteten Moral, an den schrecklichen Ver¬
heerungen, die der Fanatismus angerichtet hat. Also ein gespieltes Drama
mag packender wirken als ein bloß gelesenes -- nachhaltiger wohl nicht
aber was wollen die paar Theaterabende, die, sagen wir, von je zehntausend
Provinzlern genossen werden, bedeuten neben ihren Leseabenden? Sicherlich
kommt auf je hundert Leseabende und durch Lektüre ausgefüllte Sonntag¬
nachmittage noch lange nicht ein Theaterabend. Nehmen wir nun zur schönen
Literatur und zur Tagespresse noch die im gleichen Sinne wirkende wissen¬
schaftliche, namentlich die historische Literatur hinzu, so sehen wir den Einfluß
des Theaters zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen.

Eine der Wirkungen der Bühne, die Schiller aufzählt, verdient noch be¬
sonders beleuchtet zu werden. "Unmöglich kann ich hier den großen Einfluß


Das Theater als Kirche

den Abscheu, der den Verbrecher trifft, so wirke das Lustspiel noch kräftiger
als das Trauerspiel. Ferner sei die Schaubühne eine Schule praktischer
Weisheit, indem sie die Motive des Handelns aufdeckt, Menschenkenntnis
lehrt, zeigt, wie man in dieser zu einem großen Teile aus Lasterhaften und
Toren bestehenden Gesellschaft ungeschädigt durchkommen könne, bei welcher
Gelegenheit er, wohl sich seines Aufsatzes von 1782 erinnernd, zugibt, „daß
vielleicht Molieres Harpagon noch keinen Wuchrer gebessert hat, und daß
Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sichrer
machen wird". Ferner wird als eine heilsame Wirkung der Bühne angeführt,
daß sie uns mit der Rolle vertraut macht, die Zufall und Plan im Leben
spielen, auf jenen gefaßt zu sein, diesen zu lenken lehrt. Daß hier allein
die Großen der Erde hören, was sie sonst nie hören: die Wahrheit, sehen,
was sie sonst nirgends zu sehen bekommen: den Menschen. Endlich, daß sie
richtige Einsicht verbreitet; sie hat Duldung gelehrt, „pflanzte Menschlichkeit
und Sanftmut in unser Herz, die abscheulichen Gemälde heidnischer Pfaffen¬
wut lehrten uns den Religionshaß meiden: in diesem schrecklichen Spiegel
wusch das Christentum seine Flecken ab." Alles richtig, wenn man für
Schaubühne: Philosophie, Wissenschaft, schöne Literatur und Presse setzt-
Denn diese vier Mächte sind es, die die Kirche von ihren Irrwegen zurück¬
gebracht und das Christentum von seiner Verunstaltung befreit haben. Die
dramatische Literatur ist doch nur ein Zweig der schönen Literatur, und die
Bühne wirkt doch nur dadurch, daß sie diesem Teile eine intensivere Wirkung
verschafft. Intensivere, nicht umfangreichere. Schiller mag recht haben, wenn
er schreibt: „So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als tote Buch¬
staben und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und
dauernder als Moral und Gesetze", oder vielmehr, möchte recht haben, wenn
er statt Moral und Gesetze geschrieben hätte „gelesene Stücke". Denn das
Gesetz wirkt mit Hilfe des Zuchthauses entschieden kräftiger als das Theater,
und was die Moral im Bunde mit religiösen Motiven vermag, das können
wir an der großartigen sozialen und charitativen Tätigkeit religiös-kirchlicher
Vereine und Korporationen ermessen, und gerade auch an den Ausschreitungen
einer von falscher Religiosität irregeleiteten Moral, an den schrecklichen Ver¬
heerungen, die der Fanatismus angerichtet hat. Also ein gespieltes Drama
mag packender wirken als ein bloß gelesenes — nachhaltiger wohl nicht
aber was wollen die paar Theaterabende, die, sagen wir, von je zehntausend
Provinzlern genossen werden, bedeuten neben ihren Leseabenden? Sicherlich
kommt auf je hundert Leseabende und durch Lektüre ausgefüllte Sonntag¬
nachmittage noch lange nicht ein Theaterabend. Nehmen wir nun zur schönen
Literatur und zur Tagespresse noch die im gleichen Sinne wirkende wissen¬
schaftliche, namentlich die historische Literatur hinzu, so sehen wir den Einfluß
des Theaters zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen.

Eine der Wirkungen der Bühne, die Schiller aufzählt, verdient noch be¬
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[0438] Das Theater als Kirche den Abscheu, der den Verbrecher trifft, so wirke das Lustspiel noch kräftiger als das Trauerspiel. Ferner sei die Schaubühne eine Schule praktischer Weisheit, indem sie die Motive des Handelns aufdeckt, Menschenkenntnis lehrt, zeigt, wie man in dieser zu einem großen Teile aus Lasterhaften und Toren bestehenden Gesellschaft ungeschädigt durchkommen könne, bei welcher Gelegenheit er, wohl sich seines Aufsatzes von 1782 erinnernd, zugibt, „daß vielleicht Molieres Harpagon noch keinen Wuchrer gebessert hat, und daß Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sichrer machen wird". Ferner wird als eine heilsame Wirkung der Bühne angeführt, daß sie uns mit der Rolle vertraut macht, die Zufall und Plan im Leben spielen, auf jenen gefaßt zu sein, diesen zu lenken lehrt. Daß hier allein die Großen der Erde hören, was sie sonst nie hören: die Wahrheit, sehen, was sie sonst nirgends zu sehen bekommen: den Menschen. Endlich, daß sie richtige Einsicht verbreitet; sie hat Duldung gelehrt, „pflanzte Menschlichkeit und Sanftmut in unser Herz, die abscheulichen Gemälde heidnischer Pfaffen¬ wut lehrten uns den Religionshaß meiden: in diesem schrecklichen Spiegel wusch das Christentum seine Flecken ab." Alles richtig, wenn man für Schaubühne: Philosophie, Wissenschaft, schöne Literatur und Presse setzt- Denn diese vier Mächte sind es, die die Kirche von ihren Irrwegen zurück¬ gebracht und das Christentum von seiner Verunstaltung befreit haben. Die dramatische Literatur ist doch nur ein Zweig der schönen Literatur, und die Bühne wirkt doch nur dadurch, daß sie diesem Teile eine intensivere Wirkung verschafft. Intensivere, nicht umfangreichere. Schiller mag recht haben, wenn er schreibt: „So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt als tote Buch¬ staben und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze", oder vielmehr, möchte recht haben, wenn er statt Moral und Gesetze geschrieben hätte „gelesene Stücke". Denn das Gesetz wirkt mit Hilfe des Zuchthauses entschieden kräftiger als das Theater, und was die Moral im Bunde mit religiösen Motiven vermag, das können wir an der großartigen sozialen und charitativen Tätigkeit religiös-kirchlicher Vereine und Korporationen ermessen, und gerade auch an den Ausschreitungen einer von falscher Religiosität irregeleiteten Moral, an den schrecklichen Ver¬ heerungen, die der Fanatismus angerichtet hat. Also ein gespieltes Drama mag packender wirken als ein bloß gelesenes — nachhaltiger wohl nicht aber was wollen die paar Theaterabende, die, sagen wir, von je zehntausend Provinzlern genossen werden, bedeuten neben ihren Leseabenden? Sicherlich kommt auf je hundert Leseabende und durch Lektüre ausgefüllte Sonntag¬ nachmittage noch lange nicht ein Theaterabend. Nehmen wir nun zur schönen Literatur und zur Tagespresse noch die im gleichen Sinne wirkende wissen¬ schaftliche, namentlich die historische Literatur hinzu, so sehen wir den Einfluß des Theaters zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen. Eine der Wirkungen der Bühne, die Schiller aufzählt, verdient noch be¬ sonders beleuchtet zu werden. „Unmöglich kann ich hier den großen Einfluß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/438>, abgerufen am 22.07.2024.