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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Junge Richter und junge Rechtsanwälte

milde und am rechten Ort strenge sein, auch soll er die Sachlage stets richtig
erfassen: davon daß im Ermittlungsverfahren oder in der Voruntersuchung
eine Verhaftung oder Beschlagnahme zur rechten Zeit erfolgt, hängt oft der
Ausgang des Strafverfahrens ab; aber eine solche Maßregel, zu Unrecht er¬
folgt, kann dem Unschuldigen Nachteile bringen, die gar nicht wieder gut zu
machen sind. Und schließlich soll der Strafrichter auch das kennen, was man
in neuerer Zeit als die "Psychologie der Zeugenaussage" bezeichnet. Nach
der Ansicht hervorragender Strafrechtslehrer empfängt von drei Gleichgebildeten,
die denselben Vorgang gleichzeitig beobachten, ein jeder ein ganz andres Bild
des Vorgangs, sodaß die Zeugenaussage jedes von ihnen eine ganz andre sein
würde. Das mag übertrieben sein; aber eines ist richtig: auch wenn sie alle
drei durchaus dasselbe aussagen, und jeder von ihnen würde von einem andern
Richter vernommen, so würde jedes Protokoll den Vorgang anders wieder¬
geben. Denn jeder Zeuge hat, wie der Franzose es ausdrückt, sein eignes
timbrs, das zu treffen sehr schwer ist, zumal da hier Unbeholfenheit, Selbst¬
täuschung und böser Wille eine große Rolle spielen.

Auch hier ist wieder eines zweifellos: alle diese eben erwähnten Eigen¬
schaften, die der Strafrichter haben soll, erlangt der Jurist nicht in der Vor¬
bildungszeit, sondern nur durch langjährige praktische Tätigkeit. Und damit
beantwortet sich von selbst die Frage, ob junge Richter wohl geeignet sind zu
Strafrichtern. Dabei ist der Kreis der von den Schöffengerichten zu be¬
arbeitenden Sachen nach der neusten Gesetzgebung gar nicht klein, die Selb¬
ständigkeit des Amtsrichters aber sehr groß. Denn die Schöffengerichte
sind doch nur eine Krönung des Einzelrichtertums; das Votum der Schöffen
geht doch zumeist dahin: "Der Herr Amtsrichter wird ja wohl am besten
wissen." Wehe aber, wenn die Schöffen anders denken und zu der oben
erwähnten "freien Rechtsfindung" neigen; dann versichern sie wohl: "Wir
hätten es nicht anders gemacht wie der Angeklagte, also muß er freigesprochen
werden." Da muß der Amtsrichter wieder die Kunst des Auftretens haben,
und die Gefahr, daß sie dem jungen Amtsrichter namentlich gegenüber den
ältern Schöffen abgeht, ist sehr groß.

Und nun zur freiwilligen Gerichtsbarkeit! Während im Zivilprozeß der
Richter nur darüber zu entscheiden hat, ob das geltend gemachte Recht schon
besteht, und es den Parteien überlassen ist, das zur Wahrung des von ihnen
behaupteten Rechtszustandes notwendige selbsttätig vorzubringen, hat in der
freiwilligen Gerichtsbarkeit der Richter eine Recht schaffende Tätigkeit; er
soll Rechte begründen, verändern, aufheben, und diese seine Tätigkeit ist
sehr einschneidend. So kann der Vormundschaftsrichter das oberste und natür¬
lichste aller Rechte, nämlich das Recht der Eltern zur Erziehung der Kinder
beschränken und beseitigen; er kann die von den Eltern über den Unterhalt
der Kinder getroffne Bestimmung ändern; er hat wichtigere Handlungen des
Vormundes zu genehmigen, das heißt zu prüfen, ob sie geeignet sind, das


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milde und am rechten Ort strenge sein, auch soll er die Sachlage stets richtig
erfassen: davon daß im Ermittlungsverfahren oder in der Voruntersuchung
eine Verhaftung oder Beschlagnahme zur rechten Zeit erfolgt, hängt oft der
Ausgang des Strafverfahrens ab; aber eine solche Maßregel, zu Unrecht er¬
folgt, kann dem Unschuldigen Nachteile bringen, die gar nicht wieder gut zu
machen sind. Und schließlich soll der Strafrichter auch das kennen, was man
in neuerer Zeit als die „Psychologie der Zeugenaussage" bezeichnet. Nach
der Ansicht hervorragender Strafrechtslehrer empfängt von drei Gleichgebildeten,
die denselben Vorgang gleichzeitig beobachten, ein jeder ein ganz andres Bild
des Vorgangs, sodaß die Zeugenaussage jedes von ihnen eine ganz andre sein
würde. Das mag übertrieben sein; aber eines ist richtig: auch wenn sie alle
drei durchaus dasselbe aussagen, und jeder von ihnen würde von einem andern
Richter vernommen, so würde jedes Protokoll den Vorgang anders wieder¬
geben. Denn jeder Zeuge hat, wie der Franzose es ausdrückt, sein eignes
timbrs, das zu treffen sehr schwer ist, zumal da hier Unbeholfenheit, Selbst¬
täuschung und böser Wille eine große Rolle spielen.

Auch hier ist wieder eines zweifellos: alle diese eben erwähnten Eigen¬
schaften, die der Strafrichter haben soll, erlangt der Jurist nicht in der Vor¬
bildungszeit, sondern nur durch langjährige praktische Tätigkeit. Und damit
beantwortet sich von selbst die Frage, ob junge Richter wohl geeignet sind zu
Strafrichtern. Dabei ist der Kreis der von den Schöffengerichten zu be¬
arbeitenden Sachen nach der neusten Gesetzgebung gar nicht klein, die Selb¬
ständigkeit des Amtsrichters aber sehr groß. Denn die Schöffengerichte
sind doch nur eine Krönung des Einzelrichtertums; das Votum der Schöffen
geht doch zumeist dahin: „Der Herr Amtsrichter wird ja wohl am besten
wissen." Wehe aber, wenn die Schöffen anders denken und zu der oben
erwähnten „freien Rechtsfindung" neigen; dann versichern sie wohl: „Wir
hätten es nicht anders gemacht wie der Angeklagte, also muß er freigesprochen
werden." Da muß der Amtsrichter wieder die Kunst des Auftretens haben,
und die Gefahr, daß sie dem jungen Amtsrichter namentlich gegenüber den
ältern Schöffen abgeht, ist sehr groß.

Und nun zur freiwilligen Gerichtsbarkeit! Während im Zivilprozeß der
Richter nur darüber zu entscheiden hat, ob das geltend gemachte Recht schon
besteht, und es den Parteien überlassen ist, das zur Wahrung des von ihnen
behaupteten Rechtszustandes notwendige selbsttätig vorzubringen, hat in der
freiwilligen Gerichtsbarkeit der Richter eine Recht schaffende Tätigkeit; er
soll Rechte begründen, verändern, aufheben, und diese seine Tätigkeit ist
sehr einschneidend. So kann der Vormundschaftsrichter das oberste und natür¬
lichste aller Rechte, nämlich das Recht der Eltern zur Erziehung der Kinder
beschränken und beseitigen; er kann die von den Eltern über den Unterhalt
der Kinder getroffne Bestimmung ändern; er hat wichtigere Handlungen des
Vormundes zu genehmigen, das heißt zu prüfen, ob sie geeignet sind, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/388>, abgerufen am 22.07.2024.