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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Kirche

Gedichte bezeugt ist. hatten sie schon Gesetze, wenn auch nicht die solomschen.
Selbstverständlich muß den Menschen die Anlage des Sinnes für Schönheit
angeboren sein, weil sie sich ja sonst nicht entwickeln könnte, aber sie entwickelt
sich langsam und spärlich. Dem armen kleinen Kinde ist sein schlecht gekleidetes,
verschrumpftes und verhuzeltes Großmütterlein lieber als eine schöne Dame in
großer Toilette, vor der es sich allenfalls fürchtet, wenn sie ihm fremd ist.
Wie das heranwachsende schöne Gerätschaften. Gefäße. Bücher. Bilder schätzt,
zeigt die Behandlung, die es ihnen angedeihen läßt. An Bildern macht ihm
nicht das Schöne Vergnügen, sondern das Wiedererkennen bekannter Gegen¬
stände und Personen. Dann entwickelt sich zunächst der Sinn für das Komische
und Groteske: den Struwelpeter zieht es jeder Madonna und Venus vor. Im
Freien fesselt seine Aufmerksamkeit alles Auffällige: das Bunte und Glänzende,
das lebhaft Bewegte und schallende. Tönende. Rauschende, der ratternde
tatternde Bahnzug. die umherspringenden, bellenden, brüllenden Vierfüßler,
alles was kreucht'und fleugt, dann alles, womit man spielen kann, em Sand¬
haufen. Wasser und Kot. Holzstückchen. Baumzweige. Weidengerten; auch die
Blumen werden nur als Spielzeug gewürdigt, werden gepflückt und zerpflückt;
später zu Sträußen und Kränzen verwandt, nicht weil diese schön sind oder dem
damit Geschmückten schön stehn, sondern weil das Binden und Winden eine
unterhaltende Beschäftigung ist. Der größere Knabe schätzt an Bildern das
Neue, das Unterrichtende, im Freien, was zu Leibesübungen und zu aben¬
teuerlichen und kühnen Unternehmungen Gelegenheit gibt: Vogelnester auf
hohen Bäumen. Felsen zum Daraufklettern. Waldschluchten, in denen sichs
hübsch Ritter und Räuber spielt. Rohr zum Pfeifenschneiden. In reifern Jahren
Naturerzeugnisse, die er sammelt oder deren innern Bau er untersucht. Das
Schöne bemerkt er zuerst an kleinen und mäßig großen Individuen: er lernt
Kristalle von Kieseln, die schön gefärbten Blumen. Schmetterlinge und Käfer
von den unscheinbaren, das schöne Roß von dem abgetriebnen Karrengaul
unterscheiden. Dagegen versteht er kaum, was man meint, wenn man die
Schönheit eines Baumes oder einer Aussicht preist. Von ihren Sekundanern
behaupten manche Lehrer, bei Ausflügen mache jenen zwar das Laufen ^er-
gnügen. von den Aussichten aber sei ihnen die auf die Bierquelle die liebste.
Auch die Erwachsnen lernen landschaftliche Schönheiten erst an Gemälden
Sätzen: die Landschaftsmaler, die mit dem Sinn dafür geboren sind, offnen
w dieser Beziehung den übrigen Kulturmenschen - bei weitem nicht allen - die
Augen. Der Landmann bleibt wohl im allgemeinen auf der Stufe des Knaben
stehn. Am besten gefallen ihm seine wohlbestellten Acker in der Saat- und
Reifezeit. Das Freie seines Wohnplatzes, die grüne Wiese und den blauen
Himmel darüber weiß er allerdings gegenüber dem städtischen Pflaster und
einer düstern beengten Hofwohnung zu schätzen, und darin liegt ohne Zweifel
schon ein Aufdämmern ästhetischer Würdigung, das sich auch in der Blumen¬
pflege, überhaupt in der gefälligen Herrichtung und Ausstattung der Wohnung


Das Theater als Kirche

Gedichte bezeugt ist. hatten sie schon Gesetze, wenn auch nicht die solomschen.
Selbstverständlich muß den Menschen die Anlage des Sinnes für Schönheit
angeboren sein, weil sie sich ja sonst nicht entwickeln könnte, aber sie entwickelt
sich langsam und spärlich. Dem armen kleinen Kinde ist sein schlecht gekleidetes,
verschrumpftes und verhuzeltes Großmütterlein lieber als eine schöne Dame in
großer Toilette, vor der es sich allenfalls fürchtet, wenn sie ihm fremd ist.
Wie das heranwachsende schöne Gerätschaften. Gefäße. Bücher. Bilder schätzt,
zeigt die Behandlung, die es ihnen angedeihen läßt. An Bildern macht ihm
nicht das Schöne Vergnügen, sondern das Wiedererkennen bekannter Gegen¬
stände und Personen. Dann entwickelt sich zunächst der Sinn für das Komische
und Groteske: den Struwelpeter zieht es jeder Madonna und Venus vor. Im
Freien fesselt seine Aufmerksamkeit alles Auffällige: das Bunte und Glänzende,
das lebhaft Bewegte und schallende. Tönende. Rauschende, der ratternde
tatternde Bahnzug. die umherspringenden, bellenden, brüllenden Vierfüßler,
alles was kreucht'und fleugt, dann alles, womit man spielen kann, em Sand¬
haufen. Wasser und Kot. Holzstückchen. Baumzweige. Weidengerten; auch die
Blumen werden nur als Spielzeug gewürdigt, werden gepflückt und zerpflückt;
später zu Sträußen und Kränzen verwandt, nicht weil diese schön sind oder dem
damit Geschmückten schön stehn, sondern weil das Binden und Winden eine
unterhaltende Beschäftigung ist. Der größere Knabe schätzt an Bildern das
Neue, das Unterrichtende, im Freien, was zu Leibesübungen und zu aben¬
teuerlichen und kühnen Unternehmungen Gelegenheit gibt: Vogelnester auf
hohen Bäumen. Felsen zum Daraufklettern. Waldschluchten, in denen sichs
hübsch Ritter und Räuber spielt. Rohr zum Pfeifenschneiden. In reifern Jahren
Naturerzeugnisse, die er sammelt oder deren innern Bau er untersucht. Das
Schöne bemerkt er zuerst an kleinen und mäßig großen Individuen: er lernt
Kristalle von Kieseln, die schön gefärbten Blumen. Schmetterlinge und Käfer
von den unscheinbaren, das schöne Roß von dem abgetriebnen Karrengaul
unterscheiden. Dagegen versteht er kaum, was man meint, wenn man die
Schönheit eines Baumes oder einer Aussicht preist. Von ihren Sekundanern
behaupten manche Lehrer, bei Ausflügen mache jenen zwar das Laufen ^er-
gnügen. von den Aussichten aber sei ihnen die auf die Bierquelle die liebste.
Auch die Erwachsnen lernen landschaftliche Schönheiten erst an Gemälden
Sätzen: die Landschaftsmaler, die mit dem Sinn dafür geboren sind, offnen
w dieser Beziehung den übrigen Kulturmenschen - bei weitem nicht allen - die
Augen. Der Landmann bleibt wohl im allgemeinen auf der Stufe des Knaben
stehn. Am besten gefallen ihm seine wohlbestellten Acker in der Saat- und
Reifezeit. Das Freie seines Wohnplatzes, die grüne Wiese und den blauen
Himmel darüber weiß er allerdings gegenüber dem städtischen Pflaster und
einer düstern beengten Hofwohnung zu schätzen, und darin liegt ohne Zweifel
schon ein Aufdämmern ästhetischer Würdigung, das sich auch in der Blumen¬
pflege, überhaupt in der gefälligen Herrichtung und Ausstattung der Wohnung


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[0345] Das Theater als Kirche Gedichte bezeugt ist. hatten sie schon Gesetze, wenn auch nicht die solomschen. Selbstverständlich muß den Menschen die Anlage des Sinnes für Schönheit angeboren sein, weil sie sich ja sonst nicht entwickeln könnte, aber sie entwickelt sich langsam und spärlich. Dem armen kleinen Kinde ist sein schlecht gekleidetes, verschrumpftes und verhuzeltes Großmütterlein lieber als eine schöne Dame in großer Toilette, vor der es sich allenfalls fürchtet, wenn sie ihm fremd ist. Wie das heranwachsende schöne Gerätschaften. Gefäße. Bücher. Bilder schätzt, zeigt die Behandlung, die es ihnen angedeihen läßt. An Bildern macht ihm nicht das Schöne Vergnügen, sondern das Wiedererkennen bekannter Gegen¬ stände und Personen. Dann entwickelt sich zunächst der Sinn für das Komische und Groteske: den Struwelpeter zieht es jeder Madonna und Venus vor. Im Freien fesselt seine Aufmerksamkeit alles Auffällige: das Bunte und Glänzende, das lebhaft Bewegte und schallende. Tönende. Rauschende, der ratternde tatternde Bahnzug. die umherspringenden, bellenden, brüllenden Vierfüßler, alles was kreucht'und fleugt, dann alles, womit man spielen kann, em Sand¬ haufen. Wasser und Kot. Holzstückchen. Baumzweige. Weidengerten; auch die Blumen werden nur als Spielzeug gewürdigt, werden gepflückt und zerpflückt; später zu Sträußen und Kränzen verwandt, nicht weil diese schön sind oder dem damit Geschmückten schön stehn, sondern weil das Binden und Winden eine unterhaltende Beschäftigung ist. Der größere Knabe schätzt an Bildern das Neue, das Unterrichtende, im Freien, was zu Leibesübungen und zu aben¬ teuerlichen und kühnen Unternehmungen Gelegenheit gibt: Vogelnester auf hohen Bäumen. Felsen zum Daraufklettern. Waldschluchten, in denen sichs hübsch Ritter und Räuber spielt. Rohr zum Pfeifenschneiden. In reifern Jahren Naturerzeugnisse, die er sammelt oder deren innern Bau er untersucht. Das Schöne bemerkt er zuerst an kleinen und mäßig großen Individuen: er lernt Kristalle von Kieseln, die schön gefärbten Blumen. Schmetterlinge und Käfer von den unscheinbaren, das schöne Roß von dem abgetriebnen Karrengaul unterscheiden. Dagegen versteht er kaum, was man meint, wenn man die Schönheit eines Baumes oder einer Aussicht preist. Von ihren Sekundanern behaupten manche Lehrer, bei Ausflügen mache jenen zwar das Laufen ^er- gnügen. von den Aussichten aber sei ihnen die auf die Bierquelle die liebste. Auch die Erwachsnen lernen landschaftliche Schönheiten erst an Gemälden Sätzen: die Landschaftsmaler, die mit dem Sinn dafür geboren sind, offnen w dieser Beziehung den übrigen Kulturmenschen - bei weitem nicht allen - die Augen. Der Landmann bleibt wohl im allgemeinen auf der Stufe des Knaben stehn. Am besten gefallen ihm seine wohlbestellten Acker in der Saat- und Reifezeit. Das Freie seines Wohnplatzes, die grüne Wiese und den blauen Himmel darüber weiß er allerdings gegenüber dem städtischen Pflaster und einer düstern beengten Hofwohnung zu schätzen, und darin liegt ohne Zweifel schon ein Aufdämmern ästhetischer Würdigung, das sich auch in der Blumen¬ pflege, überhaupt in der gefälligen Herrichtung und Ausstattung der Wohnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/345>, abgerufen am 22.07.2024.