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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Das Theater als Atrche

andres richtiges Wort geprägt. Die Poeten schreiben alle, spricht er am
24. September 1827 zu Eckermann, "als wären sie krank und die ganze
Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der
Erde und von den Freuden des Jenseits lauf unsre heutigen Naturalisten,
die vom Jenseits nichts wissen mögen, paßt das freilich nichts, und un¬
zufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Un¬
zufriedenheit hinein. Das ist ein wirklicher Mißbrauch der Poesie, die uns
doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszu¬
gleichen und den Menschen mit seinem Zustande und der Welt zufrieden zu
machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller Kraft, und nur
bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein
gutes Wort gefunden, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die
Lazarettpoesie nennen; echt tyrtüische dagegen diejenige, die nicht bloß
Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die
Kämpfe des Lebens zu bestehn." Sofern diese Poesie nichts als die schlechte
und womöglich die schlechteste Alltagswirklichkeit auf die Bühne bringt, hat
sie vor längerer Zeit einmal Paul Lindau, der doch wahrhaftig weder zu den
überspannten Idealisten noch zu den Kirchlichen gehört, bei der Beurteilung
eines realistischen Dramas ungefähr mit den Worten zurückgewiesen: Die
Leute quatschen und quatschen, und es kommt dabei nicht mehr heraus wie
bei jedem beliebigen Waschweiber- oder Marktweibergequatsch; wenn mich nach
so etwas gelüstet, dann gehe ich doch lieber gleich auf den Wochenmarkt, wo
ich es ganz echt habe.

Wie denkt sich nun Schiller die Wirkung der Schaubühne als einer
moralischen Anstalt? Sie muß natürlich zunächst als ein Bestandteil der
ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts im allgemeinen gedacht werden.
Deren Grundsätze hat er bekanntlich in einer besondern Abhandlung entwickelt,
ihr Kern aber liegt anschaulich zutage in der vierten Strophe des Lehrgedichts:
Die Künstler:eeveroen

Die Chronologie dieser Erklärung ist nicht ganz einwandfrei. Der Schönheits¬
sinn pflegt sich bei den Völkern wie beim Kinde erst im reifern Alter zu ent¬
wickeln, bei den Völkern also auf einer Stufe höherer und feinerer Kultur,
die auch schon das methodische Denken und einen Zustand der Gesetzlichkeit
ausgebildet hat. In der freilich nicht genau fixierbaren Zeit, für die bei den
Griechen feines ästhetisches und sittliches Empfinden durch die homerischen


Das Theater als Atrche

andres richtiges Wort geprägt. Die Poeten schreiben alle, spricht er am
24. September 1827 zu Eckermann, „als wären sie krank und die ganze
Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der
Erde und von den Freuden des Jenseits lauf unsre heutigen Naturalisten,
die vom Jenseits nichts wissen mögen, paßt das freilich nichts, und un¬
zufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Un¬
zufriedenheit hinein. Das ist ein wirklicher Mißbrauch der Poesie, die uns
doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszu¬
gleichen und den Menschen mit seinem Zustande und der Welt zufrieden zu
machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller Kraft, und nur
bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein
gutes Wort gefunden, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die
Lazarettpoesie nennen; echt tyrtüische dagegen diejenige, die nicht bloß
Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die
Kämpfe des Lebens zu bestehn." Sofern diese Poesie nichts als die schlechte
und womöglich die schlechteste Alltagswirklichkeit auf die Bühne bringt, hat
sie vor längerer Zeit einmal Paul Lindau, der doch wahrhaftig weder zu den
überspannten Idealisten noch zu den Kirchlichen gehört, bei der Beurteilung
eines realistischen Dramas ungefähr mit den Worten zurückgewiesen: Die
Leute quatschen und quatschen, und es kommt dabei nicht mehr heraus wie
bei jedem beliebigen Waschweiber- oder Marktweibergequatsch; wenn mich nach
so etwas gelüstet, dann gehe ich doch lieber gleich auf den Wochenmarkt, wo
ich es ganz echt habe.

Wie denkt sich nun Schiller die Wirkung der Schaubühne als einer
moralischen Anstalt? Sie muß natürlich zunächst als ein Bestandteil der
ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts im allgemeinen gedacht werden.
Deren Grundsätze hat er bekanntlich in einer besondern Abhandlung entwickelt,
ihr Kern aber liegt anschaulich zutage in der vierten Strophe des Lehrgedichts:
Die Künstler:eeveroen

Die Chronologie dieser Erklärung ist nicht ganz einwandfrei. Der Schönheits¬
sinn pflegt sich bei den Völkern wie beim Kinde erst im reifern Alter zu ent¬
wickeln, bei den Völkern also auf einer Stufe höherer und feinerer Kultur,
die auch schon das methodische Denken und einen Zustand der Gesetzlichkeit
ausgebildet hat. In der freilich nicht genau fixierbaren Zeit, für die bei den
Griechen feines ästhetisches und sittliches Empfinden durch die homerischen


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[0344] Das Theater als Atrche andres richtiges Wort geprägt. Die Poeten schreiben alle, spricht er am 24. September 1827 zu Eckermann, „als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von den Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits lauf unsre heutigen Naturalisten, die vom Jenseits nichts wissen mögen, paßt das freilich nichts, und un¬ zufrieden wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Un¬ zufriedenheit hinein. Das ist ein wirklicher Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszu¬ gleichen und den Menschen mit seinem Zustande und der Welt zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne. Ich habe ein gutes Wort gefunden, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarettpoesie nennen; echt tyrtüische dagegen diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehn." Sofern diese Poesie nichts als die schlechte und womöglich die schlechteste Alltagswirklichkeit auf die Bühne bringt, hat sie vor längerer Zeit einmal Paul Lindau, der doch wahrhaftig weder zu den überspannten Idealisten noch zu den Kirchlichen gehört, bei der Beurteilung eines realistischen Dramas ungefähr mit den Worten zurückgewiesen: Die Leute quatschen und quatschen, und es kommt dabei nicht mehr heraus wie bei jedem beliebigen Waschweiber- oder Marktweibergequatsch; wenn mich nach so etwas gelüstet, dann gehe ich doch lieber gleich auf den Wochenmarkt, wo ich es ganz echt habe. Wie denkt sich nun Schiller die Wirkung der Schaubühne als einer moralischen Anstalt? Sie muß natürlich zunächst als ein Bestandteil der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts im allgemeinen gedacht werden. Deren Grundsätze hat er bekanntlich in einer besondern Abhandlung entwickelt, ihr Kern aber liegt anschaulich zutage in der vierten Strophe des Lehrgedichts: Die Künstler:eeveroen Die Chronologie dieser Erklärung ist nicht ganz einwandfrei. Der Schönheits¬ sinn pflegt sich bei den Völkern wie beim Kinde erst im reifern Alter zu ent¬ wickeln, bei den Völkern also auf einer Stufe höherer und feinerer Kultur, die auch schon das methodische Denken und einen Zustand der Gesetzlichkeit ausgebildet hat. In der freilich nicht genau fixierbaren Zeit, für die bei den Griechen feines ästhetisches und sittliches Empfinden durch die homerischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/344>, abgerufen am 22.07.2024.