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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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SchiUerselbstmorde

Schule für die gräßliche Tat allein verantwortlich gemacht, als ob die Lehrer
nicht auch Menschen mit Herzen und Gewissen wären und von dein Fall mit
am schrecklichsten betroffen wären.

Dazu, wie leicht, wie schnell kann ein Lehrer in ein solches Unglück mit
hineingezogen werden! Vor wenig Monaten saß unter meinen Konfirmanden
ein sehr entarteter Junge, über den die Klagen von den verschiedensten Seiten
nicht aufhören wollten. Alle Strenge, alle Güte vermochte nichts auszurichten.
Schließlich steckte ich ihm deu Termin: wenn sich der Junge nicht in vier
Wochen ändern würde, müßte er von der Konfirmation ausgeschlossen werden.
Was geschieht? In der Nacht darauf finden die entsetzten Eltern den Knaben
in der Nähe des Flusses mit Selbstmordgedanken beschäftigt. Gesetzt, das
Unglück wäre eingetroffen, was hätte der zwanzigjährige Ruf des zu besondrer
Milde neigenden Lehrers genützt? und als welch fetter Bissen wäre der Fall
von der sozialdemokratischen, kirchen- und pfarrersfeindlichen Presse ausgeschlachtet
worden! Hier wie in den meisten andern Fällen lag die Schuld fast aus¬
schließlich an dem Elternhaus, an der verkehrten Erziehung, an der Gleich-
giltigkeit, Lässigkeit und Sorglosigkeit, die die notwendigsten Elternpflichten
seit Jahren vergessen ließen.

Wo findet sich heute noch die Atmosphäre eines glücklichen Familienlebens,
jene gesunde Luft, in der allein eine Kinderseele recht gedeihn kann? Wie
häufig wird der neue Ankömmling als eine Last empfunden, die besser fern
geblieben wäre! Wie oft find die Erinnerungen solcher Ärmsten unter den
Armen an die Kindheit zurück nicht paradiesischer sondern höllischer Art. Hund
und Katze werden in solchen Häusern besser behandelt als die eignen Kinder.

Doch es muß nicht immer Torheit und Roheit vorliege", sowenig wie
bei andern Vergnügungs- und Zerstreuungssucht die Eltern abhält, sich um
ihre Kinder in der richtigen Weise zu kümmern, sittlichen Ernst und tieferes
Pflichtgefühl beizeiten in ihnen zu erwecken. Meist ist der Beruf des Vaters
aufreibend, nimmt Leib und Geist derartig in Anspruch, daß er selbst bei dem
besten Willen zu Hause nicht die Zeit findet, für das geistige und seelische
Wohl seiner Kinder Sorge z" tragen.

Man frage nicht: Wozu ist die Mutter da? Gewiß, sie tut, was sie kann.
Mit Unermüdlichkeit, Aufopferung und Selbstverleugnung sucht sie ihre Pflichten
zu erfüllen. Allein die Kinder werden größer, und alsbald tauchen Einflüsse,
Gefahren von außen auf, über die die Mutter nicht Herr werden kann, schon
darum nicht, weil sie sich ihrer Kenntnis entziehen. Sie beobachtet vielleicht
mit Betrübnis, mit Schrecken, daß sich der Junge oder das Mädchen verändern,
nicht mehr die alten sind, sie geht den Gründen nach, sie versäumt nichts. Aber
zuletzt erweisen sich die fremden Kräfte stärker als ihre beschränkte Macht, und
nur in den seltensten Fällen ist das Vertrauensverhältnis den halberwachsnen
Kindern gegenüber derartig günstig, daß aufkeimenden Schäden rechtzeitig vor¬
gebeugt werden kann. Was an groben Verstößen gegen richtige Erziehung


SchiUerselbstmorde

Schule für die gräßliche Tat allein verantwortlich gemacht, als ob die Lehrer
nicht auch Menschen mit Herzen und Gewissen wären und von dein Fall mit
am schrecklichsten betroffen wären.

Dazu, wie leicht, wie schnell kann ein Lehrer in ein solches Unglück mit
hineingezogen werden! Vor wenig Monaten saß unter meinen Konfirmanden
ein sehr entarteter Junge, über den die Klagen von den verschiedensten Seiten
nicht aufhören wollten. Alle Strenge, alle Güte vermochte nichts auszurichten.
Schließlich steckte ich ihm deu Termin: wenn sich der Junge nicht in vier
Wochen ändern würde, müßte er von der Konfirmation ausgeschlossen werden.
Was geschieht? In der Nacht darauf finden die entsetzten Eltern den Knaben
in der Nähe des Flusses mit Selbstmordgedanken beschäftigt. Gesetzt, das
Unglück wäre eingetroffen, was hätte der zwanzigjährige Ruf des zu besondrer
Milde neigenden Lehrers genützt? und als welch fetter Bissen wäre der Fall
von der sozialdemokratischen, kirchen- und pfarrersfeindlichen Presse ausgeschlachtet
worden! Hier wie in den meisten andern Fällen lag die Schuld fast aus¬
schließlich an dem Elternhaus, an der verkehrten Erziehung, an der Gleich-
giltigkeit, Lässigkeit und Sorglosigkeit, die die notwendigsten Elternpflichten
seit Jahren vergessen ließen.

Wo findet sich heute noch die Atmosphäre eines glücklichen Familienlebens,
jene gesunde Luft, in der allein eine Kinderseele recht gedeihn kann? Wie
häufig wird der neue Ankömmling als eine Last empfunden, die besser fern
geblieben wäre! Wie oft find die Erinnerungen solcher Ärmsten unter den
Armen an die Kindheit zurück nicht paradiesischer sondern höllischer Art. Hund
und Katze werden in solchen Häusern besser behandelt als die eignen Kinder.

Doch es muß nicht immer Torheit und Roheit vorliege», sowenig wie
bei andern Vergnügungs- und Zerstreuungssucht die Eltern abhält, sich um
ihre Kinder in der richtigen Weise zu kümmern, sittlichen Ernst und tieferes
Pflichtgefühl beizeiten in ihnen zu erwecken. Meist ist der Beruf des Vaters
aufreibend, nimmt Leib und Geist derartig in Anspruch, daß er selbst bei dem
besten Willen zu Hause nicht die Zeit findet, für das geistige und seelische
Wohl seiner Kinder Sorge z» tragen.

Man frage nicht: Wozu ist die Mutter da? Gewiß, sie tut, was sie kann.
Mit Unermüdlichkeit, Aufopferung und Selbstverleugnung sucht sie ihre Pflichten
zu erfüllen. Allein die Kinder werden größer, und alsbald tauchen Einflüsse,
Gefahren von außen auf, über die die Mutter nicht Herr werden kann, schon
darum nicht, weil sie sich ihrer Kenntnis entziehen. Sie beobachtet vielleicht
mit Betrübnis, mit Schrecken, daß sich der Junge oder das Mädchen verändern,
nicht mehr die alten sind, sie geht den Gründen nach, sie versäumt nichts. Aber
zuletzt erweisen sich die fremden Kräfte stärker als ihre beschränkte Macht, und
nur in den seltensten Fällen ist das Vertrauensverhältnis den halberwachsnen
Kindern gegenüber derartig günstig, daß aufkeimenden Schäden rechtzeitig vor¬
gebeugt werden kann. Was an groben Verstößen gegen richtige Erziehung


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[0284] SchiUerselbstmorde Schule für die gräßliche Tat allein verantwortlich gemacht, als ob die Lehrer nicht auch Menschen mit Herzen und Gewissen wären und von dein Fall mit am schrecklichsten betroffen wären. Dazu, wie leicht, wie schnell kann ein Lehrer in ein solches Unglück mit hineingezogen werden! Vor wenig Monaten saß unter meinen Konfirmanden ein sehr entarteter Junge, über den die Klagen von den verschiedensten Seiten nicht aufhören wollten. Alle Strenge, alle Güte vermochte nichts auszurichten. Schließlich steckte ich ihm deu Termin: wenn sich der Junge nicht in vier Wochen ändern würde, müßte er von der Konfirmation ausgeschlossen werden. Was geschieht? In der Nacht darauf finden die entsetzten Eltern den Knaben in der Nähe des Flusses mit Selbstmordgedanken beschäftigt. Gesetzt, das Unglück wäre eingetroffen, was hätte der zwanzigjährige Ruf des zu besondrer Milde neigenden Lehrers genützt? und als welch fetter Bissen wäre der Fall von der sozialdemokratischen, kirchen- und pfarrersfeindlichen Presse ausgeschlachtet worden! Hier wie in den meisten andern Fällen lag die Schuld fast aus¬ schließlich an dem Elternhaus, an der verkehrten Erziehung, an der Gleich- giltigkeit, Lässigkeit und Sorglosigkeit, die die notwendigsten Elternpflichten seit Jahren vergessen ließen. Wo findet sich heute noch die Atmosphäre eines glücklichen Familienlebens, jene gesunde Luft, in der allein eine Kinderseele recht gedeihn kann? Wie häufig wird der neue Ankömmling als eine Last empfunden, die besser fern geblieben wäre! Wie oft find die Erinnerungen solcher Ärmsten unter den Armen an die Kindheit zurück nicht paradiesischer sondern höllischer Art. Hund und Katze werden in solchen Häusern besser behandelt als die eignen Kinder. Doch es muß nicht immer Torheit und Roheit vorliege», sowenig wie bei andern Vergnügungs- und Zerstreuungssucht die Eltern abhält, sich um ihre Kinder in der richtigen Weise zu kümmern, sittlichen Ernst und tieferes Pflichtgefühl beizeiten in ihnen zu erwecken. Meist ist der Beruf des Vaters aufreibend, nimmt Leib und Geist derartig in Anspruch, daß er selbst bei dem besten Willen zu Hause nicht die Zeit findet, für das geistige und seelische Wohl seiner Kinder Sorge z» tragen. Man frage nicht: Wozu ist die Mutter da? Gewiß, sie tut, was sie kann. Mit Unermüdlichkeit, Aufopferung und Selbstverleugnung sucht sie ihre Pflichten zu erfüllen. Allein die Kinder werden größer, und alsbald tauchen Einflüsse, Gefahren von außen auf, über die die Mutter nicht Herr werden kann, schon darum nicht, weil sie sich ihrer Kenntnis entziehen. Sie beobachtet vielleicht mit Betrübnis, mit Schrecken, daß sich der Junge oder das Mädchen verändern, nicht mehr die alten sind, sie geht den Gründen nach, sie versäumt nichts. Aber zuletzt erweisen sich die fremden Kräfte stärker als ihre beschränkte Macht, und nur in den seltensten Fällen ist das Vertrauensverhältnis den halberwachsnen Kindern gegenüber derartig günstig, daß aufkeimenden Schäden rechtzeitig vor¬ gebeugt werden kann. Was an groben Verstößen gegen richtige Erziehung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/284>, abgerufen am 22.07.2024.