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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Goethes letztes Lebensjahr

Läßt man die Gespräche vom März 1831 bis 1832 an sich vorüberziehn,
so wird man sich ohne Zweifel verwundern müssen über die Vielseitigkeit der
Interessen, die Tiefe und Frische der Gedanken, die der Zweiundachtzigjährige
bekundet, auch über die mitunter leidenschaftliche Bestimmtheit, mit der er seine
Ansichten äußert. Verwunderlich wäre es nicht, spielten in den Gesprächen der
letzten Lebensjahre Erinnerungen an Vergangnes die Hauptrolle. Das ist aber
keineswegs der Fall. Zuzugeben ist, daß die uns aus 1831 vorliegenden Unter¬
haltungen meist kürzer und minder eingehend sind als die früherer Jahre, über¬
wiegend auch an das anknüpfen, was den Dichter gerade beschäftigt. Es
werden aber auch feruerliegende Dinge von größerer Tragweite, so das
Dämonische, die neuste französische Literatur, die Landschaftsmalerei, die tragische
Schicksalsidee der Griechen, des Dichters Herzensftellung zu religiösen Fragen
(den 11. März 1832), behandelt, nur selten dagegen und ganz obenhin Politisches.
Für des Dichters Lebensweisheit und Naturphilosophie sind vornehmlich be¬
deutend die Gespräche vom 29. Mai, 15. Juli, 2. August, 17. Februar, vor
allem aber das nur erwähnte vom 11. März.

Zuletzt noch ein paar Sätze über das Tagebuch des letzten Jahres, das
umfänglicher ist als das der nächst vorhergegcmgnen. In lückenloser Reihe
führt es alle Tage vom 1. März 1831 bis 16. März 1832 vor mit peinlich
genauer Angabe der jedesmaligen Ein- und Abgänge von Sendungen, der
erhaltnen Besuche, der Arbeiten, Lektüre, Unterhaltungen jeden Tages bis zu
deu Plaudereien und Spielen mit den Enkeln. Folgt es hierin im allgemeinen
der Gepflogenheit der letzten Jahre, so wirkt es greisenhaft, daß sich 1831 ab
und zu inmitten der knappen Mitteilungen tatsächlicher Art breitere Auslassungen
finden, die an das laute Vorsichhinsprechen betagter Menschen gemahnen können,
so die über den Streit der Nominalisten und Realisten (1. Oktober), über ein
französisches Buch (11. Oktober), über frömmelnden Kunstwahnsinn Düssel¬
dorfer Maler (16. Januar 1831). über Glencks Bohrversuche (25. Januar 1830),
sogar über den Schnurrbart des jungen aus der Fremde heimgekehrten
Friedr. Preller (17. Mai), ja über die beim Siegeln von Briefen nötige Sorg¬
falt (13. März). Zugleich verrät aber die temperamentvolle Fassung solcher
kleinen aus dem Tagebuchstil herausfallenden Einschiebsel, daß wir es mit
einem frischen, lebhaft empfindenden Greise zu tun haben. Rührend ist die
auf jeder Seite sich bekundende liebevolle Rücksichtnahme auf Ottilie und ihre
Kinder.

Doch nunmehr -- inarwin <Zs tabula. Abgesehn werde von jedem Nach¬
wort zu dem vorgeführten Bilde. Mag es wirken durch sich selbst. Hingewiesen
werde nur noch schlicht auf folgende Tatsachen. Am 18. Mürz 1832 hatte sich
der in der Nacht zum 16. erkrankte noch lebhaft mit dem Arzt unterhalten,
am 19. ebenso und Kupferstiche besichtigt, am Abend des 20. sich nach einem
Übeln Tage über Amtliches berichten lassen, in der Frühe des 22. noch die
Hoffnung auf Wiedergenesung geäußert. Darauf ist er ^12 Uhr so sanft ent-


Goethes letztes Lebensjahr

Läßt man die Gespräche vom März 1831 bis 1832 an sich vorüberziehn,
so wird man sich ohne Zweifel verwundern müssen über die Vielseitigkeit der
Interessen, die Tiefe und Frische der Gedanken, die der Zweiundachtzigjährige
bekundet, auch über die mitunter leidenschaftliche Bestimmtheit, mit der er seine
Ansichten äußert. Verwunderlich wäre es nicht, spielten in den Gesprächen der
letzten Lebensjahre Erinnerungen an Vergangnes die Hauptrolle. Das ist aber
keineswegs der Fall. Zuzugeben ist, daß die uns aus 1831 vorliegenden Unter¬
haltungen meist kürzer und minder eingehend sind als die früherer Jahre, über¬
wiegend auch an das anknüpfen, was den Dichter gerade beschäftigt. Es
werden aber auch feruerliegende Dinge von größerer Tragweite, so das
Dämonische, die neuste französische Literatur, die Landschaftsmalerei, die tragische
Schicksalsidee der Griechen, des Dichters Herzensftellung zu religiösen Fragen
(den 11. März 1832), behandelt, nur selten dagegen und ganz obenhin Politisches.
Für des Dichters Lebensweisheit und Naturphilosophie sind vornehmlich be¬
deutend die Gespräche vom 29. Mai, 15. Juli, 2. August, 17. Februar, vor
allem aber das nur erwähnte vom 11. März.

Zuletzt noch ein paar Sätze über das Tagebuch des letzten Jahres, das
umfänglicher ist als das der nächst vorhergegcmgnen. In lückenloser Reihe
führt es alle Tage vom 1. März 1831 bis 16. März 1832 vor mit peinlich
genauer Angabe der jedesmaligen Ein- und Abgänge von Sendungen, der
erhaltnen Besuche, der Arbeiten, Lektüre, Unterhaltungen jeden Tages bis zu
deu Plaudereien und Spielen mit den Enkeln. Folgt es hierin im allgemeinen
der Gepflogenheit der letzten Jahre, so wirkt es greisenhaft, daß sich 1831 ab
und zu inmitten der knappen Mitteilungen tatsächlicher Art breitere Auslassungen
finden, die an das laute Vorsichhinsprechen betagter Menschen gemahnen können,
so die über den Streit der Nominalisten und Realisten (1. Oktober), über ein
französisches Buch (11. Oktober), über frömmelnden Kunstwahnsinn Düssel¬
dorfer Maler (16. Januar 1831). über Glencks Bohrversuche (25. Januar 1830),
sogar über den Schnurrbart des jungen aus der Fremde heimgekehrten
Friedr. Preller (17. Mai), ja über die beim Siegeln von Briefen nötige Sorg¬
falt (13. März). Zugleich verrät aber die temperamentvolle Fassung solcher
kleinen aus dem Tagebuchstil herausfallenden Einschiebsel, daß wir es mit
einem frischen, lebhaft empfindenden Greise zu tun haben. Rührend ist die
auf jeder Seite sich bekundende liebevolle Rücksichtnahme auf Ottilie und ihre
Kinder.

Doch nunmehr — inarwin <Zs tabula. Abgesehn werde von jedem Nach¬
wort zu dem vorgeführten Bilde. Mag es wirken durch sich selbst. Hingewiesen
werde nur noch schlicht auf folgende Tatsachen. Am 18. Mürz 1832 hatte sich
der in der Nacht zum 16. erkrankte noch lebhaft mit dem Arzt unterhalten,
am 19. ebenso und Kupferstiche besichtigt, am Abend des 20. sich nach einem
Übeln Tage über Amtliches berichten lassen, in der Frühe des 22. noch die
Hoffnung auf Wiedergenesung geäußert. Darauf ist er ^12 Uhr so sanft ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/190>, abgerufen am 24.08.2024.