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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

Damit wollen wir natürlich den Schritt Österreichs nicht rechtfertigen.
Der offne Bruch einer feierlich eingegangnen Verpflichtung ist zwar nicht ohne
Vorläufer. Wir brauchen nur an die Zerreißung des Pariser Friedens von
1856 in bezug auf die Kriegsflotte im Schwarzen Meer durch Rußland 1870
zu erinnern. Eine ernste Sache bleibt es natürlich doch. Wer kann denn noch
seine eigne Sicherheit in Verträgen sehn, wenn sich jeder seiner Verpflichtungen
durch eine eigenmächtige Erklärung entledigt! Außerdem wird der ohnehin so
bedrängten Türkei ein schwerer Schlag versetzt, deren Herrschaft auf der Balkan¬
halbinsel der Donaustaat doch am wenigsten missen kann. Dieser hat vom
ersten Beginn der griechischen Unabhüngigkeitskämpfe an immer eine konservative
Balkanpolitik betrieben. Seit Metternich haben alle leitenden österreichischen
Minister die Erhaltung der Türkenherrschaft für völlig undiskutierbar erklärt
und mit England gemeinsam angestrebt. Als England seine Politik wandelte
und die Türkei ihrem Schicksal überließ, blieb ihr der Kcnscrstaat treu. Und
nun mit einemmal vollzieht sich ein vollständiges eng-sskö-oroiss?: Österreich-
Ungarn fügt der Türkei das Härteste zu, was sie seit 1878 erfahren hat, und
England rückt mit einer kühnen Wendung wieder in die Schutzherrnstellung
ein, mit der noch seine Politik in Reval, die Erzwingung von Reformen in
Mazedonien ohne Rücksicht auf die Türkei in so argem Zwiespalt steht. Die
Folgen sind noch gar nicht zu übersehn.

Nur noch wenige Worte über Kreta und Samos. Die Insel des Minos
hatte in ältester Zeit sicher eine Urbevölkerung von irgendeinem kleinasiatischen
oder syrischen Stamm. Dorische Griechen kolonisierten sie, vermutlich indem sie
die Reste der Urbevölkerung mit sich verschmolzen. Trotz der Völkerwvgen der
daraus folgenden zwei Jahrtausende blieb ihr griechischer Charakter immer
erhalten. Genuesen und Venezianer herrschten hier. Erst 1669 kam die türkische
Herrschaft. Die Türken waren nicht zahlreich genug, um alle ihre damaligen
Eroberungen mit eignem Volkstum auszufüllen. Nur wenige Moslimen siedelten
hierher über. Dennoch blieb die Insel trotz gelegentlicher Aufstände unter der
Gewalt der Paschas und ihrer Bataillone. Von 1824 bis 1841 herrschten
hier die Ägypter. Im Jahre 1866 begannen Aufstände mit dem Ziel der Ver¬
einigung mit Griechenland. Von Zeit zu Zeit schlug die Flamme der Empörung
hoch auf. Im Jahre 1898 mischten sich die Großmächte ein und zwangen die
Sultanstruppen zum Abmarsch, wobei sich erst Deutschland und dann auch
Österreich-Ungarn von dem Chorus trennten. Die andern vier bewirkten die
Verwaltung der Insel durch deu Prinzen Georg von Griechenland mit Hilfe
einer Nationalversammlung. Im Einklang mit dieser bemühte sich der Statt¬
halter um eine Vereinigung mit Griechenland, da das Provisorium unhaltbar
sei. Das wollten die Großmächte der Türkei nicht antun. Die Ereignisse des
laufenden Monats haben dann doch bewirkt, was nicht mehr zu hindern war.
Der Verlust Kretas wird die Pforte nicht sehr drücken, nur ihr Ansehn wird
durch das gehäufte Mißgeschick neue Einbuße erleiden. Die Bevölkerung der


Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt

Damit wollen wir natürlich den Schritt Österreichs nicht rechtfertigen.
Der offne Bruch einer feierlich eingegangnen Verpflichtung ist zwar nicht ohne
Vorläufer. Wir brauchen nur an die Zerreißung des Pariser Friedens von
1856 in bezug auf die Kriegsflotte im Schwarzen Meer durch Rußland 1870
zu erinnern. Eine ernste Sache bleibt es natürlich doch. Wer kann denn noch
seine eigne Sicherheit in Verträgen sehn, wenn sich jeder seiner Verpflichtungen
durch eine eigenmächtige Erklärung entledigt! Außerdem wird der ohnehin so
bedrängten Türkei ein schwerer Schlag versetzt, deren Herrschaft auf der Balkan¬
halbinsel der Donaustaat doch am wenigsten missen kann. Dieser hat vom
ersten Beginn der griechischen Unabhüngigkeitskämpfe an immer eine konservative
Balkanpolitik betrieben. Seit Metternich haben alle leitenden österreichischen
Minister die Erhaltung der Türkenherrschaft für völlig undiskutierbar erklärt
und mit England gemeinsam angestrebt. Als England seine Politik wandelte
und die Türkei ihrem Schicksal überließ, blieb ihr der Kcnscrstaat treu. Und
nun mit einemmal vollzieht sich ein vollständiges eng-sskö-oroiss?: Österreich-
Ungarn fügt der Türkei das Härteste zu, was sie seit 1878 erfahren hat, und
England rückt mit einer kühnen Wendung wieder in die Schutzherrnstellung
ein, mit der noch seine Politik in Reval, die Erzwingung von Reformen in
Mazedonien ohne Rücksicht auf die Türkei in so argem Zwiespalt steht. Die
Folgen sind noch gar nicht zu übersehn.

Nur noch wenige Worte über Kreta und Samos. Die Insel des Minos
hatte in ältester Zeit sicher eine Urbevölkerung von irgendeinem kleinasiatischen
oder syrischen Stamm. Dorische Griechen kolonisierten sie, vermutlich indem sie
die Reste der Urbevölkerung mit sich verschmolzen. Trotz der Völkerwvgen der
daraus folgenden zwei Jahrtausende blieb ihr griechischer Charakter immer
erhalten. Genuesen und Venezianer herrschten hier. Erst 1669 kam die türkische
Herrschaft. Die Türken waren nicht zahlreich genug, um alle ihre damaligen
Eroberungen mit eignem Volkstum auszufüllen. Nur wenige Moslimen siedelten
hierher über. Dennoch blieb die Insel trotz gelegentlicher Aufstände unter der
Gewalt der Paschas und ihrer Bataillone. Von 1824 bis 1841 herrschten
hier die Ägypter. Im Jahre 1866 begannen Aufstände mit dem Ziel der Ver¬
einigung mit Griechenland. Von Zeit zu Zeit schlug die Flamme der Empörung
hoch auf. Im Jahre 1898 mischten sich die Großmächte ein und zwangen die
Sultanstruppen zum Abmarsch, wobei sich erst Deutschland und dann auch
Österreich-Ungarn von dem Chorus trennten. Die andern vier bewirkten die
Verwaltung der Insel durch deu Prinzen Georg von Griechenland mit Hilfe
einer Nationalversammlung. Im Einklang mit dieser bemühte sich der Statt¬
halter um eine Vereinigung mit Griechenland, da das Provisorium unhaltbar
sei. Das wollten die Großmächte der Türkei nicht antun. Die Ereignisse des
laufenden Monats haben dann doch bewirkt, was nicht mehr zu hindern war.
Der Verlust Kretas wird die Pforte nicht sehr drücken, nur ihr Ansehn wird
durch das gehäufte Mißgeschick neue Einbuße erleiden. Die Bevölkerung der


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[0175] Historisches und Ethnographisches zum Balkankonflikt Damit wollen wir natürlich den Schritt Österreichs nicht rechtfertigen. Der offne Bruch einer feierlich eingegangnen Verpflichtung ist zwar nicht ohne Vorläufer. Wir brauchen nur an die Zerreißung des Pariser Friedens von 1856 in bezug auf die Kriegsflotte im Schwarzen Meer durch Rußland 1870 zu erinnern. Eine ernste Sache bleibt es natürlich doch. Wer kann denn noch seine eigne Sicherheit in Verträgen sehn, wenn sich jeder seiner Verpflichtungen durch eine eigenmächtige Erklärung entledigt! Außerdem wird der ohnehin so bedrängten Türkei ein schwerer Schlag versetzt, deren Herrschaft auf der Balkan¬ halbinsel der Donaustaat doch am wenigsten missen kann. Dieser hat vom ersten Beginn der griechischen Unabhüngigkeitskämpfe an immer eine konservative Balkanpolitik betrieben. Seit Metternich haben alle leitenden österreichischen Minister die Erhaltung der Türkenherrschaft für völlig undiskutierbar erklärt und mit England gemeinsam angestrebt. Als England seine Politik wandelte und die Türkei ihrem Schicksal überließ, blieb ihr der Kcnscrstaat treu. Und nun mit einemmal vollzieht sich ein vollständiges eng-sskö-oroiss?: Österreich- Ungarn fügt der Türkei das Härteste zu, was sie seit 1878 erfahren hat, und England rückt mit einer kühnen Wendung wieder in die Schutzherrnstellung ein, mit der noch seine Politik in Reval, die Erzwingung von Reformen in Mazedonien ohne Rücksicht auf die Türkei in so argem Zwiespalt steht. Die Folgen sind noch gar nicht zu übersehn. Nur noch wenige Worte über Kreta und Samos. Die Insel des Minos hatte in ältester Zeit sicher eine Urbevölkerung von irgendeinem kleinasiatischen oder syrischen Stamm. Dorische Griechen kolonisierten sie, vermutlich indem sie die Reste der Urbevölkerung mit sich verschmolzen. Trotz der Völkerwvgen der daraus folgenden zwei Jahrtausende blieb ihr griechischer Charakter immer erhalten. Genuesen und Venezianer herrschten hier. Erst 1669 kam die türkische Herrschaft. Die Türken waren nicht zahlreich genug, um alle ihre damaligen Eroberungen mit eignem Volkstum auszufüllen. Nur wenige Moslimen siedelten hierher über. Dennoch blieb die Insel trotz gelegentlicher Aufstände unter der Gewalt der Paschas und ihrer Bataillone. Von 1824 bis 1841 herrschten hier die Ägypter. Im Jahre 1866 begannen Aufstände mit dem Ziel der Ver¬ einigung mit Griechenland. Von Zeit zu Zeit schlug die Flamme der Empörung hoch auf. Im Jahre 1898 mischten sich die Großmächte ein und zwangen die Sultanstruppen zum Abmarsch, wobei sich erst Deutschland und dann auch Österreich-Ungarn von dem Chorus trennten. Die andern vier bewirkten die Verwaltung der Insel durch deu Prinzen Georg von Griechenland mit Hilfe einer Nationalversammlung. Im Einklang mit dieser bemühte sich der Statt¬ halter um eine Vereinigung mit Griechenland, da das Provisorium unhaltbar sei. Das wollten die Großmächte der Türkei nicht antun. Die Ereignisse des laufenden Monats haben dann doch bewirkt, was nicht mehr zu hindern war. Der Verlust Kretas wird die Pforte nicht sehr drücken, nur ihr Ansehn wird durch das gehäufte Mißgeschick neue Einbuße erleiden. Die Bevölkerung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/175>, abgerufen am 22.07.2024.