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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Historisches und Ethnographisches zum L.,lkankonflikt

Völkern. Über ihre Volksstärke fehlt es wieder ein zuverlässigen Angaben.
Man beziffert sie meist auf 1,9 Millionen. Von diesen wohnt der größere
Teil, 1,1 Millionen, in den gewöhnlich als Albanien bezeichneten Wilajets
Skutari, Janina sowie den östlichen Teilen von Kossowo und Monastir.
Dort wohnen sie ziemlich geschlossen. Die Volkszahl von Skutari und Janina
wird auf 821000 angegeben. Etwa 800000 wohnen in den umliegenden
Landschaften bis zum Peloponnes hinunter, auch in Montenegro und Dalmatien.
Über 100 000 sind nach Italien ausgewandert. Crispi stammt von Albanesen
ab. In ihrer großen Mehrzahl sind die in Albanien selbst wohnenden
Albanesen Moslimen, angeblich 800000; 240000 zählen zur griechischen
Kirche, während Rom 70000 bis 80000 hat, diese meist an der adriatischen
Küste. Trotz der religiösen Spaltung herrscht seit einem halben Jahrhundert
im allgemeinen Frieden im Lande. Das Volk regiert sich in seinen abge¬
schlossenen Tälern fast vollständig selbst und läßt die türkischen Beamte" nicht
zu großer Macht kommen. Eben deshalb ist man mit dein türkischen Regiment
ganz zufrieden. Seine besten, tapfersten, treuesten Soldaten bezieht der
Sultan aus Albanien. Die Verteidigung des Balkans 1877 geschah zu
wesentlichem Teile durch die albanesischen Regimenter, die die türkische Re¬
gierung damals noch mit ihrer Flotte nach Burgas und Varna schaffen
konnte. Als der Sultan damals genötigt wurde, Teile Albaniens an Monte¬
negro abzutreten, rebellierten die Albanesen gegen ihn, vor lauter Ergebenheit.
In den umliegenden Landschaften waren bis noch vor nicht langer Zeit die
Raubzüge der Arnauten sehr gefürchtet, zumal da die Strafen der türkischen
Regierung nicht viel auf sich hatten. In den letzten zehn Jahren und länger
hat man jedoch wenig mehr von ihnen gehört.

Die vierte Nationalität sind die Griechen. Wir haben schon die Ansichten
berührt, daß auch die heute griechisch redende Bevölkerung im Königreich
Griechenland eine starke Beimischung von fremdem Blut hat. Schon in alter
Zeit sind viele Sklaven eingeführt worden, dann mag uuter West- und ost¬
römischer Verwaltung die Bevölkerung hin und her geflutet sein. Später
kamen die Serben, die Albanesen, die Türken, die ersten beiden Nationalitäten
sind allmählich mehr oder weniger gräzisiert worden, aber doch noch
deutlich erkennbar. Das Königreich Griechenland hat 1896 durch Zählung
2433 800 Einwohner ermittelt. In der sichtbaren Tendenz, die griechische
Nationalität als sehr stark erscheinen zulassen, gibt es 1850000 als Griechen
an; ferner 100000 Albanesen; der Nest entfällt auf Bulgaren, Serben,
Mazedonier, Walachen, Armenier, Türken und Westcnropäcr. Die nunmehr
siebzigjährige Selbständigkeit des neugriechischen Volkes hat noch keine Talente
wieder erstehn lassen, die an die Zeitgenossen des Perikles oder des Alexander
erinnerten. Die Hoffnungen der Philhellenen haben sich nicht erfüllt. Schon
im Altertum wanderten die Griechen nach allen Himmelsrichtungen aus ihrem
Vciterlandc aus. Sie gründeten förmliche Kolonien von Massilia bis Trapczuttt;


Historisches und Ethnographisches zum L.,lkankonflikt

Völkern. Über ihre Volksstärke fehlt es wieder ein zuverlässigen Angaben.
Man beziffert sie meist auf 1,9 Millionen. Von diesen wohnt der größere
Teil, 1,1 Millionen, in den gewöhnlich als Albanien bezeichneten Wilajets
Skutari, Janina sowie den östlichen Teilen von Kossowo und Monastir.
Dort wohnen sie ziemlich geschlossen. Die Volkszahl von Skutari und Janina
wird auf 821000 angegeben. Etwa 800000 wohnen in den umliegenden
Landschaften bis zum Peloponnes hinunter, auch in Montenegro und Dalmatien.
Über 100 000 sind nach Italien ausgewandert. Crispi stammt von Albanesen
ab. In ihrer großen Mehrzahl sind die in Albanien selbst wohnenden
Albanesen Moslimen, angeblich 800000; 240000 zählen zur griechischen
Kirche, während Rom 70000 bis 80000 hat, diese meist an der adriatischen
Küste. Trotz der religiösen Spaltung herrscht seit einem halben Jahrhundert
im allgemeinen Frieden im Lande. Das Volk regiert sich in seinen abge¬
schlossenen Tälern fast vollständig selbst und läßt die türkischen Beamte» nicht
zu großer Macht kommen. Eben deshalb ist man mit dein türkischen Regiment
ganz zufrieden. Seine besten, tapfersten, treuesten Soldaten bezieht der
Sultan aus Albanien. Die Verteidigung des Balkans 1877 geschah zu
wesentlichem Teile durch die albanesischen Regimenter, die die türkische Re¬
gierung damals noch mit ihrer Flotte nach Burgas und Varna schaffen
konnte. Als der Sultan damals genötigt wurde, Teile Albaniens an Monte¬
negro abzutreten, rebellierten die Albanesen gegen ihn, vor lauter Ergebenheit.
In den umliegenden Landschaften waren bis noch vor nicht langer Zeit die
Raubzüge der Arnauten sehr gefürchtet, zumal da die Strafen der türkischen
Regierung nicht viel auf sich hatten. In den letzten zehn Jahren und länger
hat man jedoch wenig mehr von ihnen gehört.

Die vierte Nationalität sind die Griechen. Wir haben schon die Ansichten
berührt, daß auch die heute griechisch redende Bevölkerung im Königreich
Griechenland eine starke Beimischung von fremdem Blut hat. Schon in alter
Zeit sind viele Sklaven eingeführt worden, dann mag uuter West- und ost¬
römischer Verwaltung die Bevölkerung hin und her geflutet sein. Später
kamen die Serben, die Albanesen, die Türken, die ersten beiden Nationalitäten
sind allmählich mehr oder weniger gräzisiert worden, aber doch noch
deutlich erkennbar. Das Königreich Griechenland hat 1896 durch Zählung
2433 800 Einwohner ermittelt. In der sichtbaren Tendenz, die griechische
Nationalität als sehr stark erscheinen zulassen, gibt es 1850000 als Griechen
an; ferner 100000 Albanesen; der Nest entfällt auf Bulgaren, Serben,
Mazedonier, Walachen, Armenier, Türken und Westcnropäcr. Die nunmehr
siebzigjährige Selbständigkeit des neugriechischen Volkes hat noch keine Talente
wieder erstehn lassen, die an die Zeitgenossen des Perikles oder des Alexander
erinnerten. Die Hoffnungen der Philhellenen haben sich nicht erfüllt. Schon
im Altertum wanderten die Griechen nach allen Himmelsrichtungen aus ihrem
Vciterlandc aus. Sie gründeten förmliche Kolonien von Massilia bis Trapczuttt;


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[0168] Historisches und Ethnographisches zum L.,lkankonflikt Völkern. Über ihre Volksstärke fehlt es wieder ein zuverlässigen Angaben. Man beziffert sie meist auf 1,9 Millionen. Von diesen wohnt der größere Teil, 1,1 Millionen, in den gewöhnlich als Albanien bezeichneten Wilajets Skutari, Janina sowie den östlichen Teilen von Kossowo und Monastir. Dort wohnen sie ziemlich geschlossen. Die Volkszahl von Skutari und Janina wird auf 821000 angegeben. Etwa 800000 wohnen in den umliegenden Landschaften bis zum Peloponnes hinunter, auch in Montenegro und Dalmatien. Über 100 000 sind nach Italien ausgewandert. Crispi stammt von Albanesen ab. In ihrer großen Mehrzahl sind die in Albanien selbst wohnenden Albanesen Moslimen, angeblich 800000; 240000 zählen zur griechischen Kirche, während Rom 70000 bis 80000 hat, diese meist an der adriatischen Küste. Trotz der religiösen Spaltung herrscht seit einem halben Jahrhundert im allgemeinen Frieden im Lande. Das Volk regiert sich in seinen abge¬ schlossenen Tälern fast vollständig selbst und läßt die türkischen Beamte» nicht zu großer Macht kommen. Eben deshalb ist man mit dein türkischen Regiment ganz zufrieden. Seine besten, tapfersten, treuesten Soldaten bezieht der Sultan aus Albanien. Die Verteidigung des Balkans 1877 geschah zu wesentlichem Teile durch die albanesischen Regimenter, die die türkische Re¬ gierung damals noch mit ihrer Flotte nach Burgas und Varna schaffen konnte. Als der Sultan damals genötigt wurde, Teile Albaniens an Monte¬ negro abzutreten, rebellierten die Albanesen gegen ihn, vor lauter Ergebenheit. In den umliegenden Landschaften waren bis noch vor nicht langer Zeit die Raubzüge der Arnauten sehr gefürchtet, zumal da die Strafen der türkischen Regierung nicht viel auf sich hatten. In den letzten zehn Jahren und länger hat man jedoch wenig mehr von ihnen gehört. Die vierte Nationalität sind die Griechen. Wir haben schon die Ansichten berührt, daß auch die heute griechisch redende Bevölkerung im Königreich Griechenland eine starke Beimischung von fremdem Blut hat. Schon in alter Zeit sind viele Sklaven eingeführt worden, dann mag uuter West- und ost¬ römischer Verwaltung die Bevölkerung hin und her geflutet sein. Später kamen die Serben, die Albanesen, die Türken, die ersten beiden Nationalitäten sind allmählich mehr oder weniger gräzisiert worden, aber doch noch deutlich erkennbar. Das Königreich Griechenland hat 1896 durch Zählung 2433 800 Einwohner ermittelt. In der sichtbaren Tendenz, die griechische Nationalität als sehr stark erscheinen zulassen, gibt es 1850000 als Griechen an; ferner 100000 Albanesen; der Nest entfällt auf Bulgaren, Serben, Mazedonier, Walachen, Armenier, Türken und Westcnropäcr. Die nunmehr siebzigjährige Selbständigkeit des neugriechischen Volkes hat noch keine Talente wieder erstehn lassen, die an die Zeitgenossen des Perikles oder des Alexander erinnerten. Die Hoffnungen der Philhellenen haben sich nicht erfüllt. Schon im Altertum wanderten die Griechen nach allen Himmelsrichtungen aus ihrem Vciterlandc aus. Sie gründeten förmliche Kolonien von Massilia bis Trapczuttt;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/168>, abgerufen am 22.07.2024.