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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Was interessierte einen Gebildeten vor hundert Jahren?

Ein Freund ist meinem gefühlvollen Herzen so sehr Bedürfnis wie die Luft
dem Körper. Freund! das Wort ist heilig, nächst dem Namen des großen
Gottes kenne ich keinen heiligem. Ein warmer teilnehmender Freund ist mehr
wert als zehn schmeichelnde Liebhaber. Daneben stehn Sentenzen allgemeinen
Inhalts: Das Unglück ist der beste Schulmeister; es hat seine eigne Methode,
verfehlt aber nie seinen Zweck. Die Erfahrung macht uns zu geschickten
Piloten in den Wogen des Glücks usw.

Willkomm war offenbar ein großer Freund der Poesie; Gedichte nehmen
einen bedeutenden Raum seiner Aufzeichnungen ein. Besonders reich ver¬
treten ist Schiller; von ihm finden wir: Das Kind in der Wiege, Deutsch¬
land und seine Fürsten, Das Lied an die Freude, Die jetzige Generation,
Resignation, Der Antritt des neuen Jahrhunderts, Die Antiken in Paris,
Dem Erbprinzen von Weimar, als er nach Paris reiste, Stellen aus der
Glocke, Die verschiedne Bestimmung, Pflicht für andre, Der Schlüssel, Mein
Glaube, Freund und Feind, Freigeisterei der Leidenschaft, Die schlimmen
Monarchen, Kurze Schilderung des menschlichen Lebens (mit der Bemerkung:
von Schiller im sechzehnten Jahre gedichtet). Als Kuriosum sei eine lateinische
Übersetzung vom Lied an die Freude erwähnt (aus den Miscellen für die
neuste Weltliteratur 1809). Im Gegensatz zu Schiller ist von Goethe nur
wenig zu finden: außer einigen Stellen aus Hermann und Dorothea nur ein
paar Zeilen aus Wilhelm Meisters Lehrjahren. Mehr dem Geschmack jener
empfindsamen Zeit entsprachen offenbar Hölty und Matthisson, von denen
zahlreiche Gedichte aufgenommen sind; von jenem zum Beispiel Elegie bei
dem Grabe meines Vaters, Totengrüberlied, Der Tod, Die künftige Geliebte,
von diesem: Abendgemälde, Mondscheingemülde, Das Totenopfer, Das Kloster,
Elegie in den Ruinen eines alten Bergschlosses, Basrelief am Sarkophage
des scheidenden Jahrhunderts. Von Poesien andrer jetzt noch bekannter
Dichter sind zu nennen: Germanien von Herder, Unsere Sprache an uns von
Klopstock; von Voß: Das Begräbnis, Der Gesunde, Rundgesang auf den
Stahlpunsch und die bekannte, Toleranz predigende Stelle aus Luise: Einst¬
mals kam ein Toter aus Mainz an die Pforte des Himmels, die Voß soviel
Anerkennung eintrug. Von Seume finden wir die Gedichte: An die Muse
und Tod und Zukunft. Von Tiedge: Elegie auf dem Schlachtfeld von
Kunersdorf, Der heilige Friedensbund. Von Pfeffel: Pythagoras, Die
Schafherde, Der Diamant; von Gleim: Gott ist Gott, Als unser Küster ge-
storben war, Aufgebot wider die Freiheitswütigeu; von Kotzebue: Ausbruch
des höchsten Mißmuth; von Kosegarten: Anbetung auf Arkona, An die
Mädchen (nach dem Englischen des John Logen); von Werner: Stellen aus
Martin Luther und aus Den Söhnen des Tals.

Die Namen vieler Dichter sind freilich jetzt verschollen und nur noch dem
Literarhistoriker bekannt, zum Beispiel Bürde (1753 bis 1831), von dem der
Kynast, Beruhigung und das verlassene Dörfchen (eine Übersetzung von Gold-


Was interessierte einen Gebildeten vor hundert Jahren?

Ein Freund ist meinem gefühlvollen Herzen so sehr Bedürfnis wie die Luft
dem Körper. Freund! das Wort ist heilig, nächst dem Namen des großen
Gottes kenne ich keinen heiligem. Ein warmer teilnehmender Freund ist mehr
wert als zehn schmeichelnde Liebhaber. Daneben stehn Sentenzen allgemeinen
Inhalts: Das Unglück ist der beste Schulmeister; es hat seine eigne Methode,
verfehlt aber nie seinen Zweck. Die Erfahrung macht uns zu geschickten
Piloten in den Wogen des Glücks usw.

Willkomm war offenbar ein großer Freund der Poesie; Gedichte nehmen
einen bedeutenden Raum seiner Aufzeichnungen ein. Besonders reich ver¬
treten ist Schiller; von ihm finden wir: Das Kind in der Wiege, Deutsch¬
land und seine Fürsten, Das Lied an die Freude, Die jetzige Generation,
Resignation, Der Antritt des neuen Jahrhunderts, Die Antiken in Paris,
Dem Erbprinzen von Weimar, als er nach Paris reiste, Stellen aus der
Glocke, Die verschiedne Bestimmung, Pflicht für andre, Der Schlüssel, Mein
Glaube, Freund und Feind, Freigeisterei der Leidenschaft, Die schlimmen
Monarchen, Kurze Schilderung des menschlichen Lebens (mit der Bemerkung:
von Schiller im sechzehnten Jahre gedichtet). Als Kuriosum sei eine lateinische
Übersetzung vom Lied an die Freude erwähnt (aus den Miscellen für die
neuste Weltliteratur 1809). Im Gegensatz zu Schiller ist von Goethe nur
wenig zu finden: außer einigen Stellen aus Hermann und Dorothea nur ein
paar Zeilen aus Wilhelm Meisters Lehrjahren. Mehr dem Geschmack jener
empfindsamen Zeit entsprachen offenbar Hölty und Matthisson, von denen
zahlreiche Gedichte aufgenommen sind; von jenem zum Beispiel Elegie bei
dem Grabe meines Vaters, Totengrüberlied, Der Tod, Die künftige Geliebte,
von diesem: Abendgemälde, Mondscheingemülde, Das Totenopfer, Das Kloster,
Elegie in den Ruinen eines alten Bergschlosses, Basrelief am Sarkophage
des scheidenden Jahrhunderts. Von Poesien andrer jetzt noch bekannter
Dichter sind zu nennen: Germanien von Herder, Unsere Sprache an uns von
Klopstock; von Voß: Das Begräbnis, Der Gesunde, Rundgesang auf den
Stahlpunsch und die bekannte, Toleranz predigende Stelle aus Luise: Einst¬
mals kam ein Toter aus Mainz an die Pforte des Himmels, die Voß soviel
Anerkennung eintrug. Von Seume finden wir die Gedichte: An die Muse
und Tod und Zukunft. Von Tiedge: Elegie auf dem Schlachtfeld von
Kunersdorf, Der heilige Friedensbund. Von Pfeffel: Pythagoras, Die
Schafherde, Der Diamant; von Gleim: Gott ist Gott, Als unser Küster ge-
storben war, Aufgebot wider die Freiheitswütigeu; von Kotzebue: Ausbruch
des höchsten Mißmuth; von Kosegarten: Anbetung auf Arkona, An die
Mädchen (nach dem Englischen des John Logen); von Werner: Stellen aus
Martin Luther und aus Den Söhnen des Tals.

Die Namen vieler Dichter sind freilich jetzt verschollen und nur noch dem
Literarhistoriker bekannt, zum Beispiel Bürde (1753 bis 1831), von dem der
Kynast, Beruhigung und das verlassene Dörfchen (eine Übersetzung von Gold-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/140>, abgerufen am 24.08.2024.