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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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Muckle, der im allgemeinen seinen Helden mit Recht gegen den Vorwurf
des Utopismns in Schutz nimmt, sieht, von Marx beeinflußt, gerade darin
etwas utopistisches, daß Saint-Simon das Gemeinwohl, also auch eine
Besserung der Lage der untern Stände, von der Herrschaft der Industriellen
erwarte, deren Egoismus er selbst erkannt und gegeißelt habe. "Mit fast
denselben Worten, mit denen Saint-Simon das Unhaltbare und Utopische
des Friedensplanes von Samt-Pierre dargetan hat, könnte man das Un¬
realistische seiner eignen Bestrebungen kennzeichnen. Wie es ein absurdes
Unterfangen ist, von kriegerischen Mächten die Aufrechterhaltung des Friedens
zu verlangen, ebenso ist es eine Absurdität, von einem sozial pflichtvergessenen,
weil lediglich im Mammonsdienst stehenden Unternehmertum durch einen
Appell an seinen erhabnen sozialen Beruf eine Organisation der Arbeit zum
Heile der Besitzlosen zu fordern." Die beiden vermeintlichen Absurditäten
sind aber heute deutlich sichtbare Tatsachen. Um uns auf die zweite zu be¬
schränken: Zunächst sind nicht alle Unternehmer rohe Mammonsdiener. Die
ersten Generationen der englischen Fabrikanten, unter denen sich die Kinder¬
greuel ereigneten: reich gewordne Handwerksmeister und Arbeiter, sind es ge¬
wesen. Deren Enkel, die eine bessere Erziehung genossen und sich die feinere
Empfindungsweise, die geistigen Interessen der Aristokratie angeeignet hatten,
waren der Predigt der Christlichsozialen zugänglich und haben sozial fühlen
gelernt. In Deutschland aber hat es wohl niemals an vornehm denkenden
und fein empfindenden Unternehmern gefehlt. Sodann aber braucht ein
Unternehmer gar nicht unter allen Umstünden ein edles Herz zu haben, um
für seine Arbeiter ein guter Prinzipal zu sein; i" vielen, wo nicht in den
meisten Fällen genügt aufgeklärter Eigennutz. "Das ist die schlechteste Wirt¬
schaft, wo alles hungert; Mensch und Vieh müssen gut versorgt sein", sagte
mir einmal ein sehr sparsamer Rittergutsbesitzer, von dem ich zu meiner Ver¬
wunderung vernahm, daß er weder Getreide noch Kartoffeln verkaufe, sondern
beides in seiner Wirtschaft verbrauche. Die Natur der industriellen Unter¬
nehmungen ist freilich verschieden: manche können bei Hungerlöhnen gedeihen;
aber deren Zahl vermindert sich stetig, weil die Konkurrenz immer höhere
Anforderungen an die Güte der Erzeugnisse stellt. In solchen Unternehmungen,
die von den Arbeitern entweder bedeutende Körperkraft oder intensive Auf¬
merksamkeit oder Intelligenz fordern, ist Ranbwirtschaft mit Menschenkraft von
vornherein ausgeschlossen. Endlich tritt, wo Gewissen und Vernunft versagen,
der Zwang durch die öffentliche Meinung und durch die Arbeiterbewegung
ergänzend ein. Diese jedoch bringt nicht etwa die Arbeiter zur Herrschaft,
sondern zwingt nur die Herrschenden, den richtigen Kurs innezuhalten, und
die zwar nicht formell aber tatsächlich herrschenden, die im großen und ganzen
den Kurs des Staatsschiffs bestimmen, bleiben die Großunternehmer, natürlich
die landwirtschaftlichen eingeschlossen, die Saint-Simon bei seiner Tatsachen¬
beobachtung übersehen hat. Abgesehen von diesem Fehler, hat er richtig er-


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Muckle, der im allgemeinen seinen Helden mit Recht gegen den Vorwurf
des Utopismns in Schutz nimmt, sieht, von Marx beeinflußt, gerade darin
etwas utopistisches, daß Saint-Simon das Gemeinwohl, also auch eine
Besserung der Lage der untern Stände, von der Herrschaft der Industriellen
erwarte, deren Egoismus er selbst erkannt und gegeißelt habe. „Mit fast
denselben Worten, mit denen Saint-Simon das Unhaltbare und Utopische
des Friedensplanes von Samt-Pierre dargetan hat, könnte man das Un¬
realistische seiner eignen Bestrebungen kennzeichnen. Wie es ein absurdes
Unterfangen ist, von kriegerischen Mächten die Aufrechterhaltung des Friedens
zu verlangen, ebenso ist es eine Absurdität, von einem sozial pflichtvergessenen,
weil lediglich im Mammonsdienst stehenden Unternehmertum durch einen
Appell an seinen erhabnen sozialen Beruf eine Organisation der Arbeit zum
Heile der Besitzlosen zu fordern." Die beiden vermeintlichen Absurditäten
sind aber heute deutlich sichtbare Tatsachen. Um uns auf die zweite zu be¬
schränken: Zunächst sind nicht alle Unternehmer rohe Mammonsdiener. Die
ersten Generationen der englischen Fabrikanten, unter denen sich die Kinder¬
greuel ereigneten: reich gewordne Handwerksmeister und Arbeiter, sind es ge¬
wesen. Deren Enkel, die eine bessere Erziehung genossen und sich die feinere
Empfindungsweise, die geistigen Interessen der Aristokratie angeeignet hatten,
waren der Predigt der Christlichsozialen zugänglich und haben sozial fühlen
gelernt. In Deutschland aber hat es wohl niemals an vornehm denkenden
und fein empfindenden Unternehmern gefehlt. Sodann aber braucht ein
Unternehmer gar nicht unter allen Umstünden ein edles Herz zu haben, um
für seine Arbeiter ein guter Prinzipal zu sein; i» vielen, wo nicht in den
meisten Fällen genügt aufgeklärter Eigennutz. „Das ist die schlechteste Wirt¬
schaft, wo alles hungert; Mensch und Vieh müssen gut versorgt sein", sagte
mir einmal ein sehr sparsamer Rittergutsbesitzer, von dem ich zu meiner Ver¬
wunderung vernahm, daß er weder Getreide noch Kartoffeln verkaufe, sondern
beides in seiner Wirtschaft verbrauche. Die Natur der industriellen Unter¬
nehmungen ist freilich verschieden: manche können bei Hungerlöhnen gedeihen;
aber deren Zahl vermindert sich stetig, weil die Konkurrenz immer höhere
Anforderungen an die Güte der Erzeugnisse stellt. In solchen Unternehmungen,
die von den Arbeitern entweder bedeutende Körperkraft oder intensive Auf¬
merksamkeit oder Intelligenz fordern, ist Ranbwirtschaft mit Menschenkraft von
vornherein ausgeschlossen. Endlich tritt, wo Gewissen und Vernunft versagen,
der Zwang durch die öffentliche Meinung und durch die Arbeiterbewegung
ergänzend ein. Diese jedoch bringt nicht etwa die Arbeiter zur Herrschaft,
sondern zwingt nur die Herrschenden, den richtigen Kurs innezuhalten, und
die zwar nicht formell aber tatsächlich herrschenden, die im großen und ganzen
den Kurs des Staatsschiffs bestimmen, bleiben die Großunternehmer, natürlich
die landwirtschaftlichen eingeschlossen, die Saint-Simon bei seiner Tatsachen¬
beobachtung übersehen hat. Abgesehen von diesem Fehler, hat er richtig er-


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[0136] Saint-!5i»w>l Muckle, der im allgemeinen seinen Helden mit Recht gegen den Vorwurf des Utopismns in Schutz nimmt, sieht, von Marx beeinflußt, gerade darin etwas utopistisches, daß Saint-Simon das Gemeinwohl, also auch eine Besserung der Lage der untern Stände, von der Herrschaft der Industriellen erwarte, deren Egoismus er selbst erkannt und gegeißelt habe. „Mit fast denselben Worten, mit denen Saint-Simon das Unhaltbare und Utopische des Friedensplanes von Samt-Pierre dargetan hat, könnte man das Un¬ realistische seiner eignen Bestrebungen kennzeichnen. Wie es ein absurdes Unterfangen ist, von kriegerischen Mächten die Aufrechterhaltung des Friedens zu verlangen, ebenso ist es eine Absurdität, von einem sozial pflichtvergessenen, weil lediglich im Mammonsdienst stehenden Unternehmertum durch einen Appell an seinen erhabnen sozialen Beruf eine Organisation der Arbeit zum Heile der Besitzlosen zu fordern." Die beiden vermeintlichen Absurditäten sind aber heute deutlich sichtbare Tatsachen. Um uns auf die zweite zu be¬ schränken: Zunächst sind nicht alle Unternehmer rohe Mammonsdiener. Die ersten Generationen der englischen Fabrikanten, unter denen sich die Kinder¬ greuel ereigneten: reich gewordne Handwerksmeister und Arbeiter, sind es ge¬ wesen. Deren Enkel, die eine bessere Erziehung genossen und sich die feinere Empfindungsweise, die geistigen Interessen der Aristokratie angeeignet hatten, waren der Predigt der Christlichsozialen zugänglich und haben sozial fühlen gelernt. In Deutschland aber hat es wohl niemals an vornehm denkenden und fein empfindenden Unternehmern gefehlt. Sodann aber braucht ein Unternehmer gar nicht unter allen Umstünden ein edles Herz zu haben, um für seine Arbeiter ein guter Prinzipal zu sein; i» vielen, wo nicht in den meisten Fällen genügt aufgeklärter Eigennutz. „Das ist die schlechteste Wirt¬ schaft, wo alles hungert; Mensch und Vieh müssen gut versorgt sein", sagte mir einmal ein sehr sparsamer Rittergutsbesitzer, von dem ich zu meiner Ver¬ wunderung vernahm, daß er weder Getreide noch Kartoffeln verkaufe, sondern beides in seiner Wirtschaft verbrauche. Die Natur der industriellen Unter¬ nehmungen ist freilich verschieden: manche können bei Hungerlöhnen gedeihen; aber deren Zahl vermindert sich stetig, weil die Konkurrenz immer höhere Anforderungen an die Güte der Erzeugnisse stellt. In solchen Unternehmungen, die von den Arbeitern entweder bedeutende Körperkraft oder intensive Auf¬ merksamkeit oder Intelligenz fordern, ist Ranbwirtschaft mit Menschenkraft von vornherein ausgeschlossen. Endlich tritt, wo Gewissen und Vernunft versagen, der Zwang durch die öffentliche Meinung und durch die Arbeiterbewegung ergänzend ein. Diese jedoch bringt nicht etwa die Arbeiter zur Herrschaft, sondern zwingt nur die Herrschenden, den richtigen Kurs innezuhalten, und die zwar nicht formell aber tatsächlich herrschenden, die im großen und ganzen den Kurs des Staatsschiffs bestimmen, bleiben die Großunternehmer, natürlich die landwirtschaftlichen eingeschlossen, die Saint-Simon bei seiner Tatsachen¬ beobachtung übersehen hat. Abgesehen von diesem Fehler, hat er richtig er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/136>, abgerufen am 22.06.2024.