Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Saint - Simon

ein unnatürlicher, ein den wirklichen Machtverhültnissen nicht mehr entsprechender
Zustand, in dem die abgelebte Fcudcilität konserviert werde. Mit größerm
Rechte als heute Friedrich Naumann und seine sozialliberalen Freunde (denn
unsern Industriellen fehlt es wirklich nicht an politischem Einfluß, und die
Agrarier sind zu einem großen Teil selbst Industrielle, außerdem als Führer
in der Rationalisierung der Landwirtschaft produktiv) fordert er, daß mit den
Resten des Feudalismus aufgeräumt werde. Man lebe in einer verkehrten
Welt; Parasiten verzehrten das Arbeitsprodukt der Nation. Wäre es ein
Verlust, wenn die Nichtstuer ins verdiente Nichts versanken? "Nehmen wir
an, Frankreich verlöre plötzlich seine fünfzig größten Physiker, fünfzig Chemiker,
seine fünfzig ersten Physiologen, Mathematiker, Dichter, Maler, Bildhauer,
Musiker und Literaten. Dann weiterhin seine hervorragendsten Fabrikanten,
Kaufleute, Handwerker, Mechaniker, kurz seine in nützlichen Berufsarten tätigen
Männer. Es wäre ein unersetzlicher Verlust. Ein Land voll frisch pulsierenden
Leben würde plötzlich in ein starres, totes Gebilde umgewandelt, in einen
Körper ohne Seele. Angenommen dagegen, Frankreich behielte alle seine
wissenschaftlichen, künstlerischen und industriellen Größen und verlöre dafür an
einem Tage Ncmsisur, Nonssissusur 1v ano ä'^nAonlöms, Rousel^neur le
ano as Lsri^, ä'0ri6las und dergleichen Berühmtheiten mehr, dazu noch seine
Hofbeamten, seine Minister, seine Staatsräte, seine Marschälle, seine Kardinäle
und Erzbischöfe, dazu noch die zehntausend schmarotzenden Reichen, so würde
man ihnen zwar, da sie ja Menschen, meist gute Menschen sind, menschliches
Mitgefühl nicht versagen, aber vom Standpunkte des Nationalwohls aus be¬
trachtet, erlitte das Land keinen Verlust." Die Bourbonen sind hier ja richtig
eingeschätzt, ob auch die hohen Staats- und Kirchenbeamten, könnte nur ein
genauer Kenner des damaligen Frankreichs entscheiden.

Also die Industrie und die Wissenschaft sollen regieren und verwalten,
oder vielmehr die Industrie allein; die Männer der Wissenschaft sollen keine
Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ausüben, sondern nur das Licht dafür
liefern, tout xar I'inäustriö, tont paar sito. Die Konstitution mit ihrem
Parlament leistet an sich noch nichts Positives für das Volkswohl und für
die notwendig gewordne Reorganisierung der Gesellschaft, sie eröffnet nur
die Möglichkeit, sie bietet eine Form dar, in der die Neubildung ausgeführt
werden kann. Beim Hinblick auf die raschen Wandlungen der Verfassungen
in Frankreich -- er zählt deren zehn im Verlauf von fünfundzwanzig
Jahren --, die in sozialer Beziehung alles beim alten gelassen haben, geht
ihm die Erkenntnis auf, daß Staat und Gesellschaft zwei verschiedne Dinge
sind. Das eine kann sich unabhängig vom andern ändern; zwei Staaten
können in dem einen gleich, im andern grundverschieden sein. "Wir haben
in Europa zwei Völker, die beide von einem Monarchen absolut regiert werden,
die Dünen und die Türken. Ein Unterschied besteht nur insofern, als der
Despotismus in Dänemark fester begründet ist als in der Türkei, weil er auf


Saint - Simon

ein unnatürlicher, ein den wirklichen Machtverhültnissen nicht mehr entsprechender
Zustand, in dem die abgelebte Fcudcilität konserviert werde. Mit größerm
Rechte als heute Friedrich Naumann und seine sozialliberalen Freunde (denn
unsern Industriellen fehlt es wirklich nicht an politischem Einfluß, und die
Agrarier sind zu einem großen Teil selbst Industrielle, außerdem als Führer
in der Rationalisierung der Landwirtschaft produktiv) fordert er, daß mit den
Resten des Feudalismus aufgeräumt werde. Man lebe in einer verkehrten
Welt; Parasiten verzehrten das Arbeitsprodukt der Nation. Wäre es ein
Verlust, wenn die Nichtstuer ins verdiente Nichts versanken? „Nehmen wir
an, Frankreich verlöre plötzlich seine fünfzig größten Physiker, fünfzig Chemiker,
seine fünfzig ersten Physiologen, Mathematiker, Dichter, Maler, Bildhauer,
Musiker und Literaten. Dann weiterhin seine hervorragendsten Fabrikanten,
Kaufleute, Handwerker, Mechaniker, kurz seine in nützlichen Berufsarten tätigen
Männer. Es wäre ein unersetzlicher Verlust. Ein Land voll frisch pulsierenden
Leben würde plötzlich in ein starres, totes Gebilde umgewandelt, in einen
Körper ohne Seele. Angenommen dagegen, Frankreich behielte alle seine
wissenschaftlichen, künstlerischen und industriellen Größen und verlöre dafür an
einem Tage Ncmsisur, Nonssissusur 1v ano ä'^nAonlöms, Rousel^neur le
ano as Lsri^, ä'0ri6las und dergleichen Berühmtheiten mehr, dazu noch seine
Hofbeamten, seine Minister, seine Staatsräte, seine Marschälle, seine Kardinäle
und Erzbischöfe, dazu noch die zehntausend schmarotzenden Reichen, so würde
man ihnen zwar, da sie ja Menschen, meist gute Menschen sind, menschliches
Mitgefühl nicht versagen, aber vom Standpunkte des Nationalwohls aus be¬
trachtet, erlitte das Land keinen Verlust." Die Bourbonen sind hier ja richtig
eingeschätzt, ob auch die hohen Staats- und Kirchenbeamten, könnte nur ein
genauer Kenner des damaligen Frankreichs entscheiden.

Also die Industrie und die Wissenschaft sollen regieren und verwalten,
oder vielmehr die Industrie allein; die Männer der Wissenschaft sollen keine
Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ausüben, sondern nur das Licht dafür
liefern, tout xar I'inäustriö, tont paar sito. Die Konstitution mit ihrem
Parlament leistet an sich noch nichts Positives für das Volkswohl und für
die notwendig gewordne Reorganisierung der Gesellschaft, sie eröffnet nur
die Möglichkeit, sie bietet eine Form dar, in der die Neubildung ausgeführt
werden kann. Beim Hinblick auf die raschen Wandlungen der Verfassungen
in Frankreich — er zählt deren zehn im Verlauf von fünfundzwanzig
Jahren —, die in sozialer Beziehung alles beim alten gelassen haben, geht
ihm die Erkenntnis auf, daß Staat und Gesellschaft zwei verschiedne Dinge
sind. Das eine kann sich unabhängig vom andern ändern; zwei Staaten
können in dem einen gleich, im andern grundverschieden sein. „Wir haben
in Europa zwei Völker, die beide von einem Monarchen absolut regiert werden,
die Dünen und die Türken. Ein Unterschied besteht nur insofern, als der
Despotismus in Dänemark fester begründet ist als in der Türkei, weil er auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/310545"/>
          <fw type="header" place="top"> Saint - Simon</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_634" prev="#ID_633"> ein unnatürlicher, ein den wirklichen Machtverhültnissen nicht mehr entsprechender<lb/>
Zustand, in dem die abgelebte Fcudcilität konserviert werde. Mit größerm<lb/>
Rechte als heute Friedrich Naumann und seine sozialliberalen Freunde (denn<lb/>
unsern Industriellen fehlt es wirklich nicht an politischem Einfluß, und die<lb/>
Agrarier sind zu einem großen Teil selbst Industrielle, außerdem als Führer<lb/>
in der Rationalisierung der Landwirtschaft produktiv) fordert er, daß mit den<lb/>
Resten des Feudalismus aufgeräumt werde. Man lebe in einer verkehrten<lb/>
Welt; Parasiten verzehrten das Arbeitsprodukt der Nation. Wäre es ein<lb/>
Verlust, wenn die Nichtstuer ins verdiente Nichts versanken? &#x201E;Nehmen wir<lb/>
an, Frankreich verlöre plötzlich seine fünfzig größten Physiker, fünfzig Chemiker,<lb/>
seine fünfzig ersten Physiologen, Mathematiker, Dichter, Maler, Bildhauer,<lb/>
Musiker und Literaten. Dann weiterhin seine hervorragendsten Fabrikanten,<lb/>
Kaufleute, Handwerker, Mechaniker, kurz seine in nützlichen Berufsarten tätigen<lb/>
Männer. Es wäre ein unersetzlicher Verlust. Ein Land voll frisch pulsierenden<lb/>
Leben würde plötzlich in ein starres, totes Gebilde umgewandelt, in einen<lb/>
Körper ohne Seele. Angenommen dagegen, Frankreich behielte alle seine<lb/>
wissenschaftlichen, künstlerischen und industriellen Größen und verlöre dafür an<lb/>
einem Tage Ncmsisur, Nonssissusur 1v ano ä'^nAonlöms, Rousel^neur le<lb/>
ano as Lsri^, ä'0ri6las und dergleichen Berühmtheiten mehr, dazu noch seine<lb/>
Hofbeamten, seine Minister, seine Staatsräte, seine Marschälle, seine Kardinäle<lb/>
und Erzbischöfe, dazu noch die zehntausend schmarotzenden Reichen, so würde<lb/>
man ihnen zwar, da sie ja Menschen, meist gute Menschen sind, menschliches<lb/>
Mitgefühl nicht versagen, aber vom Standpunkte des Nationalwohls aus be¬<lb/>
trachtet, erlitte das Land keinen Verlust." Die Bourbonen sind hier ja richtig<lb/>
eingeschätzt, ob auch die hohen Staats- und Kirchenbeamten, könnte nur ein<lb/>
genauer Kenner des damaligen Frankreichs entscheiden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Also die Industrie und die Wissenschaft sollen regieren und verwalten,<lb/>
oder vielmehr die Industrie allein; die Männer der Wissenschaft sollen keine<lb/>
Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ausüben, sondern nur das Licht dafür<lb/>
liefern, tout xar I'inäustriö, tont paar sito. Die Konstitution mit ihrem<lb/>
Parlament leistet an sich noch nichts Positives für das Volkswohl und für<lb/>
die notwendig gewordne Reorganisierung der Gesellschaft, sie eröffnet nur<lb/>
die Möglichkeit, sie bietet eine Form dar, in der die Neubildung ausgeführt<lb/>
werden kann. Beim Hinblick auf die raschen Wandlungen der Verfassungen<lb/>
in Frankreich &#x2014; er zählt deren zehn im Verlauf von fünfundzwanzig<lb/>
Jahren &#x2014;, die in sozialer Beziehung alles beim alten gelassen haben, geht<lb/>
ihm die Erkenntnis auf, daß Staat und Gesellschaft zwei verschiedne Dinge<lb/>
sind. Das eine kann sich unabhängig vom andern ändern; zwei Staaten<lb/>
können in dem einen gleich, im andern grundverschieden sein. &#x201E;Wir haben<lb/>
in Europa zwei Völker, die beide von einem Monarchen absolut regiert werden,<lb/>
die Dünen und die Türken. Ein Unterschied besteht nur insofern, als der<lb/>
Despotismus in Dänemark fester begründet ist als in der Türkei, weil er auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] Saint - Simon ein unnatürlicher, ein den wirklichen Machtverhültnissen nicht mehr entsprechender Zustand, in dem die abgelebte Fcudcilität konserviert werde. Mit größerm Rechte als heute Friedrich Naumann und seine sozialliberalen Freunde (denn unsern Industriellen fehlt es wirklich nicht an politischem Einfluß, und die Agrarier sind zu einem großen Teil selbst Industrielle, außerdem als Führer in der Rationalisierung der Landwirtschaft produktiv) fordert er, daß mit den Resten des Feudalismus aufgeräumt werde. Man lebe in einer verkehrten Welt; Parasiten verzehrten das Arbeitsprodukt der Nation. Wäre es ein Verlust, wenn die Nichtstuer ins verdiente Nichts versanken? „Nehmen wir an, Frankreich verlöre plötzlich seine fünfzig größten Physiker, fünfzig Chemiker, seine fünfzig ersten Physiologen, Mathematiker, Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker und Literaten. Dann weiterhin seine hervorragendsten Fabrikanten, Kaufleute, Handwerker, Mechaniker, kurz seine in nützlichen Berufsarten tätigen Männer. Es wäre ein unersetzlicher Verlust. Ein Land voll frisch pulsierenden Leben würde plötzlich in ein starres, totes Gebilde umgewandelt, in einen Körper ohne Seele. Angenommen dagegen, Frankreich behielte alle seine wissenschaftlichen, künstlerischen und industriellen Größen und verlöre dafür an einem Tage Ncmsisur, Nonssissusur 1v ano ä'^nAonlöms, Rousel^neur le ano as Lsri^, ä'0ri6las und dergleichen Berühmtheiten mehr, dazu noch seine Hofbeamten, seine Minister, seine Staatsräte, seine Marschälle, seine Kardinäle und Erzbischöfe, dazu noch die zehntausend schmarotzenden Reichen, so würde man ihnen zwar, da sie ja Menschen, meist gute Menschen sind, menschliches Mitgefühl nicht versagen, aber vom Standpunkte des Nationalwohls aus be¬ trachtet, erlitte das Land keinen Verlust." Die Bourbonen sind hier ja richtig eingeschätzt, ob auch die hohen Staats- und Kirchenbeamten, könnte nur ein genauer Kenner des damaligen Frankreichs entscheiden. Also die Industrie und die Wissenschaft sollen regieren und verwalten, oder vielmehr die Industrie allein; die Männer der Wissenschaft sollen keine Regierungs- und Verwaltungstätigkeit ausüben, sondern nur das Licht dafür liefern, tout xar I'inäustriö, tont paar sito. Die Konstitution mit ihrem Parlament leistet an sich noch nichts Positives für das Volkswohl und für die notwendig gewordne Reorganisierung der Gesellschaft, sie eröffnet nur die Möglichkeit, sie bietet eine Form dar, in der die Neubildung ausgeführt werden kann. Beim Hinblick auf die raschen Wandlungen der Verfassungen in Frankreich — er zählt deren zehn im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren —, die in sozialer Beziehung alles beim alten gelassen haben, geht ihm die Erkenntnis auf, daß Staat und Gesellschaft zwei verschiedne Dinge sind. Das eine kann sich unabhängig vom andern ändern; zwei Staaten können in dem einen gleich, im andern grundverschieden sein. „Wir haben in Europa zwei Völker, die beide von einem Monarchen absolut regiert werden, die Dünen und die Türken. Ein Unterschied besteht nur insofern, als der Despotismus in Dänemark fester begründet ist als in der Türkei, weil er auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/134
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/134>, abgerufen am 22.07.2024.