Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.Nationale politische Erziehung auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; wir sehen seine Gerade der Deutsche könnte viel lernen aus der griechischen Geschichte, Nationale politische Erziehung auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; wir sehen seine Gerade der Deutsche könnte viel lernen aus der griechischen Geschichte, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0087" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/303503"/> <fw type="header" place="top"> Nationale politische Erziehung</fw><lb/> <p xml:id="ID_297" prev="#ID_296"> auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; wir sehen seine<lb/> verschieden Staaten hin und her pendeln zwischen hyperphantastischen Voll¬<lb/> kommenheitssystemen und der blödsichtigsten Befangenheit in den Interessen<lb/> des gegenwärtigen Augenblicks," Houston Stewart Chamberlain fügt dem<lb/> hinzu: „Ein einziger Zug genügt, um die gesamte staatliche Wirtschaft der<lb/> Griechen" zu charakterisieren, daß nämlich Sokmtes sich veranlaßt sah, des<lb/> Weiten und des Breiten nachzuweisen, um ein Staatsmann zu sein, müsse<lb/> man auch etwas von Staatsgeschäften verstehen. Weil er diese einfache<lb/> Wahrheit predigte, wurde er zum Tode verurteilt." Und nun noch einen<lb/> klassischen Zeugen, den auch die klassischen Philologen vielleicht gelten lassen<lb/> werden. Schon Anacharsis hat geklagt: „Bei den Beratungen der Griechen<lb/> entscheiden die Narren." Und Goethe faßte sein Urteil in die Worte zu¬<lb/> sammen: „Die Griechen waren Freunde der Freiheit, ja! aber jeder nur seiner<lb/> eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos."</p><lb/> <p xml:id="ID_298" next="#ID_299"> Gerade der Deutsche könnte viel lernen aus der griechischen Geschichte,<lb/> daß es oft geschieht, steht aber wohl nicht sicher fest. Die Römer, denen es<lb/> versagt blieb, in Kunst und Wissenschaft selbstschöpferisch tütig zu sein, haben<lb/> doch zwei unvergleichliche Schöpfungen hervorgebracht, das Recht und den<lb/> Staat. Durch Unterordnung des einzelnen unter das allgemeine Wohl; durch<lb/> die Erkenntnis, daß der Erfolg davon abhängt, ob man weiß, was man will;<lb/> durch den Willen, das klar Erkannte unter allen Umständen durchzusetzen, ist<lb/> das römische Volk dahin gelangt, sein bewunderungswürdiges Staatsgebüude<lb/> zu errichten und die Welt zu beherrschen. An die von den Römern entwickelte<lb/> Staatsordnung knüpft jede spätere staatliche Ordnung in Europa an, auf dem<lb/> Gymnasium aber wird viel Zeit darauf verwandt, Cicero zu lesen und aus¬<lb/> zulegen, von dem Mommsen sagt: „Cicero war eine Journalistennatur im<lb/> schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten überreich, an Gedanken über alle<lb/> Begriffe arm." In Rom kannte jeder Knabe das Gesetz der zwölf Tafeln<lb/> auswendig, war jeder Bürger unterrichtet über die Organisation des Staates.<lb/> Wir entlassen die Knaben ins Leben, ohne ihnen irgendwelche Kenntnisse der<lb/> Staatseinrichtungen mitzugeben, nur mit dem Wunsche, daß im fünfund¬<lb/> zwanzigsten Lebensjahre die Erleuchtung über sie kommen möge, und über die<lb/> Grundlagen unsrer Staatsordnung ist dann von vielen Männern oft nicht<lb/> einer in der Lage, Auskunft zu geben. Aus der römischen Geschichte und<lb/> gerade aus ihr könnte der Deutsche viel lernen, aber man kann leider nicht<lb/> behaupten, daß es geschieht. Merkwürdig ist es, daß unsre höchsten Bildungs¬<lb/> anstalten, auf die wir mit Recht stolz sind, unsre Universitäten, zur Frage der<lb/> nationalen politischen Erziehung noch nicht Stellung genommen haben; hätten<lb/> sie es getan, hätten sie ihre vornehme Pflicht, Erzieher der besten Söhne des<lb/> Volkes zu sein, auch auf diesem Gebiet erfüllt, Hütten sie sich bemüht, die<lb/> Studierenden nicht nur zu bilden, sondern sie auch zu politisch denkfähigen<lb/> Staatsbürgern zu erziehen, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß unsre obern</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0087]
Nationale politische Erziehung
auf diesem Gebiete alle Konsequenz, alle Selbstbeherrschung; wir sehen seine
verschieden Staaten hin und her pendeln zwischen hyperphantastischen Voll¬
kommenheitssystemen und der blödsichtigsten Befangenheit in den Interessen
des gegenwärtigen Augenblicks," Houston Stewart Chamberlain fügt dem
hinzu: „Ein einziger Zug genügt, um die gesamte staatliche Wirtschaft der
Griechen" zu charakterisieren, daß nämlich Sokmtes sich veranlaßt sah, des
Weiten und des Breiten nachzuweisen, um ein Staatsmann zu sein, müsse
man auch etwas von Staatsgeschäften verstehen. Weil er diese einfache
Wahrheit predigte, wurde er zum Tode verurteilt." Und nun noch einen
klassischen Zeugen, den auch die klassischen Philologen vielleicht gelten lassen
werden. Schon Anacharsis hat geklagt: „Bei den Beratungen der Griechen
entscheiden die Narren." Und Goethe faßte sein Urteil in die Worte zu¬
sammen: „Die Griechen waren Freunde der Freiheit, ja! aber jeder nur seiner
eigenen; daher stak in jedem Griechen ein Tyrannos."
Gerade der Deutsche könnte viel lernen aus der griechischen Geschichte,
daß es oft geschieht, steht aber wohl nicht sicher fest. Die Römer, denen es
versagt blieb, in Kunst und Wissenschaft selbstschöpferisch tütig zu sein, haben
doch zwei unvergleichliche Schöpfungen hervorgebracht, das Recht und den
Staat. Durch Unterordnung des einzelnen unter das allgemeine Wohl; durch
die Erkenntnis, daß der Erfolg davon abhängt, ob man weiß, was man will;
durch den Willen, das klar Erkannte unter allen Umständen durchzusetzen, ist
das römische Volk dahin gelangt, sein bewunderungswürdiges Staatsgebüude
zu errichten und die Welt zu beherrschen. An die von den Römern entwickelte
Staatsordnung knüpft jede spätere staatliche Ordnung in Europa an, auf dem
Gymnasium aber wird viel Zeit darauf verwandt, Cicero zu lesen und aus¬
zulegen, von dem Mommsen sagt: „Cicero war eine Journalistennatur im
schlechtesten Sinne des Wortes, an Worten überreich, an Gedanken über alle
Begriffe arm." In Rom kannte jeder Knabe das Gesetz der zwölf Tafeln
auswendig, war jeder Bürger unterrichtet über die Organisation des Staates.
Wir entlassen die Knaben ins Leben, ohne ihnen irgendwelche Kenntnisse der
Staatseinrichtungen mitzugeben, nur mit dem Wunsche, daß im fünfund¬
zwanzigsten Lebensjahre die Erleuchtung über sie kommen möge, und über die
Grundlagen unsrer Staatsordnung ist dann von vielen Männern oft nicht
einer in der Lage, Auskunft zu geben. Aus der römischen Geschichte und
gerade aus ihr könnte der Deutsche viel lernen, aber man kann leider nicht
behaupten, daß es geschieht. Merkwürdig ist es, daß unsre höchsten Bildungs¬
anstalten, auf die wir mit Recht stolz sind, unsre Universitäten, zur Frage der
nationalen politischen Erziehung noch nicht Stellung genommen haben; hätten
sie es getan, hätten sie ihre vornehme Pflicht, Erzieher der besten Söhne des
Volkes zu sein, auch auf diesem Gebiet erfüllt, Hütten sie sich bemüht, die
Studierenden nicht nur zu bilden, sondern sie auch zu politisch denkfähigen
Staatsbürgern zu erziehen, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß unsre obern
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